Furor poeticus und furious poets

In seiner Studie „Schreibrausch“ geht Magnus Wieland „Figuren des poetischen Furors“ nach

Von Thomas MerklingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Merklinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Schreibrausch“: Der Gedanke taucht plötzlich auf und ruft einen heftigen Kreativitäts- und Ideensturm hervor, aus dem zunächst eine Literaturausstellung und nun die vorliegende Studie hervorgegangen sind. Inhaltlich wie sprachlich ganz „themenkonform“ beschreibt Magnus Wieland die initiale Urszene des Projekts als Inspiration beim Bier mit Andreas Schwab, die sofort in Ideen, einem Konzept und in schneller Folge ausgetauschten Mails mündet, bis ein Exposé für eine Ausstellung im Zürcher Literaturmuseum Strauhof steht. Die gemeinsam kuratierte Themenausstellung „Schreibrausch – Faszination Inspiration“ findet dort im Frühjahr 2017 statt. Mit dem im Wehrhahn Verlag erschienenen Essay Schreibrausch. Figuren des poetischen Furors verfolgt Magnus Wieland das Thema weiter.

In zehn Kapiteln geht Wieland dem Topos der poetischen Inspiration beziehungsweise der „Inspirationalität“ nach. Der Neologismus meint ein Schreiben, das „auf eine Form der Eingebung [vertraut], was immer auch genau die Quelle einer solchen Eingebung sein mag.“ Dabei geht es allerdings nicht um die Frage, ob und wie Eingebungen den Schreibprozess initiieren und begleiten, sondern vielmehr um die diskursiven Vorstellungen rauschhaften Schreibens, also eines Schreibens, das neben Rationalität und Disziplin vor allem auf Inspirationalität setzt. Der Gedanke, dass Literatur einer urgründigen, unergründlichen Quelle entspringt und auf den Textträger fließt, ohne dass der Poetin oder dem Poeten immer bewusst wäre, woher die Worte stammten, ist fester Bestandteil des Vorstellungsraums auktorialen Schaffens. Historisch mit der Figur des furor poeticus verbunden, taucht der inspirierte Rausch auch heute noch in vielfältigen Formen und Formeln auf. Dies zeigen die in sich geschlossenen Abschnitte, die zwischen den rahmenden Kapiteln „Writer’s High“ und „Writer’s Block“ eine chronologisch geordnete und langsam ansteigende Intensivierung der kreativen Rauscherfahrung präsentieren.

Der locus classicus dichterischer Inspiriertheit findet sich in Platons Dialog Ion. Hier erscheint der Dichter als ein von höherer Instanz berauschter Geist, der erst dichten kann, wenn seine rationale Seite ausgeschaltet ist. Poesie entspringt demnach einem heiligen Wahnsinn (manía). Die poetische Schöpfungstätigkeit ist letztlich auf göttliche Eingebung zurückzuführen und kann erst gelingen, wenn die Verstandeskräfte eliminiert sind, der Poet also nicht mehr ganz bei sich ist. Mag diese Dichtungstheorie bei Platon womöglich noch ironisch gemeint sein – Wieland lässt das offen, sieht aber eine gewisse Wahrscheinlichkeit gegeben –, meinen seine Nachfolger in der römischen Antike und der Renaissance die Vorstellung des poetischen Furors erst. Das Sinnbild des furor poeticus zeigt ein mit Lorbeerkranz und Flügeln versehenes Haupt mit nach oben verdrehtem Blick, während die parallel niedergeschriebenen Worte quasi von selbst zu Papier gebracht werden. Im Taumel der Inspiration strömt ein höherer Geist machtvoll durch den poetisch berauschten Körper.

Dass der Mensch nicht schöpferisch sein könne, sondern nur Gott, bleibt im christlichen Mittelalter unhinterfragte Wahrheit. Mit dem kreativen Genie verschiebt sich das Schöpferische dann auf den Menschen, doch zieht es seine Kunst ebenfalls aus einem vorrationalen Zustand. Der kreative Rausch bleibt der Ikonographie dichterischer Produktion weiterhin erhalten. Die (Selbst-)Inszenierung verzückter Empfängnis, wie sie einigen theologischen Schriften zu eigen ist, weicht jedoch schleichender Säkularisierung und verschiebt sich auf eine künstlerische Disposition. Im Zuge psychologischer Verinnerlichung um 1800 wird der klassische Inspirationstopos durch alternative Konzepte rauschhaften Schreibens ersetzt, indem große Poesie nun nicht mehr von außen oder oben stammend, sondern als innere ‚Begeisterung‘ gesehen wird.

