Das Künstlerhaus als Gesamtkunstwerk

Das kompakte Standardwerk „Im Tempel des Ich“ von Margot Th. Brandlhuber und Michael Buhrs spürt dem weltweiten Netzwerk von Künstlerhäusern nach

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der 34-jährige Maler, Grafiker und Bildhauer Franz von Stuck entwarf 1897/98 mit seiner Villa auf der Isaranhöhe in München in freier schöpferischer Interpretation Residenz und Künstleratelier zugleich. Der einstige Müllersohn war 1893 zum Protagonisten der Münchner Secession geworden, wurde mit Ausstellungen in Europa und Amerika bedacht, war als Professor der Münchner Akademie der Lehrer von Kandinsky, Paul Klee und Josef Albers.

Margot Th. Brandlhuber, die Leiterin der Sammlungen des Museums Villa Stuck, nennt das Haus des „Malerfürsten“, das Elemente aus Antike und Byzanz, Orient und Hochrenaissance mit der Moderne des späten 19. Jahrhunderts verbindet, „Charakterstudie und höchster Ausdruck seines künstlerischen Ich…“. Über das Vestibül gelangt man in die Repräsentationsräume: den Empfangssalon mit kostbarem Goldschmuck, prunkvollem Mobiliar und einer virtuosen Lichtregie, den Musiksalon, in dem Stucks synästhetische Farbklänge die im Symbolismus beschworene Macht der Musik widerspiegeln sollen, und – als Höhepunkt – das Malatelier; dieses war zunächst mit einem Orpheus-Altar, dann aber mit dem ‚Altar der Sünde‘, mit Strucks Skandalbild des Jahres 1893, einer Symbiose von Femme fatale mit biblischer Eva, ausgestattet.

1914/15 erweiterte Stuck die Villa um ein repräsentatives Ateliergebäude – mit großem Maleratelier im Obergeschoss und Bildhaueratelier im Erdgeschoss. Auf der Rückseite befindet sich ein Künstlergarten, der pompejanische Vorbilder mit Kunstwerken des 19. Jahrhunderts verbindet. Mit diesem einzigartigen Gebäudeensemble aus Villa, Neuem Atelier und Künstlergarten schuf Stuck sich ein Gesamtkunstwerk, in dem sich Leben, Architektur, Bildhauerei, Malerei, Kunstgewerbe, Design, Musik und Gartenkunst zu einer Einheit zusammenfügen. Als Anregung dienten ihm dabei auch internationale Vorbilder wie die Häuser der Antikenmaler Lawrence Alma-Tadema und Frederic Leighton in London.

Und das nun ist die Idee dieses monumentalen Bandes Im Tempel des Ich, das nun schon in der 2. Auflage erscheint, 20 Künstlerhäuser in Europa und Amerika, zwischen 1800 und 1948 in einem ganzen Netzwerk vorzustellen, nicht nur als Ort, in dem Künstler lebten und arbeiteten, sondern als Gesamtkunstwerk, das sie nach eigenen Ideen geformt und gestaltet haben: Eine Einheit von Arbeits- und Wohnheim, von Leben, Kunst, Architektur, eine raumgreifende, gleichsam multimediale Inszenierung der eigenen Künstlerpersönlichkeit.

Historische und aktuelle Aufnahmen dieser Künstlerhäuser, Skizzen und Pläne, die Struktur und Zuschnitt der Häuser nachvollziehbar machen, die Abfolge und Einrichtung der Räume, das landschaftliche Ambiente, auch Arbeiten der Künstler selbst vermitteln einen höchst visuellen Eindruck.

Seit der Renaissance sind die Künstlerhäuser sichtbares Zeichen des Berufsstandes wie auch des gesellschaftlichen Anspruchs und Erfolges. Sie sind nicht nur Ausdruck individueller Selbstverwirklichung und persönlicher Freiheit, sozusagen „architektonische Selbstporträts“, sondern spiegeln zugleich die Ideen und Stile der jeweiligen Epoche wider.

