Antisemitismus als nationaler Identitätsbildner?

Peter Longerich untersucht in „Antisemitismus: Eine deutsche Geschichte“ wenig überzeugend Judenhass in Deutschland

Von Sylke KirschnickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sylke Kirschnick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Spezialist für NS-Geschichte und den Holocaust wird der Historiker Peter Longerich in Fachkreisen weithin geschätzt. Mit seiner Studie Antisemitismus: Eine deutsche Geschichte, Von der Aufklärung bis heute hat er 2021 einen Abriss der modernen Judenfeindschaft in Deutschland vorgelegt. In fünf große Kapitel mit bis zu sechs Abschnitten und mehreren Unterabschnitten gliedert Longerich die historischen Verläufe von 1780 bis in die jüngste Gegenwart, die für den Historiker bis zum rechtsextremen Attentat auf die Hallenser Synagoge im Oktober 2019 reicht, als der Autor, wie er einleitend bemerkt, sein Buchmanuskript abschloss. Es gibt einen hundertseitigen Anmerkungsapparat, eine umfangreiche Bibliographie und ein Personenregister, die belegen, dass zum Antisemitismus sehr viel geforscht worden ist.

Mit dem rechtsextremen Hallenser Anschlag sah Longerich die Tendenz seines Buches bestätigt, wonach Antisemitismus im Regelfall aus dem rechts- und liberalkonservativen Milieu käme, ausnahmsweise von links und noch seltener aus dem islamischen Milieu. Im Kern kreise Antisemitismus hierzulande, so Longerich, um deutsche Identität. Zwischen Antijudaismus und Antisemitismus will Longerich nicht unterscheiden, hält aber als Differenzierungsmerkmal an einem in Deutschland meist diffusen „Rasse“-Konzept fest, das wechselweise „Volk“ oder „Nation“ bezeichnen konnte. Das ist eine wichtige Klarstellung, auch wenn es Longerich nicht gelingt, das Ineinander religiöser, wirtschaftlicher, kultureller und politischer Elemente beim Antisemitismus zu erhellen. Überraschen kann das nicht, denn Longerich übersieht die Abstraktheit in den Vorstellungen vom Judentum bei aufgeklärten Geistern von Herder, Kant, Fichte oder Hegel über Ernst Moritz Arndt und Friedrich Ludwig Jahn bis hin zu Ludwig Feuerbach und Karl Marx, deren Bilder von Juden uneingestanden genauso christlich grundiert gewesen sind wie die des Journalisten Wilhelm Marr, einem Linken, der 1879 das Wort „Antisemitismus“ geprägt haben soll, und mit dem der Historiker den mangelnden Realitätsbezug irrtümlich erstmals verbindet.

Longerich konzentriert sich auf die seit der Aufklärung in den deutschen Kleinstaaten teilweise eingeräumte, teilweise wieder zurückgenommene und erst 1869 bzw. 1871 mit der Reichsgründung in Deutschland endgültig gewährte Gleichberechtigung von Juden. Anschließend habe das Kerngeschäft bekennender Antisemiten darin bestanden, diesen Schritt rückgängig zu machen, was 1933 mit dem Machtantritt der NSDAP erreicht wurde. Longerich kann gut verdeutlichen, dass und wie es anschließend zur Entrechtung von Juden und in der Folge zu ihrer millionenfachen Ermordung in ganz Europa kommen konnte. Doch weshalb der NS-Antisemitismus so vielen nichtjüdischen Deutschen vor und nach 1933 gleichgültig gewesen ist, inwiefern und warum sie gegenüber Juden voreingenommen gewesen sind, die Entrechtungen und später die Deportationen hinnahmen oder befürworteten, vermag er so wenig zu klären wie die Fragen nach dem Fortleben des Antisemitismus in beiden deutschen Staaten nach 1945 und seiner – vom Autor allerdings nicht bestätigten – Zunahme in den vergangenen zwei Jahrzehnten.

