Ein Abgrund mit Namen Familie, ein Aufbruch im Namen der Freiheit

In „Ein rostiger Klang von Freiheit“ nimmt Toril Brekke uns mit ins unruhige Oslo der späteren 1960er Jahre

Von Günter HelmesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Helmes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die u.a. auch als Übersetzerin und Kritikerin hervorgetretene norwegische Autorin Toril Brekke ist deutschsprachigen Lesern und Leserinnen schon seit Jahrzehnten als Verfasserin von Romanen, Erzählungen und Kinder- und Jugendbüchern bekannt – erinnert sei an Titel wie Linas Kinder, Elises TraumSaraDie Asche der VergangenheitDie Frauen vom FjordFür immer, deine AgnesKein Weg zurück? oder Vogeljunge und Goldberg.

Nun liegt, in der Übertragung ‚ihrer‘ Übersetzerin Gabriele Haefs, mit Ein rostiger Klang von Freiheit (im Original 2020 unter dem Titel Klangen av frihet erschienen) ein weiterer, ausgesprochen vielschichtiger und von Themen und Problemen geradezu wimmelnder Roman vor. Dieser Roman ist für mit der jüngeren deutschen Vergangenheit Vertraute nicht nur deshalb lesenswert, weil er das Thema „Kultur und Gewalt“ um eine weitere Facette bereichert. Er ist es auch, weil er hinsichtlich zahlreicher Alltagsbelange und Lebenspraktiken, aber auch mit Blick auf einen gesellschaftlichen ‚Baustein‘ wie das Schulsystem erkennen lässt, wie verschieden Norwegen und Deutschland (schon) vor einem guten halben Jahrhundert gewesen sind – bei allen Vorbehalten des Romans norwegischen Verhältnissen gegenüber zum Nachteil der damaligen Welt der Adenauer, Erhard und Kiesinger zweifellos.

Wie andere Brekke-Romane trägt auch Ein rostiger Klang von Freiheit Züge von All-Age-Literatur, wendet sich anscheinend gleichermaßen an Erwachsene wie an Jugendliche. Man hat es auch hier mit einem zwar von Kolportage nicht immer freien, dafür aber bspw. im Bereich Sexualität durch unverblümte, nie anzügliche Direktheit ‚punktenden‘ Mix aus verschiedenen Genres zu tun: zuvorderst Adoleszenz-, Familien-, Generationen- und Zeitroman. Doch lassen sich auch Elemente des Detektiv-, des Abenteuer- und sogar des Künstlerromans ausmachen. Darüber hinaus dürfte auch Autobiographisches der 1949 geborenen Autorin in das Erzählen eingegangen sein – aber bei welchem/r AutorIn bzw. welchem dessen/deren Gegenwart verhandelnden Roman wäre das nicht der Fall!

Der Roman, der nicht nur durch viel Lokalkolorit und ungezählte faits divers des Alltags, sondern auch durch die erzählerische Einbettung realhistorischer Personen wie Cornelis Vreeswijk, Kjartan Slettemark, Anders Lange oder Kjell Bondevik an Authentizität und Plastizität gewinnt, spielt hauptsächlich in den Jahren 1967/1968 in verschiedenen Stadtteilen Oslos. Es gibt aber auch Rückblicke in die 1950er Jahre, ja unter Stichworten wie „Mord“ und „Opiumhandel“ sogar in den spätkolonialen Senegal und in die Zeit um 1900, und eine hoch bedeutsame Episode spielt in Kopenhagen. Darüber hinaus wird von öffentlichen wie privaten Geschehnissen in Paris und vor allem in Bordeaux erzählt.

Im Zentrum des Romans steht die Ich-Erzählerin Agathe. Die, anfangs siebzehn, zum Schluss neunzehn Jahre alt, sieht gerade dem letzten Jahr auf einem „stockkonservativ[] geführten Gymnasium“ mit dem allerdings geliebten Schwerpunkt Musik entgegen – Agathe selbst spielt Saxophon, Flöte und Klavier. Dieses Gymnasium verlässt Agathe zu Romanbeginn klammheimlich, um an das gerade im Entstehen begriffene „Versuchsgymnasium“ zu wechseln, eine Art norwegisches Summerhill, das auch an die Bielefelder Laborschule der 1970er Jahre nach Ideen des großen Hartmut von Hentig erinnert. Hier fühlt Agathe sich, als wäre sie „unterwegs nach Amerika […], um die Welt zu erobern.“ Dass zu diesem „die Welt […] erobern“ neben diversen ‚Experimenten‘ (Stichworte u.a.: Jobs, Freizeitgestaltung, Wohngemeinschaft, Alkohol) auch Affären und One-Night-Stands gehören, manchmal mit wohl unausweichlichen unschönen Nebenwirkungen wie Katzenjammer oder Gonorrhöe und Filzläuse, versteht sich von selbst.

