Kunstreligion mit Alpenpanorama

Michael Krüger erklärt uns in „Über Gemälde von Giovanni Segantini“ seine Leidenschaft für den Maler der Berge und outet sich als Romantiker

Von Nora EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Anfang war die Faszination, denn die Werke des italienisch-schweizerischen Malers Giovanni Segantini (1858–1899) enthielten etwas, das sofort fesselte und nicht mehr losließ. Nennen wir es ruhig Magie, mit der der Künstler auf unverwechselbare Weise seine Bilder ausstattete. Und Teil dieser Magie ist wohl auch die Rätselhaftigkeit ihrer Herstellung. Aber noch mehr zieht die Innigkeit an, das Feierliche, die Schönheit. So beschreibt es der Schriftsteller und ehemalige Verleger Michael Krüger in seiner im Verlag Schirmer/Mosel erschienenen Monographie des Künstlers. Ausführlich erzählt er, warum er nicht anders als leidenschaftlich und schon ein langes Leben lang den Werken des im damals österreichischen, zu Tirol gehörenden und in der Nähe des Gardasees gelegenen Arco geborenen und die meiste Zeit an verschiedenen Orten in der Schweiz lebenden Segantini begegnen kann. Um aber zu gestehen, nie wirklich herausgefunden zu haben, woher genau die Liebe kam.

Aber bedarf ein solcher Enthusiasmus einer Rechtfertigung? Ist nicht jede Begeisterung für das Schöne legitim und kann wie jeder Selbstzweck kaum begründet werden? Krüger geht sogar so weit zu fragen, ob die Liebe zu Segantinis Kunst opportun sei. „Es war um 1968 irgendwie peinlich, eine solche Liebe einzugestehen.“ Das sei schwer zu vermitteln gewesen, beteuert er. Um ehrlich zu sein, hätte ich dies bei einem Intellektuellen wie Michael Krüger nicht erwartet, weil ich ihn mir als jene Verleger-Legende, die er verkörpert, und bei all der zumindest dezenten Selbstherrlichkeit seiner Auftritte jedenfalls selbstbewusster vorgestellt habe.

Nun gut, von einer spontanen Faszination war auch meine, allerdings späte Begegnung mit Werken Segantinis geprägt, weshalb ich Michael Krüger in seiner Begeisterung gut nachfühlen kann. Bei mir war es eine der wenigen Retrospektiven, und zwar jene in der Fondation Beyeler in Riehen/Basel von 2011. Das ist für sich schon ein auratischer Ort der Schönheit und verspricht, was immer dort an Kunst zu sehen ist, gewissermaßen ein doppeltes Glück.

Faszination und Leidenschaft speisen sich dennoch aus sehr unterschiedlichen Wahrnehmungen. Während mein Blick für die Ästhetik eher einer an Ernst Gombrichs orientierten Psychologie der bildlichen Darstellung folgt, die die Darstellbarkeit wesentlich als eine Frage des Könnens begreift, steigt Krüger in seine Bildbetrachtungen auf einer semantischen Ebene ein. Er sucht Botschaften in den zuweilen mit Metaphern gesättigten Bildern und liefert, pointiert ausgedrückt, für meinen Geschmack eher sogenannte Rezensenten-Poesie. Besonders befremdlich und gelegentlich peinlich erschienen mir jene Passagen, in denen Krüger in die Rolle einer Magd schlüpft, um das Ambiente und all das Anekdotische rund um die Entstehung der Bilder zu schildern. Jedenfalls gibt er seiner Schwärmerei ausgiebig Raum. Und auch die Lust der Deutung kommt nie zu kurz.

Segantini selbst lädt dazu ein, weil der Maler sich mindestens auch in der Rolle eines Philosophen gesehen hat und bei ihm die gerahmte Leinwand mit der aufgetragenen Ölfarbe sozusagen eine Schicht kunstreligiöser Patina erhielt. Allen kritischen und distanzierenden Zwischenbemerkungen, die es bei Krüger auch gibt, zum Trotz, scheint er dem malenden Propheten und „Menschen-Veredler“ am Ende folgen zu wollen: „Bei keinem anderen Maler seiner Generation käme man auf den Gedanken, die Bilder gewissermaßen auf Knien anzuschauen […].“

Wir tun jedoch gut daran, in der Kunstbetrachtung emotional mindestens ein, zwei Stufen herunterzuschalten. Wobei die Frage bleibt, was sehen wir da eigentlich? Gewiss, bei aller Gegenständlichkeit der Darstellung eine Illusion, und womit sich für mich eine zweite Frage anschließt, wie ist das gemacht, wie funktioniert die Illusion? Naturtreue ist ja keine Kopie, sondern ein Resultat aus genauer Beobachtung und Experimenten mit malerischen Effekten. Gombrich beschrieb hier, geschichtlich betrachtet, zugleich einen Paradigmenwechsel weg vom Wissen, hin zum Sehen: Während die frühe Kunst sich auf das stützte, was man wusste, so die spätere auf das, was man sah – und mit genau diesem Wandel datiere der Zusammenbruch der gegenständlichen Kunst, die dem Realismus, Naturalismus und Impressionismus auf dem Fuß folgte.