Trotz anderslautender Absichtsbekundungen macht Longerich die NS-Judenpolitik zur Bezugsgröße für Antisemitismus. Leider bewegt sich der Historiker noch immer unausgesprochen in den Bahnen der Goldhagen-Debatte von 1996 und der Walser-Debatte von 1998. Doch mit seinem Vokabular aus „Vorurteil“, „Einstellung“, „negative Stereotype“, dem Begriffspaar „latent“ oder „manifest“ etc., das den Forschungsstand der 1980/90er Jahre abbildet, kann er das Funktionieren von Judenhass nicht erfassen. Denn Antisemitismus ist ein beständig flexibilisiertes, aber in seinem Gehalt unverändertes Weltdeutungsmuster, keine korrigierbare, falsche Verallgemeinerung wie das Vorurteile sind. Der geschlossene, antijüdische Fantasiehaushalt aus Verschwörung, Mord, Macht, Geld, Menschenverachtung und Verrat wird seit der christlichen und islamischen Traditionsliteratur immer nur umformuliert, variiert, verweltlicht und angepasst. Das ist der Grund dafür, dass jede neue Form der Judenfeindschaft – einschließlich der israelbezogenen – die alten, überwunden geglaubten Bilder aktualisiert. Das ist keine bloße Begleiterscheinung oder gar Folge nationaldeutscher Identitätsbildung, die Jüdisches ausschloss, oder – wie der Historiker Götz Aly schrieb – des Sozialneids im Zuge gesellschaftlicher Modernisierung.

Mit seinem Buch verpasst Longerich eine Chance, den antisemitischen Gehalt unter den sich wandelnden Bedingungen jeweils herauszuarbeiten. Anstatt das toxische Material, das eine Fülle Forschungsarbeiten längst aufgezeigt hat, bloß auszubreiten und aneinanderzureihen, wäre es nötig gewesen, das Altvertraute im vermeintlich Neuen zu analysieren und seine jeweils spezielle Funktion darzulegen. Fragen wie die nach der Tradierung von Judenfeindschaft bleiben bei Longerich leider unbeantwortet.

Der Befund, Antisemitismus sei für die politische Linke nicht konstitutiv gewesen, ist falsch. Der Marxismus, der Kapitalismus und Judentum miteinander verknüpfte, hat die politische Linke in Deutschland von Anfang an geprägt und ist von der Sozialdemokratie erst im Godesberger Programm mit dem Bekenntnis zur Marktwirtschaft aufgegeben worden. Die Kommunisten bezogen aus dem auf Karl Marx zurückgehenden Antikapitalismus ihre „Systemopposition“ gegen die Weimarer Republik, die sie wie die Deutschnationalen und die Nationalsozialisten bekämpften. Der Antizionismus, der sich in der DDR seit den frühen 1950er Jahren bis zu ihrem Ende gegen den Staat Israel als angeblich überzogenen jüdischen Nationalismus und bürgerlichen Sozialreformismus richtete, war institutionalisierte Judenfeindschaft. Longerich blendet aus, dass Antisemitismus, wie Monika Schwarz-Friesel wiederholt belegt hat, aus der Mitte der Gesellschaft kommt und sich an ihren rechtsextremen, linksextremen und islamistischen Rändern lediglich radikalisiert.

Wirkung konnten und können randständige Radikale aber nur entfalten, weil eine gesellschaftliche und politische Mitte ihnen die dafür nötigen Spielräume eröffnet. Deshalb sind indifferentes und zweideutiges Reden und Handeln von Politikern, Wissenschaftlern, Journalisten und Kulturfunktionären – wie wir das seit den Protesten gegen die BDS-Resolution des deutschen Bundestages 2019, der Debatte um den Historiker Achille Mbembe, den Angriff auf die Antisemitismus-Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) und gegenwärtig im Zusammenhang mit der documenta 15 in Kassel erleben – um Längen relevanter und gefährlicher als Aktivisten. Das kann man in Umfragen, der Kriminalitätsstatistik oder durch Medienbeobachtung – ohnehin keine zuverlässigen Indikatoren – nicht messen. Das muss man ernst nehmen. Begonnen hat die Verharmlosung des israelbezogenen Antisemitismus nicht erst vor zwei Jahren. Sie ist seither aber systematischer geworden. Darauf kommt man nicht nach der Lektüre von Longerichs Buch. Longerich bleibt ein ausgezeichneter NS- und Holocaustforscher. Ein exzellenter Antisemitismusforscher aber ist er durch seine Studie nicht geworden. Es fehlt ihm der Blick dafür, wie Judenhass funktioniert.

Titelbild

Peter Longerich: Antisemitismus. Eine deutsche Geschichte.
Siedler Verlag, München 2021.
640 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783827500670

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