Endlich sich selbst akzeptieren

Kodo Nishimura erzählt in der Autobiographie „Der Mönch in High Heels. Du darfst sein, wer du bist“ von seiner Emanzipation jenseits des Inselhorizonts

Von Lisette GebhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisette Gebhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kodo Nishimuras (jap.: Nishimura Kôdô) Autobiographie Der Mönch in High Heels. Du darfst sein, wer du bist, die zugleich ein Ratgeber sein will, schildert eine schöne Kindheit und eine schwierige Adoleszenz in Japan. Problematisch wurde es für den 1989 geborenen Sohn eines Theologen und Tempelpriesters der buddhistischen Schule des Reinen Landes, als er sich in seinem Umfeld zunehmend fremd fühlt, bedingt durch die Bewusstwerdung der ihm eigenen homosexuellen Neigung. Vor allem die pubertierenden Klassenkameraden bereiten ihm Unbehagen. Um der Enge Japans, seinen Selbstzweifeln und dem von ihm als unüberwindliche Hürde empfundenen und mit großen Ängsten besetzten Coming-out vor den Eltern zu entgehen, begibt sich Nishimura nach der Oberschule in die USA. Dort beginnen seine Emanzipation und die künstlerische Karriere als Make-up-Artist.

Erfahrungen jenseits von Japan

Schon immer war die amerikanische Popkultur eine Inspiration für ihn gewesen, er schwärmte für Disney-Prinzessinnen, die Stars Mariah Carey, Destiny’s Child, Michael Jackson sowie für Filme wie Drei Engel für Charlie und Sister Act. Mit 18 besucht Nishimura zum vertiefenden Sprachstudium zunächst das Dean College in Boston. Ein einigermaßen flüssiges Englisch hatte er sich zuvor bereits in schwulen Chatrooms angeeignet. Von Boston wechselt er nach New York und schließt dort die Parsons School of Design in New York ab. Als Make-up-Artist arbeitet er bis 2019, d.h. bis zu seinem dreißigsten Lebensjahr auf hochkarätigen Events wie der New York Fashion Week. Zwischenzeitlich hat er im Alter von 24 Jahren vier Semester lang erfolgreich die harte Mönchsausbildung in Japan absolviert.

Während der Zeit an der New Yorker Designschule lernt Nishimura nicht zuletzt, sich zu akzeptieren: „Hier zeigten Studierende und Lehrende stolz, wer sie waren, und drückten sich frei aus. Stück für Stück räumten die alten Vorstellungen von ‚Normalität‘, die mich gequält hatten, das Feld für etwas viel Befreienderes.“ Durch diese Erfahrungen, das Erlebnis der Pride Parade in New York und weitere Begegnungen mit Menschen aus anderen Ländern, z.B. Spanien, erweitert sich sein Horizont, so dass er endlich auch seinen Eltern die Wahrheit sagen kann. Die Furcht, sie mit dem Bekenntnis zu enttäuschen, stellt sich als unbegründet heraus. Eher seinen Minderwertigkeitskomplexen geschuldet als der Realität entsprechend war ebenso die Erwartung, der buddhistischen Lehre und der Tempelgemeinde nicht zu genügen. Nachdem der junge Mönch lernt, seine homosexuelle Identität nicht als sozialen Makel zu sehen, sondern sie selbstbewusst als Quelle einer besonderen, die Geschlechter verbindenden Sensibilität zu bewerten, reagiert auch die Umgebung entgegen seinen ursprünglichen Erwartungen positiv. Nach einem Gespräch mit einem aufgeklärten, geistig beweglichen buddhistischen Priester vertritt Nishimura ebenfalls die Überzeugung, dass alle Menschen, ungeachtet ihrer individuellen Unterschiede in Bezug auf Rasse und Geschlecht, „gerettet“ bzw. erlöst werden können. Er gibt seine früheren Vorbehalte gegen eine Nachfolge des Vaters auf und bekennt sich zu dem ihm vorbestimmten Weg als Mönch.

Agenda LGBTQ / LGBTQIA+

Nishimura, der das Leben zwischen Tempelpflichten und der Welt der Mode inzwischen sehr schätzt, betont die positive Wirkung von Mode und Make-up auf das Selbstbewusstsein von Menschen. Infolge seiner Aktivitäten als Make-up-Künstler und Model, die unter dem Motto „Leuchte in deinen dir eigenen Farben“ stehen, setzt er sich für die Akzeptanz der LGBTQ-Gemeinde in Japan ein. Zu Prominenz gelangt der Mönch mit dem ungewöhnlichen Hintergrund durch Interviews und Reportagen. Er spricht im Jahr 2019 vor der UNO (United Nations Population Fund), an der Yale Universität, in Stanford sowie in der bekannten Netflix Show Queer Eye. Ebenso tritt er bei den Sendern CNN und BBC auf. Die Japan Times berichtet über ihn Mitte Oktober 2020 im Artikel „Buddhist monk and makeup artist seeks LGBTQ equality in Japan“. Protagonist ist er ebenfalls im ARD-Weltbilder-Beitrag „Japan: Homosexueller Mönch und Make-Up-Artist“. Nishimuras Bekanntheitsgrad stieg nach Queer Eye noch durch den „Next Generation Leaders“-Titel des Time Magazine 2021. Die englische Version seines Buchs Seisei dodo (Frei und selbstbewusst; Sunmark Publishing) erschien unter dem Titel This Monk Wears Heels im Februar 2022 bei Watkins Publishing. Im März 2022 wurde er in der NHK World-Japan Dokumentation A Monk Who Wears Heels portraitiert.

Als Advokat der LGBTQ-Gemeinde vertritt Nishimura keine radikale Position, sondern plädiert für ein besseres Verständnis der LGBTQ-Anliegen in der japanischen Gesellschaft, die dazu neigt, nicht den Normen Entsprechendes auszugrenzen. Er wünscht sich zum einen größere Toleranz in seinem Heimatland, zum anderen geht es ihm darum, Ausgegrenzte von ihrer Scham zu befreien und ihnen zu mehr Stärke und Selbstachtung zu verhelfen. Der Mönch zeigt sich im Hinblick auf die LGBTQ-Agenda gemäß der buddhistischen Auffassung nicht fundamentalistisch oder argumentiert mit Kampfbegriffen. Dies wird schon in Bezug auf die Erörterung seiner eigenen geschlechtlichen Identität klar: Die Seele habe kein Geschlecht. Auf die Frage, ob er sich als schwul, transgender oder queer identifiziere, sei ihm eine Antwort schwergefallen. Einen weiblichen Körper durch eine geschlechtsangleichende Operation habe er nie gewollt. Im Falle der Formel LGBTQIA+ wäre er ebenso zurückhaltend, da er eigentlich weder hinterfrage noch erkunde, so seien auch diese Kategorien für ihn unzutreffend. Er fügt hinzu, dass er bezweifle die einzige Person zu sein, der es so gehe. Nishimura betrachtet sich als „genderbegabt“ (gender gifted). Sein Fazit lautet: „Jeder Mensch ist einzigartig, und jeder und jede hat seine und ihre Vorlieben. Daher nehme ich mir für jede Begegnung vor, dass ich niemanden als männlich, weiblich und noch nicht einmal als LGBTQIA+ einordne, sondern alle einfach nur als menschliche Wesen“.

