In der Unendlichkeit der Ozeane

Der Profisegler Boris Herrmann zeigt in seinem Bericht „Allein zwischen Himmel und Meer“ gemeinsam mit Andreas Wolfers neue Perspektiven auf das Meer und das Segeln

Von Jonas HeßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jonas Heß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Für die meisten Menschen ist das Meer vor allem ein Ort, an dem man Urlaub macht. Man fährt an die Nord- und Ostsee, ans wärmere Mittelmeer oder auch in Richtung Karibik und Südsee. Egal welches Meer man wählt, die Gründe für einen Urlaub an der See sind in der Regel dieselben: Angenehmes maritimes Klima, der Blick in die Ferne, das beruhigend monotone Rauschen der Wellen, die Füße im Sand. Das alles hilft dabei, abzuschalten, sich treiben zu lassen und den Arbeitsalltag zu vergessen.

Für Profisegler:innen wie Boris Herrmann aber ist das Meer selbst der Arbeitsplatz. Der gebürtige Oldenburger nahm 2020/21 als erster Deutscher (neben Isabelle Joschke, die zugleich unter französischer Flagge antrat) und mit breiter medialer Berichterstattung an der berüchtigten Einhand-Regatta „Vendée Globe“ teil. Das Rennen führt einmal um die Welt, die Teilnehmer:innen sind dabei wochenlang allein auf See, alle relevanten Entscheidungen bezüglich Kurs, Segel und Wetter müssen in der Einsamkeit des Ozeans getroffen werden. Gemeinsam mit Andreas Wolfers hat Herrmann dieses Erlebnis in einen interessanten und abwechslungsreichen Bericht überführt, der sich – insbesondere am Meer – zu lesen lohnt.

Er spricht darin nicht nur über die überwältigende Natur, die die Segler:innen Tag und Nacht umgibt und ihr Handeln bestimmt, sondern auch über die physischen und psychischen Belastungen während des Rennens, die hochgerüsteten Rennyachten und die beobachtbare Veränderung der Meere durch den Klimawandel. Schwer zu verstehen, aber umso eindrücklicher davon zu lesen, wie man in dieser Unendlichkeit voll Wasser, in welcher meist für Wochen kein Land zu sehen ist, in ständiger Wellenbewegung und mit meist nicht mehr als einigen Minuten bis zu einer Stunde Schlaf am Stück überhaupt wochenlang bestehen kann. Im Südpolarmeer müssen die Teilnehmer:innen dazu mit Winden in Sturmstärke, sieben Meter hohen Wellen und der Gefahr abgetriebener Eisberge kämpfen. Permanent werden die Yachten dabei an der Belastungsgrenze gefahren, um noch den letzten Bruchteil eines Knotens aus ihnen herauszutreiben.

Hinter allen Segler:innen steht dabei ein riesiges Team an Unterstützer:innen und Expert:innen. Alle Teams haben mehrere Jahre und viel Geld in die Teilnahme ihrer Skipper:innen investiert. Die 60-Fuß-Yachten wurden von vielen Teams zur Probe mehrmals über den Atlantik gesegelt. Fast alle sind aus Karbon, einige sind mit Hydrofoils ausgestattet, die das Boot ab einer gewissen Geschwindigkeit aus dem Wasser heben und den Widerstand damit noch weiter verringern. So können Geschwindigkeiten deutlich über 20 Knoten (ca. 37 km/h) erreicht werden.

Obwohl alle Yachten für härteste Bedingungen auf See ausgerichtet sind, muss der Regatta-Teilnehmer Kevin Escoffier nach wenigen Wochen sein Boot verlassen, nachdem dieses beim Eintauchen in eine Welle in zwei Teile zerbrochen und in wenigen Minuten gesunken ist. Der Segler kann lediglich einen kurzen Notruf absetzen und von Bord gehen. Er treibt 550 Seemeilen (ca. 1.000 km) vor Kapstadt in seiner Rettungsinsel – weit außerhalb der Reichweite von Rettungshubschraubern. Auch größere Handelsschiffe und Fahrzeuge der Marine sind zu weit entfernt, sodass die Regattaleitung in Absprache mit der Rettungsleitstelle andere Regattateilnehmer:innen zum Ort des Unglücks lotst, um nach Escoffier zu suchen. Sie werden später eine Zeitgutschrift erhalten .