Es bleibt die Vorstellung bedeutsamer Dichtung damit – insbesondere auf Seiten des Publikums – mit Inspirationskonzepten verknüpft, so dass der Schreibrausch zum „Legitimationsmittel“ und Marker des poetischen Genies wird. Obgleich ein genialischer Furor des Schreibens in den wenigsten Fällen mit den tatsächlichen Produktionsumständen übereinstimmt, darf man wohl mit Hans-Georg Gadamer davon ausgehen, dass derartige auktoriale Inszenierungen auch auf Vorstellungen von Publikumsseite reagieren und dabei noch nicht einmal alle Möglichkeiten ausgeschöpft haben, die das Bürgertum dem Dichter wohl zugestanden hätte. Mit dem Wegfall einer höheren, gar göttlichen Eingebung im furor poeticus bleibt der Schreibrausch als Ausweis der Exzeptionalität moderner Poet*innen übrig und werde „deshalb von Autoren wie Goethe oder Kafka strategisch als aufmerksamkeitsökonomisches Mittel ins Feld geführt […], um das eigene Werk als geniale, mirakulöse oder eben gar inspirierte Schöpfung auszuweisen“, wie Wieland mit Bezug auf Gadamer schreibt. Wo göttliche Ergriffenheit fehlt, da sie unglaubhaft geworden ist, bedarf es anderer Legitimationszeichen dichterischer Größe, die in auktorialer Selbst- wie Fremdinszenierung etwa im Schreibrausch gegeben sind.

Auch auf künstlichem Weg kann man sich in eine künstlerische Stimmung versetzen. Lassen sich womöglich schon die inspiratorischen Erfahrungen der Antike auf bewusstseinserweiternde Substanzen zurückführen, bieten diverse Rauschmittel weiterhin das Versprechen, alternative, ursprünglichere Erfahrungen anzuregen. Insbesondere der Weinkonsum gilt weithin als Dichterdroge der Wahl, doch wird auch mit anderen Mitteln experimentiert, die oftmals gar als ursächlich für einzelne Werke angeführt werden. Von Samuel Taylor Coleridge etwa stammt die Behauptung, er verdanke das Gedicht Kubla Khan einem Opiumrausch. Im 20. Jahrhundert entwickeln sich dann künstlerische Techniken, wie die surrealistische Écriture automatique oder Methoden der Tachographie, des Schnellschreibens, die versuchen, das Unbewusste anzuzapfen. All diesen Ausprägungen des Schreibrauschs gemeinsam ist jedoch die Vorstellung, dass die Ratio ausgeschalten wird und so alternative Bewusstseinszustände und Erfahrungen literarisch mediiert werden können.

Dem entgegen steht die künstlerische Bedeutung von handwerklichem Schaffen, Schreibarbeit und -routine. Neben satirischen Seitenhieben gegen die scheinbar mühelose dichterische Inspiration, wie sie sich etwa bei Horaz, François Rabelais oder Ludwig Börne finden, gibt es auch viele dichterische Aussagen, die auf feste Arbeitszeiten und bürohaftes Arbeiten schwören. Von Thomas Mann beispielsweise, bekanntermaßen ein Schreiber mit klaren Routinen, stammt die Bemerkung in Bezug auf die Vorstellung inspiratorischen Alkoholkonsums, „daß auch jene Poeten ihre Leistungen nicht mit dem Alkohol, sondern trotz ihm vollbracht haben.“ Gleichwohl hält sich die Vorstellung dichterischen Rauschs hartnäckig und mag durchaus auch ihre Berechtigung haben. Zwar entsteht aus der fiebrigen Niederschrift schnell einkommender Gedanken nicht notwendigerweise große Kunst, doch kann der Schreibrausch den Beginn einer reflexiven Ausarbeitung bilden. Umgekehrt können sich auch aus dem Prozess repetitiven Schreibens Einfälle und sich verselbständigende Zustände ergeben: „Die reine Routinetätigkeit besitzt […] durchaus eine gewisse Parallele zum Rausch, da beide quasi subliminal, unterhalb der rationalen Kontrolle ablaufen, so dass man sie gleichsam im Schlaf erledigen kann.“ William S. Burroughs etwa nannte seine assoziativen Aufzeichnungen Routines.

Die Renaissance-Formel des furor poeticus taucht bei Jack Kerouac wieder auf, wenn er sich selbst einen „furious poet“ nennt und mit Blick auf die Beat-Literatur von der „Dichtung eines neuen Heiligen Wahnsinns“ spricht. Der Schreibrausch wird zum Produktionsprinzip, um das Innere möglichst ungefiltert aufs Papier zu bringen. In Analogie zum Saxophon-Solo im Free Jazz und zum Schlagzeugspiel ist die Schreibmaschine das Instrument, auf dem zum Beat der Tastenanschläge ein flow freier Improvisation möglich wird. Um nicht von rationalen und damit gesellschaftlichen Denkstrukturen beeinflusst zu werden, wird mit Techniken experimentiert, die durch die Verbindung von Rausch und Geschwindigkeit einen direkten Zugang zu unmittelbarer Erfahrung herzustellen versprechen. Diese reichen von der wild form freien Assoziierens über speed- und action writing (Kerouac) bis hin zu Cut-ups (Burroughs), die das Sprachmaterial in schnellen, harten Schnitten zusätzlich neu arrangieren. Kerouac hat On the Road absatzlos auf eine zusammengeklebte Papierrolle getippt und bildet so schon formal die Idee eines ununterbrochenen Schreibflusses oder eben einer rasanten Fahrt ab. Burroughs hingegen soll seine Romane Junkie und Naked Lunch aus Cut-ups seiner herumliegenden Routines-Seiten kompiliert haben.

Aus David Cronenbergs Verfilmung von Burroughs’ Naked Lunch stammt schließlich die Bild-Idee der Schreibmaschine anstelle des Kopfes, die sinnbildlich die inhärente Vorstellung des Schreibrausches zum Ausdruck bringt, dass der Schreibende quasi selbst als „Schreib-Maschine“ fungiert. Ob nun als inspiriertes Medium oder im Versuch, das eigene Innere ungefiltert anzuzapfen, das Moment des Rausches verbindet den furor poeticus und die furious poets der Moderne. Die fast schon klischeehafte Idee, das wie besessen schreibende Individuum besitze einen tiefgründigeren Zugang zur Wirklichkeit und künde von höheren Einsichten, beschränkt sich nicht nur auf an der Antike orientierte Zeitalter. Die Persistenz rauschhaft inspirierter Autorbilder ist ungebrochen und taucht, wie der Essay zeigt, nicht nur in Vorstellungen wie Schreibblockaden, sondern auch in aktuellen wissenschaftlichen Studien auf.

Magnus Wieland geht mit seiner kleinen Diskursgeschichte des Schreibrauschs unterschiedlichen Ausprägungen und Vorstellungen des poetischen Furors anschaulich nach und führt sein Thema aus der Antike in die Moderne. Er folgt den zahlreichen Verästelungen in drogeninduzierte Rauscherfahrungen, den inspirierten Wahnsinn mit seinen teilweise schon klinischen Ausprägungen der Schreibwut, der Graphomanie, Hypergraphie und Kakographie bis hin zur Schreibblockade als Negativ und Mangel der Inspiration. So ergibt sich auf knapp 200 Seiten eine kurze, aber anregende Kulturgeschichte der Inspirationalität, die in vielfältigen Beispielen und Anekdoten ein tief verankertes Dichtungsstereotyp nachzeichnet, das sowohl auf Rezeptionsseite wie in Autorinszenierungen weiterhin virulent ist. Ausgewählte Illustrationen und ein Personenregister ergänzen die Ausführungen.

Titelbild

Magnus Wieland: Schreibrausch. Figuren des poetischen Furors.
Wehrhahn Verlag, Hannover 2022.
204 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783865258922

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