Weniger selbstverständlich ist es, dass mit Agathes Adoleszenz- und Familiengeschichte auch zahlreiche zeitgenössische politische, gesellschaftliche und kulturelle Fakten, Entwicklungen, Ereignisse, Persönlichkeiten, Gruppierungen, Diskurse etc. wie Hippies, Vietnamkrieg, Kapitalismus, Imperialismus, Martin Luther King, Rosa Parks, saurer Regen, Kunst-Debatten, Prager Frühling, Atomwaffen, Front National de Libération (FNL), Mai 1968 in Frankreich, Feminismus und Emanzipation verbunden werden. Deren Einbettung wirkt allerdings häufig eher oberflächlich und kulissenhaft, hier mangelt es an analytischer Durchdringung und folglich auch an erzählerischer Synthese bzw. konzeptioneller Stringenz.

Agathe sind neben der aus verschiedenen Gründen freilich kaum so zu nennenden Kernfamilie aus ‚Eltern‘ und einem jüngeren (Halb-)Bruder eine Vielzahl an Figuren zur Seite gestellt: Schulfreundinnen und -freunde, insbesondere Leon, mit dem sie eine tiefe, sich aller zwischenzeitlicher Zweifel zum Trotz bewährende Freundschaft verbindet, ihre in Frankreich verheiratet Tante Helene mit dem Ehemann Jacques und der Tochter Madelaine, die nah am Wasser gebaute und „christlichem Sozialismus“ wie „Pazifismus“ nahestehende Großmutter und der autoritäre, leicht aufbrausende, Frauen letztlich gering schätzende doch als Naturwissenschaftler und Universitätslehrer hoch gebildete Großvater mütterlicherseits, und andere mehr. Mit dem Musiker Philipp, damals doppelt so alt wie sie selbst, hatte Agathe ein Jahr vor Romanbeginn ein intimes Verhältnis.

Gleich die ersten Absätze des Romans sprechen einige zentrale Problemstellungen und Fragen an: Agathe ist, alterstypisch, unsicher darüber, wer sie eigentlich ist – gegen Romanende und nach einer ganzen Reihe von meist einschneidenden Erlebnissen, Erfahrungen und Entdeckungen wird es sogar heißen, dass sie sich rundweg „heimatlos“ fühlt. Zu Agathes Unsicherheit trägt bei, dass sie nicht einmal ahnt, wer ihr biologischer Vater und der ihres jüngeren, anfangs zwölf Jahre alten (Halb-)Bruders sein könnte. In ihrem Fall, so sieht sie es, ist es sicherlich nicht „Isaak, der Klavierstimmer, den Mama geheiratet hatte, als ich fünf war“, in Mortens Fall dieser Isaak wohl auch nicht.

Außerdem leidet Agathe darunter, dass die in vielerlei Hinsicht außergewöhnliche Mutter namens Veronica, eine Konzertpianistin und in den Worten der französischen Cousine Madelaine „eine echte Feministin“, in anderer Perspektive eine Frau, die „Männer in den Wahnsinn“ treibt, die Familie vor vier Jahren um des Bassisten Lennart willen von jetzt auf gleich und „ohne sich umzuschauen“ Richtung Kopenhagen verlassen hat. Seither haben sich Mutter und Kinder nicht wieder gesehen: „Ich hatte sie nie besucht, sie und Lennart; sie hatte uns nie eingeladen. […] Was für eine Mutter lässt ihre Kinder im Stich?“

Dennoch empfindet Agathe Mitgefühl und Sorge für ihre Mutter, wie es sie überhaupt ausmacht, dass sie stets allen Beistand leisten und Verantwortung übernehmen möchte. Das wird ihr allerdings übel entgolten, bekommt sie doch mal um mal von nahezu allen zu hören, dass sie ihren Nächsten nicht gerecht werde und Versäumnis auf Versäumnis häufe. Kann es da verwundern, dass Agathe zusehends vereinsamt und unter Selbstvorwürfen leidet? Sie kommt jedenfalls irgendwann zu der Einsicht, dass sie „hätte versuchen müssen, mich von der Verantwortung zu befreien, die nicht meine war.“