Die Häuser sind gebaute Autobiografien, ‚zweite Haut‘ und geistiger Kosmos herausragender Persönlichkeiten und zugleich Kulminationspunkte der kunst- und geistesgeschichtlichen Entwicklungen ihrer Epoche[,]

schreibt Margot Th. Brandlhuber, die zusammen mit Michael Buhrs, dem Direktor des Museums Villa Stuck, als Herausgeberin dieses Bandes zeichnet. Als institutionalisierte Künstlerhaus-Museen oder private Stiftungen repräsentieren die Künstlerhäuser, die erhalten geblieben sind, heute das Werk der Künstler, sind gleichsam ihr künstlerisches Hauptwerk, das ihrem Leben und Schaffen die äußere Hülle gegeben hat.

Welch breite Palette die Folge der Künstlerhäuser ausmacht, sollen zwei Architekturbauten widersprüchlichster Art bezeugen. Bekannt ist Ferdinand Chevals Traumpalast „Palais Idéal“ in dem südostfranzösischen Ort Hauterives, an dem der Autodidakt 33 Jahre lang (1879-1912) gearbeitet hat, ein Phantasiegebilde von Höhlen, Grotten, Muscheln, Steinskulpturen, das dann zu einer der heiligen Stätten der Surrealisten wurde. Hindutempel, ägyptisches Grab, mittelalterliche Burg, Moschee, Schweizer Chalet und Turm der Barbarei sind hier als Kreationen des Palastes nachempfunden worden. Von ganz anderer Art ist dann wieder die Chinati Foundation, ein Künstlermuseum in Marfa, Texas, das ein Areal von 140 Hektar mit mehr als 30 Baracken früherer Munitionsdepots und Flugzeughangars mitten in der Wüste umfasst. Der US-amerikanische Minimalist Donald Judd wollte hier 1973 seine Vorstellungen von Kunst und Architektur verwirklichen, erwarb damals zwei alte Flugzeughangars, um in Marfa zu leben und seine Kunst und die befreundeter Künstler zu zeigen. Seine Skulpturen, seine Architekturbauten sollten mit der Landschaft in einen intensiven Dialog treten.

Als Künstlerwohnhaus des 19. Jahrhunderts schlechthin – es war Vorbild für den Jugendstil bis hin zur Moderne – gilt das Red House in Bexleyheath, Kent, das William Morris zusammen mit Philip Webb baute. 1859 fertiggestellt, steht es im Zusammenhang mit der von Morris begründeten Arts and Craft Bewegung: Abgelehnt wurden industrielle Entwürfe und Architektur, man strebte eine Rückkehr zur individuellen Handarbeit an, der Handwerker galt als eigentlicher Künstler. Das locker gegliederte Gebäude ist im Innern bewusst rustikal und weitgehend ohne Dekor belassen worden. Morris‘ Designideen erhielten hier erste Gestalt, bevor er sie dann in einer 1861 mit Gleichgesinnten gegründeten Firma im Großen umsetzte.

Als Begründer des heutigen, als typisch schwedisch angesehenen Wohnstils gilt Carl Larsson. 1888 hatte der Schwiegervater ihm und seiner Familie „Lilla Hyttnäs“ in Sundborn bei Falun geschenkt. Es war wirklich nur eine „kleine Hütte“, und bis 1912 erfolgten bauliche Veränderungen und eine eigenwillige Innengestaltung, die damals schon als einzigartig empfunden wurde. Diese den persönlichen Vorstellungen von Wohnen und Arbeiten, Schönheit und Nützlichkeit angepassten Prinzipien verbinden Lilla Hyttnäs und Red House miteinander.

In dem 1909 erschienenen Buch Das Haus in der Sonne hat Larsson mit Texten, Zeichnungen und Aquarellen das Leben in diesem Haus mit seiner neunköpfigen Familie geschildert. Viel Licht, viele Farben, viele fröhliche Details kennzeichnen den überwiegend von Karin Larsson als Designerin kreierten Einrichtungsstil. Ein großer Teil der Textilien und Möbel wurde von ihr selbst entworfen. Nachhaltig sind das schwedische Innendesign und Familienleben seit Ende des 19. Jahrhunderts durch dieses Künstler-Duo geprägt worden.

Dagegen wurde die 1902 fertiggestellte Villa des Symbolisten Fernand Khnopff in Brüssel an der Avenue des Courses, ein Gebäude im Sezessionsstil mit exzentrischen Designs, 1938-1940 abgerissen, um einem Wohnblock Platz zu machen. Sie war gleichsam eine Fortsetzung der exzentrischen Persönlichkeit des Künstlers, auch in seinen fotografischen Darstellungen, die durch ein besonderes technisches Verfahren das Übernatürliche, Dekadente, Kulthafte der Einrichtung herausstellten. Wie seine Bilder von angsterregender Unberechenbarkeit sind, Neurosen und Ängste als Abgründe der Seele widerspiegeln, so verwandelte Khnopff seine Villa in einen Kunsttempel mit religiöser Ausstrahlung.

