Wegmarken eines jungen Dichters

Raphaela Brüggenthies zeichnet in „»Heilge Schwelle«. Der frühe Heine – ein jüdisch-christliches Itinerarium“ die wichtigen Schwellenjahre Heinrich Heines nach

Von Ulrich KlappsteinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Klappstein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es war Ludwig Rosenthal als Vertreter der älteren Exilgeneration, der in seinem Buch Heinrich Heine als Jude (Frankfurt am Main 1973) die bisher umfangreichste neuere Untersuchung zu Heines Einstellung zur jüdischen Religion vorgelegt hat. Seither mangelt es an einschlägigen Studien. Auch das in vieler Hinsicht verdienstvolle Unternehmen des Heine-Handbuchs, das 1987 erstmals erschienen ist und mittlerweile in seiner 3. Auflage von 2004 den Rang eines Standardwerks genießt, würdigt dieses Forschungssegment nur in einem relativ kurzen Kapitel im Abschnitt „Der Außenseiter: Jude, Emigrant, Intellektueller“.

Heine, der in einer jüdischen Tradition aufgewachsen ist, empfing 27-jährig im Jahr 1825 den christlichen Taufakt. Seine Konversion, die er selbst als „billet d’entrée“ in die europäische Kultur dargestellt hat, bereute er schon kurze Zeit später, wie er gegenüber seinem Freund Moses Moser bekannte.

Die Heine-Forscherin Raphaela Brüggenthies hat nun die wesentlichen Stationen bis zu Heines Übersiedelung nach Frankreich im Jahr 1831 nachgezeichnet. Ihre Studie fußt auf ihrer Promotionsschrift, die sie 2020/2021 an der Universität Bamberg vorgelegt und die sie für die Drucklegung geringfügig überarbeitet hat. Ausführlich wendet sich Brüggenthies Heines „jüdisch-christlichem Itinerarium“ und seinen Spiegelungen im Frühwerk zu. Drei Großkapitel sind der „Tragödie einer utopischen Projektion Almansor“, dem „Kryptogramm einer verfehlten Konversion: Der Rabbi von Bacherach“ und dem „Itinerar einer befreienden Evasion: Die Harzreise“ gewidmet.

Unterlegt wurde die Recherche mit zahlreichen Verweisen auf die umfangreiche Korrespondenz des jungen Dichters, die sich „wie ein Kommentar zu den Werken“ verhält. Mit Blick auf das Frühwerk des Dichters kommt Brüggenties – auf der Grundlage weiterer Textzeugen nicht nur aus den besprochenen Werken – zu der Erkenntnis, Heine sei nicht zu verstehen, wenn man das Thema der Konversion nicht hinreichend berücksichtige und ernst nehme. Folglich konzentriert sich Brüggenthies in ihrer interdisziplinär angelegten Studie – die die Autorin im Feld germanistisch-theologisch-judaistischer Forschung verortet – auf diese frühe Lebensphase Heines, die von diversen „Figurationen, Variationen und Transformationen“ gekennzeichnet sei.

Es sei aber gerade diese werkbiografische Phase der ohnehin komplexen Werk-Chronologie, die die Forschung bislang oft umgangen habe, ohne den „jüdischen Hintergrund“ des Dichters genügend zu würdigen. Bei allen schriftstellerischen „Einkleidungen“ und Chiffrierungen, denen sie ebenfalls minutiös nachgeht, verteidigt Brüggenthies vehement ihren biografischen Ansatz, da Heine wie kaum ein anderer Dichter im Zeitalter der Romantik „sein Privatleben so offen zum Stoff seiner Literatur erklärt“ habe: „Er exhibiert seine Liebes- und Judenleiden, seine Promotions- und Schreibblockaden, seine politischen Sorgen und wie ein basso continuo seine körperlichen Schmerzen“.

Dies demonstriert sie zunächst an Heines Erstlingswerk, der Tragödie Almansor, die für die Autorin schon die ganze „deutsch-jüdische Misere“ vor dem Hintergrund eines muslimisch-christlichen Konflikts beschreibt. Überzeugend stellt sie dabei die Verknüpfungen der Handlung des Stückes mit Heines persönlicher Entwicklung dar.

Ihre Analyse setzt sie fort, indem sie den komplexen Entstehungsprozess des Erzählfragments Rabbi von Bacherach bis zu dessen Abbruch nachzeichnet und auch auf Heines ambivalentes Verhältnis zur deutschen Romantik und deren katholisierenden Tendenzen eingeht. Diese Erzählung interpretiert sie als „Gegengeschichte zum biblischen Exodus“ und als Amalgam deutsch-jüdischer Traditionen, somit als Beispiel einer „Romantik gegen den Strom“. 

In dem letzten, umfänglichsten Abschnitt der Studie widmet sie sich dem kleinsten Zyklus des Buchs der Lieder, der Harzreise als biografische und literarische „Evasion aus dem Bannkreis“ des Judentums. Brüggenthies bezieht sich dabei textlich nicht auf die spätere Fassung dieser Dichtung, so wie sie 1826 im ersten Band der Reisebilder vorliegt, sondern auf die Frühfassung, die schon vom 20.2. bis zum 11.2.1826 in der Zeitschrift Der Gesellschafter oder Blätter für Geist und Herz, herausgegeben von Friedrich Wilhelm Gubitz, erschienen war. Obwohl die preußischen Zensurbehörden diesen frühen Zeitschriftendruck verstümmelt hatten, spiegelt er nach Auffassung der Autorin den Stand vom November 1824 genauer wider und gestattet einen klareren Blick auf Heines Befindlichkeiten. Die frühe Fassung sei ein „Stimmungsbild“, das Heines schriftstellerische Entwicklung exakt nachzeichne; sie sei ein „Exodus“ von der emotionalen Aufwühlung durch die Beschäftigung mit dem Rabbi, letztlich also ein persönlicher Befreiungsversuch des Dichters. 

„Den Reflexionen des Harz-Wanderers ist steganografisch ein speziell jüdischer Sinn eingelegt, Chiffren der Emanzipation aus der Ghettowelt, die freilich nur einem zeichenkundigen Leser einleuchten.“ Im letzten Abschnitt dieses Kapitels mit dem Titel „Evasion aus der Idolatrie“, der nach Meinung des Rezensenten auch unabhängig von der Studie zu lesen wäre – hilfreich ist in diesem Zusammenhang auch die auf der Umschlaginnenseite abgedruckten Karte mit der Wegbeschreibung und den Stationen von Heines Harzreise – analysiert die Verfasserin den damaligen, zeitgenössischen „Brockentourismus“, so wie er sich in seinen literarischen Zeugnissen und vor allem mit Heines Blick auf Goethe darstellte. Heine habe – so Brüggenthies – dabei in Kauf genommen, dass dieser „Tiefpunkt“ dem Verständnis der Harzreise nicht gerade förderlich gewesen sei, sondern zu einem misreading geführt hat. Denn Heine habe sich gerade nicht den romantisierenden „Nebelschwaden, die dem Brocken um seinen kahlen Kopf ziehen“, ergeben, sondern die schon damals gängigen Klischees der einschlägigen Reiseliteratur als „recht echtdeutsch romantisch verrückt“ entlarvt. In den Darstellungen der versteinerten Höhlenwelten des Harzes „schwankt er zwischen Ironie und Melancholie“, er ist „gezwungen, an der Schwelle zu verharren, über die er hineinwill und von der er doch immer wieder abgewiesen wird“.

Dies ist auch das Fazit der Verfasserin über Heines gescheiterten Versuch, dem „Bannkreis des Judentums“ zu entkommen, denn schon im Spätsommer des Jahres 1826 sah Heine keine Zukunft mehr in Deutschland. „Es ist aber ganz bestimmt, dass es mich sehnlichst drängt, dem deutschen Vaterlande Valet zu sagen. Minder die Lust des Wanderns, als die Qual persönlicher Verhältnisse (z. B. der nie abzuwaschende Jude) treibt mich von hinnen“, zitiert Brüggenthies aus einem Brief Heines vom Oktober 1826 an seinen Freund Moser. Doch erst fünf Jahre später wird er die Konsequenz ziehen und ins Pariser Exil gehen.

Brüggenthies’ Studie gelingt es auf diese Weise, die existentiellen Befindlichkeiten des Dichters Heine an den Stationen des „Itinerars“ seines frühen Lebenswegs darzustellen und den anspielungsreichen „Doppelsinn“ im Frühwerk Heines aufzuzeigen. Diese Charakterisierung geht übrigens auf den Schriftsteller Max Brod (1884–1968) zurück, vor und nach dem Ersten Weltkrieg einer der bekanntesten Vertreter der Prager deutschsprachigen Literatur, der sich in seiner Heine-Biografie bereits ausführlich mit Heines konfliktreicher Beziehung zum deutschen Judentum auseinandergesetzt hatte:

Allein mußte er seinen Weg gehen, einen Weg der Irrtümer, der unglückseligen Taufe, keiner konnte ihn verstehen, er selbst verstand nicht, was ihn im Grunde leitete. Wäre es nicht in gewisser Weise wieder irreführend, so könnte man sagen, daß ihm in erster Linie sein Leichtsinn, sein lachendes Selbstbewußtsein half. Das Problem des in sich widerspruchsvollen Doppelschritts merkte er gar nicht, lachend setzte er über den Abgrund, voll naiven Selbstvertrauens, das, ausnahmsweise, einmal auch richtig führen kann. (Max Brod: Heinrich Heine. Biografie, S. 174f.)

Das Buch kam 1934 im Amsterdamer Exil-Verlag Allert de Lange heraus und konnte sein Publikum im nationalsozialistischen Deutschland nicht mehr erreichen. Brods Studie hatte einen großen Einfluss auf diesen Aspekt der Heine-Forschung, der in den Jahren 1938 bis 1948 vor allem von den deutsch-jüdischen Emigranten in den USA vorangetrieben wurde.

Dieses wichtige Werk hat Brüggenthies – aus nicht näher dargelegten Gründen – leider nicht berücksichtigt, es fehlt auch im Literaturverzeichnis der verwendeten Primärliteratur zu Heines Leben und Werk, obwohl das Buch seit April 2015 vom Wallstein Verlag in Gestalt der zweiten, verbesserten Auflage von 1935 der Heine-Forschung wieder zugänglich gemacht worden war. Ebenfalls nicht erwähnt hat sie die Publikation Heinrich Heine. »… und grüßen Sie mir die Welt«. Ein Leben in Briefen, die bereits 2005 von Bernd Füllner und Christian Liedtke im Hoffmann und Campe Verlag herausgekommen ist und die sich immer noch als Parallellektüre anbietet. Dies mag man jedoch als die einzigen Mängel von Brüggenthies’ Studie verschmerzen, die Heines Zwiespalt zwischen seiner jüdischen Identität und einer antisemitisch geprägten nationalistisch-christlichen Gesellschaft überaus kenntnisreich nachzeichnet und der deshalb ein besonderer Platz in der gegenwärtigen Heine-Forschung zukommen dürfte. 

Titelbild

Raphaela Brüggenthies: »Heilge Schwelle«. Der frühe Heine – ein jüdisch-christliches Itinerarium.
Wallstein Verlag, Göttingen 2022.
464 Seiten, 39,00 EUR.
ISBN-13: 9783835351752

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