Auf der Jagd nach ein bisschen Luxus
Mit „Die Nacht unterm Schnee“ schließt Ralf Rothmann seine Trilogie von Romanen über die Nachkriegszeit ab
Von Günter Rinke
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDarüber, dass Ralf Rothmann ein begnadeter Erzähler ist, kann kein Zweifel bestehen. Mit seinen zahlreichen Romanen und Erzählungen hat er es immer wieder bewiesen und dafür verdientes Lob von Rezensenten und vielerlei Literaturpreise bekommen. An seiner Erzählkunst am meisten zu bewundern sind der Detailrealismus, der frühere Lebenswelten plastisch werden lässt und alle Sinne anspricht, und die reichhaltige, gleichmäßig strömende Sprache, durch die die geschilderte Wirklichkeit poetisiert wird. Insofern kann man ihn in der Nachfolge der poetischen Realisten des 19. Jahrhunderts sehen, obwohl er, anders als diese, die Wirklichkeit nicht verklärt, sondern in der Schonungslosigkeit seiner Schilderungen manchmal an die Grenzen des Erträglichen geht.
Das trifft in besonderem Maß auf seine drei zuletzt erschienenen Bücher zu, in denen vom Ausgang des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit erzählt wird. Es fällt schwer, diese Romane voneinander zu trennen und den dritten einzeln zu besprechen. Zwar handelt es sich nicht um Fortsetzungsgeschichten, aber die Zusammenhänge über wieder auftretende Figuren, deren Motive und Handlungsimpulse sind eng. Trotzdem ist es auch möglich, jeden für sich zu lesen. Im ersten Roman, Im Frühling sterben (2015), wird erzählt, wie der Melker Walter Urban und sein Freund Friedrich Caroli, beide noch nicht achtzehn Jahre alt, in den letzten Kriegsmonaten zur Waffen-SS zwangsrekrutiert werden und Walter in Ungarn gezwungen wird, an der Erschießung seines Freundes teilzunehmen, weil der beschuldigt wird, ein Deserteur zu sein.
Walter kann äußerlich unversehrt nach Hause zurückkehren und seine Verlobte, Elisabeth, heiraten, trägt aber sein Leben lang an dieser Schuld. Allerdings spricht er nicht darüber, ebenso wie Elisabeth über die in Die Nacht unterm Schnee erzählte Vergewaltigung durch russische Soldaten, die sie auf der Flucht aus Westpreußen erlitten hat, schweigt. Von diesem Ereignis wird in Zwischenkapiteln, in denen die Erzählform von der Ich- in die Sie-Perspektive wechselt, erzählt. Beide Kriegstraumata sind die „Leerstelle[n]“ im Leben der Eheleute, die als verkapselte, nicht ausgesprochene Erfahrungen vegetativ fortexistieren. Bei Walter ist ein leichtes Zittern zurückgeblieben, bei Elisabeth eine Unstetheit, die sie immer wieder zu unüberlegten Handlungen, einmal sogar zu einem Selbstmordversuch, antreibt.
Es ist kein Geheimnis, dass Rothmann in Gestalt von Walter und Elisabeth die Geschichte seiner Eltern erzählt. Erzählerin von Die Nacht unterm Schnee, des „Buch[s] über Elisabeth“, ist deren fünf Jahre jüngere Freundin Luisa Norff, die schon die Hauptfigur des zweiten Romans, Der Gott jenes Sommers (2018), war. In diesem Buch ist sie zwölf Jahre alt. Sie lebt mit Mutter und Schwester auf einem Gut in der Nähe von Kiel, verliebt sich in den Melker Walter, ist bereits eine leidenschaftliche Leserin von Romanen und wird von ihrem Schwager, einem SS-Offizier, vergewaltigt. Ihr Vater, Betreiber einer Kantine für Soldaten in Kiel und selbst Alkoholiker, erhängt sich, und die Schwester Sibylle verschwindet spurlos.
