Liedkunst der Gegenwart

Max Czollek und Daniel Gerzenberg sind in „Lieder“ neuen Klangfarben der Poesie auf der Spur

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer der Lyrik zugetan und zugewandt ist, mag zunächst skeptisch erwägen, ob die sich wechselseitig bereichernden „Geschwister“ Lied und Lyrik, wie Max Czollek und Daniel Gerzenberg vermuten, sich wirklich voneinander entfremdet haben. Der „Faden“, der sie verknüpfte, sei „im letzten Jahrhundert ausgefranst“. Die beiden Herausgeber suchen im ersten Heft des Jahres 2022, erschienen in der renommierten Zeitschrift „Akzente“, neue Anknüpfungspunkte und Verbindungslinien. Sie fragen nach der Gegenwart und Zukunft der Liedlyrik und bieten sogleich eine gewagte These an:

Der Faden, der Lied und Lyrik zusammenhält, ist niemals abgerissen. Er hat sich über die Jahre nur vom Klavier zum Synthesizer, vom Papier zum Mic verschoben. Um das wahrnehmen zu können, müsste man den Blick weiten, weg von einem konventionellen Verständnis der Formen, des Lieds in Abendgarderobe – und hin zu einem Bewusstsein für die Spinning Jennys der (Post-)Moderne. Vielleicht müssen wir anders sehen und hören lernen, um die Aktualität des Lieds auch in der Gegenwart wahrzunehmen.

Hierzu bietet dieser schmale, staunenswerte und in vielerlei Hinsicht mit schöpferischer Fantasie grenzüberschreitende Band zahlreiche Anregungen, Momente zum Innehalten, aber auch vordergründig Enigmatisches, das auch nach längerer Betrachtung nicht uninteressant, doch rätselhaft bleibt, denn als Lesende sehen wir die Noten und lesen die Verse – und doch entsteht der Klang nur für Musikerinnen und Musiker, die sich die Töne möglicherweise verschmitzt oder gedankenvoll im Kopf vorstellen können.

Thematisch bewegt sich der Band vor dem Horizont der radikalen Verletzbarkeit menschlicher Existenz, verbindet postmigrantische Lieder und auch Essays. Somit entsteht ein vielschichtiges, reizvolles und facettenreiches Panorama, das auch dem „Brückenbau“ zwischen den Gattungen dienen soll.

Das Gedicht „Einsamkeit“, von verschiedenen Lyrikerinnen und Lyrikern verfasst, erzählt vom Scheitern der Wörter. Denn lässt sich postmigrantisch mit einem solchen deutschen Begriff ausdrücken, worüber das lyrische Ich nachsinnt?

das wort »einsamkeit« kann nicht wirklich
das ausdrücken, was ich fühle.
ich fühle so viel mehr als nur das einsam
sein. […]

Türkische Begriffe werden nun genannt, die Gedanken in „klänge und melodien“ verwandeln – 

die türkische sprache ist für mich das nahbarste instrument, wenn / ich versuchen möchte meine emotionen in worte zu fassen. / mit dieser sprache verbinde ich so viel liebe und wärme, / dass es sich vertraut anfühlt meine emotionen in ihr / strömen zu lassen. die strömung, die in lieder fließt.

Hier findet der Übergang statt, in dem sich sozusagen die Herzmitte der Wörter ihren Weg bahnt, nicht bloß sorgfältig artikuliert ist, sondern die triste, auch vielfarbige Wirklichkeit Gestalt gewinnt – als poetische Kunst, musikalisch und lebensvoll dargeboten. Wenig später dann, in dem Gedicht „Unbehagen“ lesen wir lakonische Verse, aus denen ein herber, bei längerem Bedenken sehr vertrauter Realismus spricht:

ich werde immer am fenster stehen und dabei acht worte denken:
einige erfahrungen waren für rein gar nichts gut

Diese Erfahrung teilt das lyrische Ich den Lesenden mit, die verständig zustimmen und über die Noten der folgenden Liedzeile hinaus auch an eigene Erfahrungen denken, gewiss an nicht allzu wenige. Manches Mal braucht es dann einfach Musik, und einige beginnen zu tanzen, unerwartet, federleicht und schwebend. Jan Kuhlbrodt dichtet:

Aber ich hatte in meiner Jugend ein Sternenfernrohr und einen Traum:
Alles Irdische
stand Kopf
wie der Plattenbau gegenüber
 
Musik dringt durch den Beton.

Musik führt hinaus, hinauf, erklingt – und öffnet Horizonte, sie führt zum Weltraum hin, sinnhaft und sinnlich, träumerisch und doch so erdnah, erfüllt von dem Wunsch, dass alles, manchmal auch diese spröde, oft so öde Welt, doch einen Kopfstand machen könnte – und wenn nicht die Welt, so doch wir selbst. Swantje Lichtenstein bemerkt, dass Schreiben „ansteckend“ sei:

Eine vielstimmige Form des Schreibens wird immer wichtig bleiben, solange man nicht unter sich bleiben möchte, sondern verschiedenste Gruppen inkludieren. Schreiben möchte Verbindungen schaffen und nicht ein Selfie sein, das sich selbst reflektiert.

Schreiben ist also eine Beziehungssache, das Musizieren auch:

Freue mich daran, dass ich den Sprachen, den wörtlichen Angeboten, den Einheiten, den Anmutungen und dem Zugezwinker selbst etwas abgewinnen kann, heute. Einen Ton, einen Hort, einen Ort, einen Reim, einen Eimer voller Wissen.

Schreiben schenkt und macht Freude. Das Zeitalter, in dem es dem „weißen, cis-männlichen Alphatier“ vorbehalten war, könnte oder sollte vorbei sein. Oder nicht? Wir wagen einfach mal zu hoffen, dass es so ist und auch so bleiben könnte.

Hector Docx, Komponist und Pianist, spricht mit Daniel Gerzenberg über „fragmentierte Identitäten“. Die Musik, so Gerzenberg, triggere das „emotionale Erleben der Textebene“. Docx stimmt zu, die Musik könne etwas auslösen, was im Text schon angelegt sei, denn „die Musiksprache vermag es, einen Fokus auf eine spezifische Emotion zu legen und sie zu vergrößern“. Vielleicht macht die Musik die Emotion auch erst so bewusst und gegenwärtig. Der Text brauche Musik, damit ein Raum entstünde, in dem zwei Bewegungen gleichzeitig möglich seien, nach außen und nach innen. Gerzenberg denkt über „fragmentierte Identitäten“ nach, eine spezifische Thematik, die viele Menschen in der Postmoderne beschäftigt – und die aus konventioneller, geschlossener Lyrik ausbricht. Gerzenberg sagt, sein Text habe „viele Leerstellen“ – und Docx erwidert: „Für mich war klar: Der Text ist fragmentiert, weil es sowohl um verschiedene Phasen deines Lebens als auch um die Fragmentierung deiner Persönlichkeit geht. Es ist keine lineare Erzählung. Genau dafür wollte ich eine Musik finden und ich wusste sofort, dass ich das Prinzip der Fragmentierung weiterdenken muss.“ Auch wenn uns die Anschauung hierfür fehlt, denn wir hören als Lesende nicht, mit welchen Klängen der Komponist arbeitet, aber die Vertonung scheint die Brüche des Lebens zeigen zu können, als Fragmente, die auch nicht musikalisch und damit künstlich zusammengeführt werden, aber in der Kunst musikalisch ein Obdach finden. Sprachlich nahegebracht bleibt dies sehr abstrakt: „Diese Notationsweise beschreibe eine rhythmisch-präzise, tonlose Ausführung des jeweiligen Konsonanten. Die Laute basieren auf Fragmenten eines Wortes.“ Das ist klug erdacht und kunstvoll dargelegt, nichtsdestoweniger: Musik möchten wir hören – und so wäre es natürlich schön gewesen, wenn diesem anregenden Heft über Lied und Lyrik eine CD beigelegt worden wäre. So lesen wir auch „Spielanweisungen“, wir können sie uns vorstellen, gewiss, aber wir hören sie einfach nicht – und das ist schade. Gelobt sei die neue Ausgabe der Literaturzeitschrift gleichwohl, denn dieses Heft spricht lyrisch-musikalisch in die Gegenwart hinein und zeigt, dass die „Geschwister“ Lied und Lyrik sich noch immer bereichern können, anders gewiss als zu Zeiten von Franz Schubert und Wilhelm Müller, aber nicht weniger beachtlich und beachtenswert. Die in den anregenden Beiträgen dargelegten Überlegungen sowie die Gedichte und Musikbeispiele verdienen viel Aufmerksamkeit.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Max Czollek / Daniel Arkadij Gerzenberg (Hg.): Lieder. Akzente 1 / 22.
Hanser Berlin, Berlin 2022.
72 Seiten, 10 EUR.
ISBN-13: 9783446274655

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