In prekären Verhältnissen dieser oder jener Art befindet sich aber nicht nur Agathe, sondern nahezu jedes Familienmitglied: Isaak, der so gerne der Vater von Agathe und Morten sein möchte und es wider besseren Gefühls auch glaubt zu sein, die Großmutter, deren Leben an der Seite ihres ganz anders ‚tickenden‘ Mannes sich nach und nach als Tragödie herausstellt, dieser Großvater, dem an seinem 75. Geburtstag ein lange überfälliges Waterloo ins Haus steht, Morten, der nach einer von den Kindern erzwungenen, katastrophisch verlaufenden Begegnung mit der Mutter in Kopenhagen in eine tiefe Lebenskrise gerät. In Lethargie verfallend, bringen ihn erst Freunde und das gemeinsame Musizieren – von herausragender Bedeutung ist hier das Album Sgt. Peppers Lonely Hearts Club Band der Beatles – wieder auf den Weg der Genesung. Die erfolgt schließlich, als er auf einer abenteuerlichen Reise mit dem Franzosen Alexandre seinen biologischen Vater ausfindig macht und von diesem angenommen wird.

Apropos Sgt. Peppers Lonely Hearts Club Band: Auffällig ist, dass im Roman neben Literatur – es fallen programmatische Namen und Titel wie u.a. B. Brecht (Dreigroschenoper), S. de Beauvoir (Das andere Geschlecht), J. Borgen (Lillelord), K. Hamsun, Njáls Saga, F. Sagan (Bonjour Tristesse) und W. Whitman (Leaves of Grass) – vor allem Musik in ihren unterschiedlichsten Ausprägungen eine zentrale Rolle spielt, nicht nur den Berufen etlicher Figuren nach, nicht nur als Therapeutikum für Morten, sondern insbesondere als universelle Lebensbegleitung für die Protagonistin Agathe. Ob Debussy, Gershwin, Grieg, Händel, Mozart, Orff, Rachmaninow, Smetana, ob B. Dylan, A. Franklin, B. Holyday (Strange Fruit), L. Lenya (Dreigroschenoper), B. McGuire (Eve of Destruction) oder O. Petersen: Zu leben bedeutet für Agathe ganz selbstverständlich auch Musik zu hören und zu machen.

Allerdings gilt auch hier wie hinsichtlich des eingeflochtenen Politischen, Gesellschaftlichen und Kulturellen, dass aufgrund unzureichender erzählerischer Integration bzw. Entfaltung häufiger die Gefahr des ‚Dekorativen‘ und des leerlaufenden Name- und Titeldroppings besteht, zumindest für diejenigen Leser und Leserinnen, denen sich beim Lesen konnotativ kein mehr oder minder umfangreicher Stellenkommentar einstellt.

Doch zurück zu Agathe und deren unterm Strich als bürgerlich-geordnet und wohlanständig geltenden Familie, die, wie sich im Fortgang des Romans immer deutlicher zeigt, mit „viel Pisskram“ belastet ist – was einer Untertreibung gleichkommt. Zwischen den Mitgliedern dieser Familie werden die „Entfernungen“ immer größer „wegen der vielen Geheimnisse, wegen allem, worüber nicht gesprochen werden durfte“.

Gesprochen wird dann doch noch, zunächst an einem Weihnachtsabend, dann auf dem 75. Geburtstag des Großvaters, von dem am Romanende erzählt wird und der tragödiengleich eine enorme Fallhöhe aufweist. Was dabei zu Tage kommt, lässt zunächst Verstörung und dann Entsetzen empfinden – ein Familienmitglied kosten die Enthüllungen sogar stante pede das Leben.

Die Enthüllungen am Geburtstag führen aber auch zu der Einsicht, dass man einer Reihe von verstreuten Textstellen, die die Autorin kunstvoll sozusagen als Fährte ausgelegt hat, mehr Aufmerksamkeit hätte schenken sollen. Dieser Einsicht zur Seite zu stellen ist wohl eine Weisheit, die Agathes Busenfreund Leon von sich gibt: „Wer die Kindheit einigermaßen heil überlebt, hat gesiegt“. 

Titelbild

Toril Brekke: Ein rostiger Klang von Freiheit.
Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs.
Stroux Edition, München 2022.
332 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783948065225

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