Also auch sie, die Ich-Erzählerin des jüngst erschienenen dritten (und umfangreichsten) Romans, hat einige Kriegstraumata zu bewältigen, jedoch gelingt ihr das, wonach Elisabeth vergeblich strebt: Sie findet ihr Gleichgewicht und lebt weitgehend im Einklang mit sich selbst. Fünf Jahre nach dem Krieg – sie ist siebzehn und geht noch zur Schule – beobachtet sie Elisabeth bei ihrer Tätigkeit als Kellnerin in dem Lokal in Kiel, das Luisas Mutter nach dem Tod ihres Mannes betreibt. Liesel, wie sie sich selbst gern nennt, ist in diesem Beruf sehr tüchtig, aber ihr sonstiger Lebenswandel befremdet Luisa und ihre Mutter. Denn sie bessert ihr knapp bemessenes Gehalt durch Geschenke von Männern auf, mit denen sie sich ab und zu in ihr Zimmer zurückzieht. Ein schlechtes Gewissen gegenüber Walter hat sie deswegen nicht, schließlich sind sie noch nicht verheiratet. Als er seine Stelle verliert und auf einem anderen Hof Arbeit angeboten bekommt, falls er eine Frau mitbringt, folgt sie ihm dorthin und heiratet ihn.
Das anstrengende, entbehrungsreiche Landleben, das beide führen, lernt Luisa kennen, als sie sie auf dem Hof besucht. Rothmann hat schon in den anderen Büchern bewiesen, dass er die einfachen – und doch viel Wissen und Geschicklichkeit verlangenden – Tätigkeiten der auf dem Land Arbeitenden sehr genau beschreiben kann (etwa die Geburt eines Kalbes in Der Gott jenes Sommers). Sie erhalten einen kargen Lohn und werden vom Gutsbesitzer argwöhnisch und manchmal, wenn sich die Frauen unter der Pumpe waschen, auch gierig beobachtet.
Elisabeth bekommt einen Sohn, Wolf, und später eine Tochter. Wegen Komplikationen in der zweiten Schwangerschaft muss sie für längere Zeit ins Krankenhaus nach Kiel. Währenddessen wird sie von Luisa vertreten, die das Melken schon von einem früheren Besuch her beherrscht. Noch immer findet sie Walter attraktiv, was ihm nicht entgeht, und kurz vor dem Ende ihres Aufenthalts kommt es zu der wohl vorhersehbaren, aber folgenlosen Liebesnacht zwischen den beiden. Zum Dank für ihre Arbeit schenkt Elisabeth ihr einen wertvollen Ohrschmuck, zu dem sie auf verschlungenen Wegen gekommen ist. Er ist ein Symbol einerseits für ihre Sehnsucht nach ein bisschen Luxus, andererseits für die Erniedrigung durch das Gutsbesitzerpaar. Sie trägt ihn manchmal, als sie noch in Kiel arbeitet, und erhält ihn zurück, als sie todkrank darniederliegt. Formal zeigt dieses Motiv, dass Rothmann einen Roman so straff zu erzählen versteht wie eine Novelle mit einem ‚Falkenmotiv‘.
Da Walter wegen der Mechanisierung der Landwirtschaft seine Stelle verliert, zieht die Familie, nach einer Zwischenstation in der Wesermarsch, ins Ruhrgebiet, wo Bergleute gesucht werden. Rothmann knüpft nun an seine Ruhrgebietsromane (Junges Licht, Milch und Kohle) an, in denen er bereits das Bergarbeitermilieu der sechziger Jahre geschildert hat. In der Stadt ist Elisabeth zufriedener als auf dem Land. Die Wohnung ist komfortabler und man kann sich ab und zu schön machen und ausgehen, was allerdings zu Konflikten mit dem Ehemann führt. Als Luisa, die inzwischen als Bibliothekarin Karriere gemacht und ihren ehemaligen Lehrer geheiratet hat, sie besucht, freut sich Elisabeth wegen der Gelegenheit zu einer nächtlichen Vergnügung mit viel Alkohol, Zigaretten und Männern.
