Tungjatjeta heißt (nicht) Grüß Gott

Kaltërina Latifi skizziert mit „Tungjatjeta“ Prosaszenen einer kosovarischen Jugend

Von Klaus HübnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hübner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer „tungjatjeta“ sagt, sagt eigentlich „tu ngjat jeta“. Die Großmutter meint: „So ist es, aber daran denkt keiner mehr, es ist nur noch, ja, wie soll ich sagen? Wie wir heute eben sagen, guten Tag, grüß Gott, so sagt man manchmal tungjatjeta, es will nicht mehr so viel bedeuten“. Manche sagten nur noch „tung“. Das erfährt man in der dem Buch seinen Titel gebenden Erzählung, die die 1984 in Priština im Kosovo geborene, heute in England, Deutschland und der Schweiz lebende Kaltërina Latifi zusammen mit vier weiteren Prosaszenen einer Jugend kürzlich vorgelegt hat. Das Albanische bzw. Kosovarische spielt durchaus eine Rolle – geschrieben aber wurden die Szenen auf Deutsch. Und da sie von einer promovierten Germanistin stammen, die unter anderem zum mehrperspektivischen Erzählen bei E.T.A. Hoffmann publiziert hat, ist es ein ziemlich raffiniertes und reflektiertes Deutsch, mit dem man hier konfrontiert ist. Ganz abgesehen davon, dass Sprache – genauer gesagt: Sprachen – ein zentrales Thema dieser Prosaskizzen ist. Indem ein mehrsprachiges weibliches Ich Schlüsselszenen seiner Jugend verschriftlicht, findet es zu seinem ganz eigenen Ton – und damit zu sich selbst.

Immer wieder geht es um existenzielle Angst und um deren Überwindung. Gleich zu Beginn etwa im Kurztext Fisch im Fluss, aber auch in der Tungjatjeta-Geschichte, die einige Hauptthemen des Büchleins umkreist: die herkömmlichen und die wünschenswerten Genderrollen, den per se problematischen Begriff „Heimat“, wozu auch das Weggehen gehört – „Ich alleine entscheide über meine Heimat“ –, sowie das Schreiben und die Schrift. Keineswegs ungewöhnliche Themen in vielen Romanen und Erzählungen, die man zur „Migrationsliteratur“ rechnen kann. Aber Kaltërina Latifis Vertrautsein mit den Feinheiten modernen Erzählens macht ihre Texte dann doch zu etwas Besonderem. Wenn die Großmutter eine Episode aus der Jugend des Mädchens erzählt, wird diese eingeleitet mit dem Satz „Eine andere Begebenheit: die hätte auch ich erzählen können“ – und schon ist eine produktive Verstörung da, ein Bewussthalten der Relativität alles Gesagten.

Genau das prägt auch die längste dieser Prosaszenen, Unterwegs zur Insel, in der das beliebte Motiv der Insel als Nicht-Ort, als U-Topos, als Utopie aufgenommen wird: „Eine Insel, die ich nie zuvor gesehen hatte. Wie oft aber hatte ich an sie gedacht“. Auf diese namenlose, offensichtlich vor der englischen Südküste gelegene Insel hat sich das weibliche Ich gerettet, um eine frühere Liebesbeziehung zu einem nicht nur intellektuell dominanten Akademiker aufzuarbeiten, sich dabei vor allem mit dessen „Sprachtyrannei“ auseinanderzusetzen und diese belastende Vergangenheit schließlich zu überwinden. Wie hier, manchmal an der Grenze zur Satire, eine umfassende, im Wesentlichen sprachlich vermittelte weibliche Selbstentfremdung geschildert wird, zu deren literarischer Formung Ingeborg Bachmann und ihr Buch Franza entscheidend beigetragen haben, das darf man getrost meisterlich nennen. Einmal heißt es:

Genau genommen haben wir uns ja insgeheim gehasst. Wir haben uns nichts gegönnt. Die Eifersucht hat uns innerlich zerfressen … Die Schlüsselstelle war die jeweilige Wunde. Er erkannte (wohl zum Teil auch zurecht) die Wunde eines jeden […] Ich habe Jahre benötigt, um zu verstehen, wie er es machte, oder soll ich sagen: wie es ihm geschah? […] Er sah alles, durchschaute alles, nur sich selber nicht. 

Wie sprachliche „Selbstzensur“ Menschen vernichten kann und wie man sich durch die Besinnung auf Mehrsprachigkeit, Dialektausdrücke und Sprichwörter vielleicht davor bewahren kann, wird in diesem grandios dichten Text im Detail vorgeführt.

Ein Vehikel zur Befreiung und Selbstermächtigung des Ich kann auch der Radsport sein – „Sie fuhr auf dem innersten Kettenblatt“, liest man in Auf der Fahrt, und selbst der gemächlichste E-Biker wird gepackt werden von der Intensität dieser vierten Prosaszene. Um die Schmerzen des Abschieds vom früheren Leben, um Überwindung und Neuankunft kreisen die bisweilen traumverlorenen Sätze der letzten Erzählung mit dem programmatischen Titel Um’s Leben laufen, die das ewige Migrationsthema vom Fremden und vom Eigenen prägnant an den unverrückbaren Bräuchen durchspielt, an denen der kosovarische Großvater eisern festhielt. Neunzig Prosaseiten nur, aber neunzig Seiten, die manch dicken Roman locker aufwiegen. 

Titelbild

Kaltërina Latifi: Tungjatjeta. Prosaszenen einer Jugend.
Löcker Verlag, Wien 2022.
90 Seiten, 14,80 EUR.
ISBN-13: 9783990981207

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch