Drucke mit Drive

In „Knoten und Bäuche“ erkundet Jasmin Meerhoff, auf welcher Wellenlänge die Lesbarkeit von Büchern liegt

Von Andreas UrbanRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Urban

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Faszinierende der experimentellen Literatur bestand schon immer im konkreten Durchspielen ihrer Themen. Nie erzählt sie einfach nur. Vielmehr führt sie ihre Anliegen konkret vor Augen, unterzieht sie einem Testverfahren: das Material der Sprache kann selbst zum Thema werden. Und manchmal lässt sich beobachten, wie aus Literatur im wörtlichen und im allerbesten Sinne die Kunst der Sprache wird. So wie in Jasmin Meerhoffs Glücksfall Knoten und Bäuche aus dem erfrischend innovativen Schweizer Verlag edition taberna kritika, der sich um die Veröffentlichung zahlreicher experimenteller Texte verdient macht.

Worum geht es der Freiburger Künstlerin und Autorin Jasmin Meerhoff? In diesem Buch sind es vor allem zwei Dinge: Der Bildstatus der Sprache (Drucke) und das vitale Entstehen von Lesbarkeit, von Sinn und Bedeutung (Drive). Dabei arbeitet sie mit computergestützten Verfahren, womit sie sich laut eigener Aussage in einer Tradition mit Nanni Balestrini und Allison Parrish weiß.

Den Bilderwert der Wörter macht sich Meerhoff zu eigen, da sie in Knoten und Bäuche mit gedruckten Büchern als Quelltexten arbeitet. Die Texte, die sie in allen Kapiteln collagiert (zunächst schneidet und anschließend neu zusammensetzt), sind gescannte Buchseiten, wie Meerhoff im Nachwort schreibt. So gesehen handelt es sich nicht um Texte, sondern um Bilder. Folgerichtig geht Knoten und Bäuche auch auf die Arbeit mit einem Bildbearbeitungsprogramm zurück. Souverän rückt die digitale Literatur Jasmin Meerhoffs beides, die Visualität der Sprache und das Medium Buch, in den Fokus.

Knoten und Bäuche ist in fünf Kapitel eingeteilt, wobei sogleich der symmetrische Aufbau ins Auge springt. Sogenannte Außenkanten übernehmen als Kapitel Nummer eins und fünf rahmende Funktion. Die weiter im Buchinneren liegenden Kapitel zwei und vier haben den Titel Wie die liegen. Die Mitte des Buches bildet das Kapitel drei namens Schnittbereitung, ein Titel, der folglich nur einmal vergeben wurde.

Knoten und Bäuche ist auf eine Mitte hin zentriert. Ein Kern, der sich als Unikat lesen lässt, als etwas Individuelles. Schaut man sich den Aufbau der Kapitel Außenkanten I (Kapitel 1) und Außenkanten II (Kapitel 5) an – ebenfalls Kapitel, in denen alles auf eine imaginäre Mitte zusteuert – dann findet man denselben Aufbau auch auf Mikroebene. 

Das erste Kapitel mit dem Titel Außenkanten I verarbeitet den Erstdruck Das Unbehagen in der Kultur von Sigmund Freud aus dem Jahr 1930, wobei jeweils ein Teil der Originalseite gelöscht wurde. Ein Viertel der linken und ein Viertel der rechten Blattseite bleiben erhalten. Anschließend werden zwei verschiedene Seiten aus Freuds Buch zu einem einzigen Text zusammengesetzt.

Gleich in diesem ersten Kapitel drängt das rein optische Erscheinungsbild der remixten Texte in den Vordergrund. Es sind Seiten, die mit ihrer schönen Gestalt überzeugen. Die gesampelten Textbilder lassen sich als schlanke Säulen beschreiben, bekrönt von Kopfzeilen – fast schon klassizistisch zu nennen! – mit zufälligen Resten von Kapitelüberschriften und Seitenzahlen aus dem Original. Die Remixes sind jeweils in der Mitte einer Buchseite von Knoten und Bäuche platziert. Somit ergibt sich an ihren eigenen Kanten links und rechts viel weißes, unbedrucktes Papier: Die Außenkanten betonen ihre Außenkanten. Sie stellen auf den ersten Blick auch keinerlei Herausforderung an die Wahrnehmung dar. Es überwiegt Transparenz, die Texte präsentieren sich in aller Offenheit. Entscheidend bleibt jedoch bei aller Bildlichkeit das Zusammenführen unterschiedlicher Zeilen verschiedener Buchseiten zu einer einzigen Zeile, die eine neue Lesbarkeit in der Machart eines dadaistischen Textes hervorbringt (Kurt Schwitters gehört zu den Vorbildern Jasmin Meerhoffs).

Wie werden in den Außenkanten nun aber Entwicklung, Zeit und Bewegung thematisiert? Meerhoff hat den Schnitt der ersten Seite des Originals mit dem Schnitt der letzten Seite zusammengefügt, danach einen Ausschnitt der zweiten Seite mit einem der vorletzten Seite der Buchvorlage verbunden etc. Somit strömt der Werkprozess in ihrer Veröffentlichung stets nach innen: Irgendwann kommt es zu einem imaginierten Zusammentreffen in der Mitte des Quelltextes von Freud. Schaut man sich darüber hinaus das Buch als Ganzes an, sieht man, dass die beiden Kapitel Außenkanten I und Außenkanten II fortlaufend arrangiert sind. Treffen am Ende des ersten Kapitels die Seiten 22 und 119 von Freuds Unbehagen aufeinander, geht es in der Fortführung des Kapitels am Ende des Buches mit den Seiten 28 und 113 weiter. So entwickelt Meerhoffs Buch den Drive, den es selbst zeigt und vollzieht.

Außerdem betont Meerhoff Reihung und Entwicklung beziehungsweise die Thematik von Rand und Mitte dadurch, dass in der ersten Buchhälfte die linken Kanten, in der zweiten jedoch die rechten Kanten als Arbeitsmaterial dienten. Damit hebt sie die Konzeption von Anfang und Ende eines Buches hervor und betreibt ein Spiel mit der Leserichtung. Der gewöhnliche Umgang mit dem Medium Buch, es von vorne nach hinten zu lesen, sowie der klassische Aufbau von Anfang, Mitte und Ende eines Sachtextes oder einer Narration bleiben sichtbar. 

Die weiter innen liegenden (und ebenfalls gedoppelten) Kapitel Wie die liegen haben den Text eines Physikers zur Grundlage, und zwar die Untersuchungen über die Ausbreitung der elektrischen Kraft von Heinrich Hertz aus dem Jahr 1894. An der gemeinsamen Auswahl von Freud und Hertz fällt das psychophysische Grundmuster der Avantgarde auf, die nur zu gerne damit spielt, dass Inhalte (Qualitäten) in unserem Bewusstsein von messbaren Größen wie Intensität und Reizstärke des Materials (Quantitäten) abhängen.

Das Schriftbild dieser Kapitel ist für die Wahrnehmung nicht ganz so eingängig wie die Textsäulen der Außenkanten. In Wie die liegen I und Wie die liegen II wird nicht auf der Ebene von Seiten, sondern auf der Ebene von Zeilen gearbeitet. Die Zeilen der Buchvorlage werden geschnitten und jeweils in 33 neu komponierten Zeilen wiedergegeben. Die Textwälder, die so entstehen und Lesbarkeit unter verschärften Bedingungen austesten, sind eine Herausforderung. Trotzdem sind immer wieder aufgrund visuell angeordneter Leerzeichen der Textschnitte grafische Muster erkennbar. Wie zum Beispiel jene Zickzacklinie, die sich durch das Schriftbild des Textes auf dem Cover zieht. Ob Jasmin Meerhoff hierbei an die Kurvenlinie eines Messgerätes dachte, die durch ein Textfeld verläuft?

Gleich im ersten Text von Wie die liegen I schälen sich prozessartig die Wörter „Knoten“ und „Bäuche“ aus dem zerschnittenen Ursprungstext von Heinrich Hertz heraus. Das ganze Kapitel ist eine drucktechnische, collagierte Variation der Phrase „Knoten und Bäuche“. Hinzu kommt der Teilsatz „wie die liegen“. Auffällig: Das Wort „wo“ wird in vielen dieser Schriftbilder ebenfalls erkennbar, sodass ein „wo die liegen“ lesbar wird. Ein Hinweis darauf, in einem messbaren Wo das Entstehen von Bedeutung verorten zu wollen?