Das Private, das Buddhistische, das Publizistische

Der Mönch in High Heels. Du darfst sein, wer du bist erschien in der „Knaur Balance“-Reihe. Diese stellt ein Label mit „Themen des modernen Lebens und bewusster Lebensführung“ dar, das Lektüre für „stressfreie Wellness, gesunde Küche, Yoga, Meditation, Achtsamkeit, Life-Coaching, kreative Persönlichkeitsentfaltung und angewandte Psychologie“ bieten möchte. Versprochen werden eine positive Bereicherung des Alltags und „Autor*innen“, die „neue Trends“ präsentieren sowie „spielerisch Wege in ein besseres Leben“ zeigten. Man möge mit diesem „bunten und spannenden Programm“ Neues ausprobieren, um – scheinbar unter Auslassung von Wissenserwerb und Theorie – „einfach mal loszulegen“ (Knaur Balance). Der Verlag wirbt im Fall Nishimura mit Slogans wie „Der LGBTQIA-Mönch ermutigt zu Selbstliebe“. In der englischen Version lautet die Werbeprosa ähnlich: „Now this celebrity make-up artist and ordained Buddhist monk shares his unique and practical guide to positivity and self-acceptance.“ Das zwischen Autobiographie, Anleitung zum Glücklichwerden und buddhistischer Unterweisung angelegte Buch will zunächst Lebenshilfe leisten und kann daher dem in Japan wie im Westen seit Jahren wachsenden Markt für Ratgeberliteratur (jap. ikikata no hon) zugerechnet werden. Diese Sparte des Sachbuchs, die meist dazu ermuntert, die eigene Individualität gegen eine andersdenkende Mehrheit zu behaupten, wendet sich paradoxerweise an ein Massenpublikum.

Nishimuras Publikation folgt dem genannten Muster und fokussiert sich auf den Faktor der Selbstermächtigung des Individuums innerhalb einer rigiden Gesellschaft. Japanspezifische Beschränkungen seien am besten durch Kontakte mit Menschen außerhalb der Insel sowie durch längere Auslandsaufenthalte zu überwinden. Man solle, so der Verfasser, immer bereit sein, seinen Horizont zu erweitern und die Setzungen des „Normalen“ vor dem Hintergrund weltweiter kultureller Vielfalt zu hinterfragen. Die Argumentationen um sexuelle Orientierung und Geschlechterzugehörigkeit sind bei Nishimura einerseits nie dogmatisch angelegt, andererseits bleibt die Frage nach der einschlägigen Gesetzgebung und den soziopolitischen Faktoren der Diskriminierung Homosexueller im gegenwärtigen Japan leider weitgehend ausgeklammert. Obwohl man eingedenk des Einwurfs „Ich möchte niemanden zum Buddhismus bekehren“ nicht behaupten kann, der Autor betreibe aufdringlich die Sache seiner Religion, d.h. werbe in letzter Konsequenz für die Toleranz, die der Buddhismus biete, muss man doch einwenden, dass Probleme einer Lebensgestaltung jenseits des offiziell vertretenen japanischen Familienideals, dem staatliche Propaganda zugrunde liegt, kaum Erwähnung finden.

Mit der Betonung des Autobiographischen und der Geste des Anbietens von Hilfe ist die vorliegende Publikation als ohne Anstrengung konsumierbares Produkt für den globalen Lebensberatungsmarkt zusammengestellt worden – ein Umstand, der auf einigen Ebenen Unstimmigkeiten mit sich bringt. Während der Autor durchaus erkennen lässt, dass die Frage seiner Geschlechtsidentität existentiell ist, muss sich dies mit der Ankündigung widersprechen, man könne anhand der Balance-Reihe eine spielerische Suche nach dem besseren Leben nachvollziehen. Freilich umgeht der Verfasser brisante Exkurse und vermeidet es, ein detailliertes Augenmerk auf zeitgenössische Rahmenbedingungen für die Akzeptanz eines fluiden Geschlechterverständnisses zu legen. Akteure wie die konservative Vereinigung der japanischen Schreine, die Association of Shinto Shrines (Jinja Honchô), und die 1997 errichtete Nippon Kaigi („Japan Konferenz“), eine überparteiliche, nationalistisch geprägte Gruppierung mit gewissem Einfluss auf die japanische Politik, tragen zur Pflege „traditioneller Werte“ bei; darüber hinaus verfocht auch die japanische Regierung einen rückwärtsorientierten Kurs, vor allem unter der Regierung des kürzlich bei einem Attentat getöteten Shinzô Abe (1954-2022), Japans Premier von 2012 bis 2020. Revisionistische Bestrebungen hatte es aber schon in den Jahren 2002 bis 2006 gegeben, in denen die seit 1999 mit dem Basic Law for a Gender-Equal Society (Danjo Kyôdô Sankaku Shakai Kihon-hô) betriebene Etablierung von gender equality gegenläufige Strömungen hervorrief. Während Abes Amtszeit waren auf Geschlechtergleichberechtigung abzielende Slogans (z.B. „gender free” / jendâ furȋ) als gefährliche Kampfbegriffe einer kommunistischen Verschwörung, mit denen man das komplette Ausradieren biologischer Unterschiede zwischen den Geschlechtern beabsichtige, diskreditiert worden. Die Agenda des Konservativen wurde zum Beispiel mit Printmedien wie der der Unification Church / Tôitsu Kyôkai, sprich der neureligiösen Gemeinschaft Moon nahestehenden Zeitschrift Sekai Nippô nebst dazugehörigen Internetportalen verbreitet. Jene Medien vertraten eine negative Einstellung zu vorehelichem Sex, Abtreibung und Homosexualität. In der öffentlichen Wahrnehmung konnte man so weitere innovative Ambitionen, etwa von feministischer Seite, untergraben.