Überhaupt wird viel geraucht und getrunken in den Romanen. Der Vater verfällt dem Alkohol, nachdem er seine Gesundheit im Bergwerk ruiniert hat und entlassen worden ist. Die Mutter arbeitet wieder als Kellnerin, und beide leben nebeneinander her. Während der Vater sich mit Bratkartoffeln mit Spiegelei und Spinat zufriedengibt, will die Mutter mehr vom Leben – und bekommt es meist nicht. Walter stirbt mit sechzig Jahren, seine Frau folgt ihm, krebskrank, bald nach. Ihre Kinder, die vor allem von der Mutter viel Gewalt erfahren mussten, gehen früh ihre eigenen Wege. Der schon in der Kindheit verträumte Wolf, der später Schriftsteller wird und 1986 „sein erstes oder zweites Buch veröffentlicht“, ist Rothmanns Alter ego. Er nimmt den Kontakt zu „Tante Luisa“ wieder auf und berichtet ihr vom Leben seiner Eltern.
Weshalb macht der Autor nicht Wolf zum Ich-Erzähler, sondern geht das Wagnis ein, als Mann aus der Sicht einer Frau zu erzählen? Luisa Norff tritt nicht nur als Freundin von Elisabeth in Erscheinung, sondern sie erlebt, bevor sie sich in ihren Lehrer verliebt, ein längeres Liebesabenteuer mit einem Krankenhausarzt. Ihr späteres Leben als Bibliothekarin, Ehefrau und Mutter einer Tochter erzählt sie zeitraffend. Gibt es auch für sie ein Vorbild, oder ist sie eine erfundene Figur? Rothmanns Poetologie, die er Luisa in den Mund legt, gibt einen Hinweis, aber keine Gewissheit:
Ein Schriftsteller verfügt selten über mehr als seine Biografie, und wenn er redlich ist, präsentiert er den Lesern nichts von dem, was eigentlich jeder erfinden könnte, etwas Originelles womöglich; trostlos klug sind wir schließlich alle.
Die für den Autor offenbar notwendige doppelte Distanzierung hat einen Preis, der in der nicht ganz klaren Konstruktion des Romans liegt. Es ist ja Wolf, der Luisa um Material über seine Eltern, „Briefe und Fotos“, bittet, als wäre er es, der vorhat, das Buch über sie zu schreiben. Weshalb er dann sie die Geschichte in Ich-Form erzählen lässt, abgesehen von den in der dritten Person erzählten schrecklichen Erlebnissen Elisabeths auf der Flucht, wird nicht geklärt. In einer Überlegung Luisas reflektiert sich der Roman selbst als Konstrukt, als Produkt eines Willkürakts:
[E]in Mangel ist den meisten belletristischen [Büchern] gemeinsam: Ein Roman verkörpert stets einen gewissen Mutwillen, er zwingt das Geschehen in eine Form, die es im Leben selten gibt und die uns in unserer Angst vor dem Traurigen, Schrecklichen oder Chaotischen besänftigen soll. Außerdem lässt die Autorität des Gedruckten schnell vergessen, dass jede Geschichte viele andere ausschließt, so dass ihre Wahrheit meistens eine momentane oder reduzierte ist. Misstrauen bleibt also geboten […]
Trotz des gebotenen Misstrauens ist aber das Bemühen des Autors um poetische Gerechtigkeit zu loben. Während die revoltierenden 68er mit ihren Eltern hart ins Gericht gingen, ihnen vorwarfen, in den Jahren des Wirtschaftswunders ihre Schuld oder Mitverantwortung an den NS-Verbrechen verdrängt und darüber geschwiegen zu haben, macht Rothmann den Versuch, ihnen gerecht zu werden, indem er letztlich ihrer Gebrochenheit nachspürt. Das geht nicht ohne einen Hauch von Vergeblichkeit. Am Ende des ersten Romans besucht Wolf an einem Wintertag den Friedhof, auf dem seine Eltern liegen. Aber er findet ihr Grab nicht. Am Ende des dritten Bandes ist es nicht Wolf, sondern Luisa, die ihrer Freundin am Krankenbett einen letzten Besuch abstattet. Vielleicht wird sie auch deshalb als vermittelnde Erzählinstanz gebraucht, weil die Distanz und Sprachlosigkeit zwischen den Generationen selbst in der literarischen Fiktion nicht zu überwinden sind.
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