Heinrich Hertz hatte sich zum Ziel gesetzt, das Vorhandensein elektromagnetischer Wellen in Messverfahren nachzuweisen. Dabei fand er in Experimenten heraus, wo die sogenannten „Knoten“ und „Bäuche“ liegen, worunter die beiden Extrempunkte schwingender Wellen zu verstehen sind. Nur der Bereich, der dazwischen liegt, liefert messbare Ergebnisse. Meerhoff adaptiert das Verfahren rund um die beiden Grenzbereiche von Knoten und Bäuchen und experimentiert konkret mit der Lesbarkeit bzw. mit dem Rahmen unserer sprachlichen Wahrnehmung. Nur innerhalb dieses Rahmens entsteht Text. Die (physischen) Wellen sind die (psychischen) Schwellen unserer Wahrnehmung.

Der Kern des Buches, das Kapitel Schnittbereitung, zeigt dem ersten Blick schließlich eine Kombination der beiden Verfahrensweisen der Doppelkapitel Außenkanten und Wie die liegen: Es sind collagierte, der Länge nach geschnittene Textsäulen wie in Außenkanten. Diese sind nun aber zu mehrfach unterteilten Säulen arrangiert, nehmen eine ganze Buchseite ein und folgen damit dem undurchdringlichen Formprinzip von Wie die liegen. Neu gemixt wird auch die Autorschaft. Texten von Hertz und Freud wurden in der Schnittbereitung Auszüge aus dem Kapital. Kritik der politischen Ökonomie von Karl Marx an die Seite gestellt. 

Mit diesem Mix forciert Meerhoff ihre Arbeit. Auch hier wird – das ist entscheidend – beim Collagieren Zeile an Zeile gesetzt. Gemünzt auf die Poetik des gesamten Buches bringt die Autorin ihre Intention im Nachwort auf den Punkt: „Beim Zusammensetzen reihen sich Streifen und Schnipsel wieder auf Zeilen ein und suchen hier Anschluss.“ Beschrieben wird damit der Prozess, in digital verarbeiteten Texten eine völlig neue Lesbarkeit herzustellen.

Bei einem Knoten, so erläuterte die Autorin jüngst in einem Interview, „treffen Stränge aufeinander“. Das Ergebnis seien stabile Verbindungen. Die Kanten als Knoten, ließe sich folgern. Und Bäuche seien „Wölbungen, die auf einen Inhalt verweisen“, auf etwas Tieferes, Inneres, über dem die Wölbung sich aufspanne. „Das Buch als Bauch“, führte Meerhoff weiter aus.

In diesem Sinne bilden die Kapitel dieses Buches mit ihren neu zusammengesetzten Zeilen und Textsäulen die Knoten. Und die gesamte Buchkonzeption mit ihrer Mitte Schnittbereitung und den Außenkanten, die imaginär auf die Mitte beziehungsweise das Innere von Freuds Unbehagen zulaufen, ist der Bauch.

So ist das Buch ein Experiment in Sachen Lesbarkeit und erkundet die Wellenlänge von Buchtexten. Bedeutung liegt hier nicht im Buch selbst, Inhalte sind etwas sehr Individuelles. Sie entstehen im freien und assoziativen Mitspielen während der Lektüre. Und tatsächlich kann es richtig Spaß machen, die Nichtwörter Buchstabe für Buchstabe zu lesen, sich durch den Dschungel an- und abgeschnittener Phrasen zu arbeiten. Die Belohnung liegt in einem Mehrwert, den die erzählende Literatur nicht immer erbringt.

Und noch in anderer Hinsicht macht das Buch Lust auf mehr. Knoten und Bäuche ist nichts weniger als ein Appetizer. Erstens, weil es nur eine Auswahl der von Jasmin Meerhoff neu codierten Texte zeigt. Zweitens, weil Drucke und Bilder bisweilen in einer Galerie gezeigt werden möchten. 2019 stellte die Autorin bereits Arbeiten unter dem Titel 300 Romantik im Showroom ihres Schweizer Verlages aus. Knoten und Bäuche funktioniert fast wie ein Ausstellungskatalog. Dessen Drucke wünscht man sich ebenfalls in einer Galerie zu sehen.

Titelbild

Jasmin Meerhoff: Knoten und Bäuche. Mit Anmerkungen der Autorin.
edition taberna kritika, Bern 2022.
84 Seiten, 13,00 EUR.
ISBN-13: 9783905846652

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