Nishimuras Mission, von konservativen Normen niedergedrückte Individuen befreien zu wollen, ist lobenswert. Ob man Betroffenen mit recht banalen Allgemeinplätzen wie „It‘s time to be you“ wirklich helfen kann, mag bezweifelt werden. Die Darlegungen des Mönchs sind charakterisiert durch den Verzicht auf eine Demonstration von Bildung sowie – trotz aller behaupteten Welterfahrung – eine erstaunliche Naivität. Gemäß dem Motto der japanischen Originalausgabe Seisei dodo bestimmt eine forciert nach außen getragene optimistische Haltung den Tenor des Beitrags. Zu vermissen sind jedenfalls tiefergehende Einlassungen, eine grundsätzlichere Kritik am System Japan und ein Miteinbeziehen prekärer Erfahrungen, auch wenn Nishimura zumindest seine privilegierte Position reflektiert. Dass er sich als religiöser Spezialist, Model und Medienpersönlichkeit nicht auf politische Diskussionen einlassen will, bleibt legitim, obwohl man gerade im Zusammenhang mit seinem Engagement für die LGBTQ-Gemeinde anderes erwartet hätte. Die ignorante Einstellung der Menschen, die er zurecht beklagt, könnte man nicht nur durch den eigenen wohlgefälligen Gefühlswandel – von Wut zu Dankbarkeit – nachsichtiger wahrnehmen, sie wäre möglicherweise auch mittels Aufklärung über bestimmte Hintergründe der sozialen Realität zu verändern.

Manches Mal wechselt Nishimura vom Platz eines ehemaligen Außenseiters zu schnell auf die Seite des Establishments, wenn er sich mit Namedropping (Michelle Obama, RuPaul) aus der sogenannten freien Welt schmückt, auf seine berühmte Ratgeberliteratur-Kollegin Marie Kondô (Verkauf von 7 Millionen Büchern auf dem internationalen Markt) verweist oder sich freut, im Fernsehen und bei „Weltkonzernen“ aufgetreten zu sein. Wahrscheinlich der deutschen Übersetzung aus dem Englischen geschuldet ist eine latente Disparatheit des Texts, in dem verschiedene Jargons aufeinandertreffen. Nicht ganz harmonisch begegnen sich in Nishimuras Ausführungen persönliches Psychodrama, buddhistische Weisheit und unbedingtes amerikanisches Erfolgsstreben. Etwas ratlos hinterlässt einen am Ende der weniger spirituell als darwinistisch klingende Hinweis: „Bitte am besten nur erfolgreiche Menschen um Rat.“

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Kodo Nishimura: Der Mönch in High Heels. Du darfst sein, wer du bist.
Aus dem Englischen von Judith Elze.
Knaur Taschenbuch Verlag, München 2022.
264 Seiten, 18 EUR.
ISBN-13: 9783426676226

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