Einen ganz anderen Charakter hat die Pariser Wohnung des symbolistischen Malers Gustave Moreau, die dieser 1895 zu seinem Atelier und zum Museum seiner Werke umbauen ließ. Bis heute ist diese ursprüngliche, vom Künstler entworfene Museumsgestaltung erhalten geblieben. Die Ateliers im zweiten und dritten Stock, getrennt durch eine prächtige Wendeltreppe, zeigen die Hauptwerke des Künstlers. Seine Sammlung umfasste allein 25 000 Stücke. Als Kolorist hatte er großen Einfluss auf seine Schüler und späteren fauvistischen Maler Henri Matisse und Albert Marquet und vor allem auf Georges Rouault, der 1918 Kurator des Museums wurde. Sein überlieferter Appell an seine Schüler: „man muss die Farbe denken, eine Vorstellung von ihr haben!… Die Farbe muss gedacht, geträumt, imaginiert werden“.

Als sich der französische Maler Claude Monet in den 1880er Jahren in dem Dorf Giverny bei Vernon, 80 Kilometer von Paris entfernt, niederließ und seinen Garten anzulegen begann, schien das wie ein Rückzug aus dem künstlerischen Leben. Aber dieser Garten mit seinen Treibhäusern war für den alternden Künstler Monet kein Ort der Augenfreude allein, sondern ein Laboratorium der Moderne, in dem er in hartem, angestrengtem Ringen über drei Jahrzehnte seine „Studien- und Forschungsarbeit“ betreiben sollte. Der Garten mit seinen exotischen Seerosenarten und Wasserpflanzen, den Iris, den Trauerweiden und der grünen glyzinienüberwucherten japanischen Brücke lieferte dem Künstler im Wechsel der Tages- und Jahreszeiten, von Wetter und Lichtverhältnissen, die unerschöpflichen Motive für seine bevorzugten Bilder der Spätzeit. Er wurde sein Kunstwerk, das eine ununterbrochene Serie neuer Kunstwerke hervorrief. Begünstigt durch ein langes Leben, vermochte Monet die letzten Konsequenzen aus seiner eigenen Malerei zu ziehen. Er reihte sich, der einstige Begründer einer schon längst als überlebt geglaubten Bewegung, selbst in die Schar der großen Anreger und Exponenten der Moderne im 20. Jahrhundert ein.

Die „Nymphéas“, wie er sie poetisch nannte, die Bilder der Seerosen, an denen er in verschiedenen, systematisch aufgebauten Phasen und Teilserien seit 1897 arbeitete und die er 1900 erstmals ausstellte, wurden zum künstlerischen Leitmotiv der späten Jahre. 1927, fast ein halbes Jahr nach seinem Tode, wurden die Seerosenbilder – gemäß seinem Vermächtnis – in zwei eigens geschaffenen ovalen Sälen unter der Orangerie im Pariser Tuileriengarten der Öffentlichkeit übergeben. Nach den Plänen des Malers angeordnet, beschreiben sie in blauen, hellroten und violetten Farbschleiern den Kreislauf der Zeiten im Spiegel des Seerosenteiches von Giverny. Sie wurden auch als die „Sixtinische Kapelle des Impressionismus“ bezeichnet.

Giovanni Segantini dagegen, ein Meister der Hochgebirgslandschaft, der eine eigene Version der pointillistischen Maltechnik entwickelte, durch die er das ungebrochene Licht der Hochgebirgswelt wiedergeben und die naturalistische Wirkung seiner Bilder steigern konnte, hegte die Idee, das auf einem Felssporn liegende Schloss Belvedere in Majola, im Engerdin, als Künstlerresidenz, als ’steingewordenes Ich‘ zu beziehen. Sein plötzlicher Tod – er starb 1899 im Alter von nur 41 Jahren – vereitelte diese Pläne.

Als ein Museum und expressionistisches Gesamtkunstwerk präsentiert sich die zwischen 1911 und 1950 erbaute Kunststätte Johann Michael und Jutta Bossard in Wiedenhof nahe Jesteburg, im Norden der Lüneburger Heide. Deren Architektur orientierte sich am Backsteinexpressionismus. Bossard formte Ziegelsteine mit geometrischen Mustern und fügte sie zusammen mit keramischen Plastiken in die Fassade des Gebäudes ein. Er schuf eine farbig expressive Ausmalung, die sämtliche Wandflächen überzieht. An der Ost- und Westwand befinden sich je zwei großformatige Triptychen, in denen Bossard seine theosophisch-anthroposophischen Anschauungen Bild werden ließ. Der Vorwurf, dass er „völkisch“ orientiert gewesen sei, was auch antisemitische Züge beinhalte, ist bisher nicht entkräftet worden.

Der Begriff Merz gilt als Synonym für Kurt Schwitters, den Dichter der Anna Blume, den Maler, der seine Bilder nagelte, klebte, färbte, der alles Überraschende zusammenbrachte und alles verschmolz, was er als Material in die Hände bekam. Merz wurde vom Künstler selbst sowohl für sein Oeuvre als auch für seine Person wie ein Markenzeichen verwendet. Zugleich verkörpert Merz eine Art künstlerischer Weltanschauung, deren Ziel in der Verwirklichung des so genannten „Merzgesamtweltbildes“ besteht und als Durchdringung von Kunst und Leben bezeichnet werden kann. Mit dem „Merzbau“ in Hannover, der um 1923 bis Anfang 1937 permanent im Wachsen begriffenen architektonischen Plastik (oder begehbaren Collage), die die verschiedenen Kunstarten Malerei, Assemblage, Skulptur und Architektur zu einer Einheit zusammenfasste und zugleich Arbeits- und Lebensraum des Künstlers war, ist Schwitters der Verwirklichung seiner Vorstellung vom Merz-Gesamtweltbild wohl am nächsten gekommen. Als eine Art Schrein konstruiert, der sich über zwei Stockwerke seines Hauses ersteckte und bis in den Keller hinunterreichte, eine Raumcollage, deren Kammern, nach außen wuchernden Höhlen, vollgestopft mit Erinnerungen waren. Bis zuletzt hatte Schwitters in Hannover an seinem „Merzbau“ gearbeitet; von den Nationalsozialisten als „entartet“ verfemt, emigrierte er 1937 nach Norwegen und später nach England.

Der Wunsch der US-amerikanischen Malerin Georgia O’Keeffe nach offenen Räumen fand seine Erfüllung in den spirituellen Räumen New Mexicos. Von ihrem 1940 erworbenen Rancho de los Burros in Abiquiú aus hatte sie den Blick auf einen Tafelberg, der ihr als häufiges Motiv diente. In diesem Zufluchtsort, in dem sie sich inspirieren lassen konnte, lebte sie bis 1984. Das traditionelle Lehmgebäude spiegelt eine Mischung aus Baustilen der amerikanischen Ureinwohner und der spanischen Kolonialzeit wider, ihr Zuhause hatte die Malerin ausgesprochen modern gestaltet, mit viel natürlichem Licht und auch mit Steinen und Knochen aus ihrer Sammlung dekoriert. Das O‘Keeffe Home and Studio wurde 1998 zum National Historic Landmark erklärt und ist heute Teil des Georgia O’Keeffe Museums in Santa Fé.

Architektur, Innendekoration und Landschaftsgestaltung bilden eine Einheit bei der Idee vom Gesamtkunstwerk. Wir haben es hier mit Künstlerinenn und Künstlern zu tun, die nur im Zusammenhang mit ihren Häusern betrachtet und verstanden werden können. Denn ihre Häuser waren ihr Lebenswerk, dessen Fertigstellung Jahrzehnte bedurfte – und so verkörpern sie ihr Lebensgefühl, ihre Weltsicht, ihre geistige Umwelt, ihre Kunstauffassung, ihre Wunschvorstellung eines „irdischen Paradieses“. In ihnen wurde nicht nur gelebt und gearbeitet, sie sind von Grund auf neu erschaffen worden.

Titelbild

Margot Th. Brandlhuber / Michael Buhrs: Im Tempel des Ich. Das Künstlerhaus als Gesamtkunstwerk. Europa und Amerika 1800-1948.
Hatje Cantz Verlag, Ostfildern/ Ruit 2022.
374 Seiten, 50,00 EUR.
ISBN-13: 9783775751865

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