Vom Weggesperrt-Werden in verschiedenen politischen Systemen

Bettina Wilpert verschafft in „Herumtreiberinnen“ schonungslose Einblicke in eine Welt, die bisher weder historisch betrachtet noch offiziell geöffnet wurde

Von Stefanie SteibleRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie Steible

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Für ihren zweiten Roman Herumtreiberinnen hat Bettina Wilpert ein Gebäude in Leipzig als Ort gewählt, an dem sich ihre ausschließlich weiblichen Figuren innerhalb unterschiedlicher politischer Systeme wiederfinden. Auch wenn es keine direkte Verbindung zwischen ihnen gibt, so zeigt die hier erzählte Geschichte auf berührende, manchmal auch schockierende und unangenehme Art und Weise, wie sehr die politischen Rahmenbedingungen das Leben einzelner Menschen beeinflussen können.

Als Hauptfigur lernen wir zunächst die 17-jährige Manja kennen. Sie lebt in der DDR der 1980er Jahre. Sie schwänzt gemeinsam mit ihrer Freundin seit kurzem öfter mal die Schule. Manuel, der älter ist, aus einem anderen Land kommt, anders aussieht und eigentlich keinen Kontakt zu den Bürgern des Landes außerhalb seiner Arbeit haben soll, lernt sie im Schwimmbad kennen. Sie verliebt sich. Während ihres ersten Besuches in seinem Wohnheim wird sie im Rahmen einer Razzia festgehalten.

Gegen ihren Willen, aber auch, weil die Mutter sich mit ihrer pubertierenden Tochter überfordert fühlt, wird Manja in die Verenologische Station eingewiesen. Obwohl sie selbst noch keinen Geschlechtsverkehr hatte, findet sich das junge Mädchen plötzlich an einem Ort wieder, an dem laut offizieller Erklärung Geschlechtskrankheiten geheilt würden. Tatsächlich werden hier Frauen eingesperrt, die sich anders verhalten als vom politischen Regime gewünscht.

Sie erlebt, wie sie von heute auf morgen gesellschaftlich zur „Asozialen“erklärt wird und muss sich von dem auf der Station beschäftigten Personal nicht nur verbal erniedrigen lassen, sondern erfährt auch körperliche Gewalt mit dem selbsterklärten Ziel der Züchtigung in dem gemeinhin als Tripperburg bezeichneten Gebäude. Die Situation bei ihrer Ankunft beschreibt Manja so: 

Die Schwester schob mich unter eine Dusche, das eiskalte Wasser schwemmte die Gefühle, die noch da gewesen waren, die Gedanken, die sich mit der Frage beschäftigten, was hier passierte, aus meinem Kopf, und ich war nur da, und ich dachte nichts, es gab kein Vorher, kein Nachher, das war jetzt die Welt: Ich, nackt, unter einer kalten Dusche, eine Fremde vor mir.

Doch sie lernt es, zu überleben und sich in einem neuen System, in dem ganz andere Regeln galten als eben noch im geschützten Raum der Schule, zurechtzufinden. 

Ca. 40 Jahre vorher, in der Zeit des Zweiten Weltkriegs, ergeht es einer anderen jungen Frau ähnlich: Lilo, die ihren Vater – einen kommunistischen Widerstandskämpfer – bei kleineren Aktionen unterstützte und schließlich durch Verrat aufflog. In dieser Zeit werden in der Lerchenstraße vor allem politisch Andersdenkende untergebracht. Lilo zeigt große Loyalität zu ihrem Vater und nimmt vermutlich auch deswegen all ihren Mut zusammen, um ihm zu helfen, weil sie ihm beweisen möchte, dass sie etwas leisten kann und von ihm wahrgenommen und anerkannt werden will. Als Strafe dafür wird sie später in die Lerchenstraße kommen, einen Ort, an dem Isolation, Disziplin, Internierung, Sanktionierung und Korrektur die bestimmenden Vokabeln sind.Ihre Mitbewohnerinnen beschreiben die Situation dort wie folgt: 

Wir sollen das Eine und dürfen das Andere nicht. Wir sollen nicht betteln und dürfen nicht auf dem Land umherstreichen… Wir dürfen keine Kinder bekommen, und sie sorgen dafür, dass wir es nicht mehr können.

Und als schließlich im Zuge der Flüchtlingskrise 2015 Robin, eine Sozialarbeiterin in der Gegenwart, in dem Leipziger Gebäude arbeitet, wo nun Geflüchtete untergebracht und teilweise mit ähnlichen Paradigmen konfrontiert sind, schließt sich der Kreis. Auch wenn wir über Robin nicht mehr viel erfahren, wirkt es doch umso beklemmender, dass so viele Jahre nach den Schicksalen von Manja und Lilo wiederum äußere Umstände solch einen großen Einfluss auf den persönlichen Werdegang einzelner Menschen haben.

Im Verlauf dieser Geschichte erlaubt es uns die Autorin, ihren Hauptfigurensehr nahe zu kommen. Sie gewährt uns zusätzlich Einblicke darin, wie die DDR das Thema Prostitution oder den Umgang mit Punkern handhabte. An vielen Stellen wünscht man sich als Lesende*r, hier noch mehr zu erfahren, auch wenn das Buch kein Happy End erwarten lässt. Doch die Autorin vermag es sehr klug, weibliches Denken und den politischen Rahmen zu verbinden und weist auf historische Lücken hin. Ihr Schreibstil ist zum Teil schonungslos und zeigt das, was Gewalt, Hierarchien und Systeme mit Menschen anrichten können. Somit ist dieser Roman am Ende auch als Plädoyer für eine demokratische Gesellschaftsordnung, und nicht nur für die Freiheit von Frauen, zu verstehen. 

Titelbild

Bettina Wilpert: Herumtreiberinnen. Roman.
Verbrecher Verlag, Berlin 2022.
400 Seiten, 25 EUR.
ISBN-13: 9783957325136

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