Auch Herrmann ist unter den Sucher:innen. Mit Schaudern berichtet er von der Rettungsaktion und der ständigen Ungewissheit, Escoffier überhaupt nur zu finden, während er einsam das von der Rettungsleitstelle berechnete Suchraster abfährt. Einem Kollegen, Jean Le Cam gelingt es schließlich nach vielen Stunden, Escoffier aufzuspüren und ihn gar zu bergen. Allein, bei Nacht, vier Meter Welle und Windstärke sechs bis sieben – eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit.

Der Retter Le Cam hatte einige Jahre zuvor selbst bei der „Vendée“ gerettet werden müssen, nachdem seine Kielbombe abgerissen war und er 16 Stunden lang in seiner kieloben treibenden Yacht auf Hilfe warten musste. Diesmal konnte er den Geretten einige Tage später an eine französische Fregatte übergeben und das Rennen fortsetzen, um es schließlich auf Platz vier zu beenden. 

Zum Zeitpunkt des Unglücks von Esoffier haben die Segler:innen nicht einmal die Hälfte der Regatta absolviert. Vom Start an der französischen Atlantikküste führt die Route in einem großen Schlag durch den kompletten Atlantik nach Süden, wo die Teilnehmer:innen dann auf der Höhe von Südafrika nach Osten abbiegen und im Südpolarmeer durch die sogenannten Roaring Forties und Furious Fifties (gemeint sind die Breiten südlich von 40° Süd beziehungsweise 50° Süd) zunächst den Indischen Ozean durchqueren. Nachdem sie südlich an Australien und Neuseeland vorbeigesegelt sind, durchfahren sie den gesamten Pazifik, bevor sie dann hinter Kap Hoorn wieder nach Norden drehen und zurück durch den Atlantik zum Ausgangshafen segeln. Etwas mehr als 80 Tage wird Boris Herrmann für die circa 24.000 Seemeilen (44.000 km) brauchen und auf dem fünften Platz landen, nachdem er durch die Kollision mit einem Fischerboot noch kurz vor dem Ziel seine Platzierung auf Platz drei abgeben muss.

Auf der gesamten Strecke hat er im Rumpf seines Bootes ein Mini-Labor mitgeführt, das kontinuierlich Wasserproben analysierte. In einer zusammenhängenden Datenreihe gibt es unter anderem Aufschluss über Temperatur und Salzgehalt des Wassers. Da die Meere so weit südlich fast nur von Regattasegler:innen befahren werden, ist es eine der wenigen Möglichkeiten, überhaupt an Daten aus dieser Region zu kommen. Sie dienen der Beobachtung der Veränderung der Meere durch den Klimawandel. Herrmann selbst berichtet in Erinnerungspassagen davon, wie er bei Fahrten durch das Nordpolarmeer mit bloßem Auge bereits sehen konnte, wie deutlich das Eis innerhalb weniger Jahre zurückgewichen ist. Nicht umsonst prangt auf den Segeln seines Bootes der Aufruf „A Race we must win. Climate action now!“.

Herrmanns und Wolfers Buch ist ein packender Bericht von der Schönheit und Unbarmherzigkeit der Natur, vom Über-sich-hinaus-Wachsen unter schwersten Bedingungen, von Kameradschaft, der Konfrontation mit eigenen Ängsten und der menschengemachten Veränderung der Meere. Herrmann und Wolfers liefern damit nicht nur eine packende Beschreibung der härtesten Regatta der Welt als sportliche Herausforderung und als einem der letzten großen Abenteuer, sondern auch ein Plädoyer für einen sensibleren Umgang mit der Welt, die uns umgibt. Ob man nun am Strand sitzt oder nicht – es ist ein Buch, das den Blick auf das Meer weitet und es nicht nur als Arbeits- oder Urlaubsort zeigt, sondern auch als Mutter, Motor und Maschinenraum des Lebens.

Titelbild

Boris Herrmann / Andreas Wolfers: Allein zwischen Himmel und Meer.
C. Bertelsmann Verlag, München 2021.
318 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783570104545

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