Zunächst einmal erfordert das Betrachten von Malerei immer einen gewissen Abstand. Wer den Bildern zu nahe kommt, für den löst sich die Illusion auf in lauter Farbpartikel. Zur gleichen Zeit als Segantini in der Schweizer Bergwelt seine Motive suchte und fand, gingen Maler in Frankreich dazu über, genau diese Farbpartikel so sichtbar wie möglich zu malen, so dass wir sowohl die Illusion der Landschaft vor uns sehen als auch deren Herstellung. Bekannt wurde diese Kunstrichtung als Pointillismus und einer ihrer großen Meister heißt George Seurat. Ob Stilprinzip oder eher unsichtbarer Effekt, die Malerei hat nie anders funktioniert. Und so löst sich noch jedes Gemälde in lauter Farbtupfer auf – das ist bei Jan Vermeer nicht anders als dreihundert Jahre später bei Segantini, bei dem es zu einem malerischen „Strickmuster“ aus unzähligen winzigen Strichen wurde.

Segantini blieb ein Einzelgänger und errang gleichwohl Bekanntheit beim zeitgenössischen Publikum. Die Kunstwelt hofierte ihn und kam wohl scharenweise in seine abgeschiedene Schweizer Bergwelt, diesem Graubündner Naturtheater. Seine Bilder verkauften sich gut, umso auffälliger und erklärungsbedürftiger, dass die Kunstgeschichtsschreibung ihn weitgehend unbeachtet ließ.

Segantini hat sich nie gescheut, über seine Malerei Auskunft zu geben. Im Gegenteil. Er glaubte an eine beseelte Natur, und es war vor allem das Licht hoch oben im Engadin, das ihn regelrecht anzog. Genau dieses Licht ist es, was seinen Bildern, wie ich meine, Magie verleiht. Ave Maria a trasbordo von 1886 ist ein solch magisches Bild. Gewiss, diese in einem Boot dichtgedrängte Schafherde lässt sich mühelos als „Daseinsmetapher“ lesen, auch hat Krüger recht, wenn er schreibt: „Die Metapher der fragilen Existenz von Mensch und Tier hat nichts von ihrer beunruhigenden Wirkung verloren.“ Überwältigender empfinde ich jedoch die Ästhetik, nämlich den Lichtraum, der den Himmel erfüllt und zugleich die spiegelnde Wasseroberfläche und den dünnen streifen Erde samt dörflicher Silhouette am Horizont mit einbezieht. Seltsam, dass Krüger diese Genialität unerwähnt lässt.

In seiner Malerei betrieb Segantini „die natürliche Erforschung des Lichtes“. Dass er dabei Sommer wie Winter nur im Freien arbeitete, versteht sich von selbst. „Ja, ich bin ein leidenschaftlicher Liebhaber der Natur“, lautet sein Bekenntnis. Und weil er auch wie viele andere Künstler seiner Zeit spiritistische Neigungen besitzt mit einem Hang zum Symbolismus, können seine kunstreligiösen Ambitionen kaum verwundern:

Die Kunst muss jene Leere ausfüllen, die uns von den Religionen gelassen ist. Die Kunst der Zukunft wird als eine Wissenschaft des Geistes scheinen müssen, wobei das Kunstwerk die Offenbarung desselben ist.

Oder dies:

Nicht mehr als Sklaven und Missachtete, sondern als mächtige und edele Herren werden Literatur, Musik und Malerei die Trinität des Geistes bilden. Sie werden das Weltgesetz zur Religion und Muse erheben, die Wissenschaft zur Führerin und das hehre und reine Naturgefühl zur Quelle der Inspiration.

Ja, Krüger outet sich am Ende als Romantiker und vergaloppiert sich dabei, indem er sich Segantinis kunstreligiösen Verkündigungen anschließt und Rettung durch die Kunst erhofft:

Ich könnte mir vorstellen, dass gerade heutige Generationen, wenn sie nach den Exzessen des Kunstmarkts und den Explosionen des Kunstbegriffs überhaupt noch ein Gefühl für die Innigkeit Segantinis aufbringen können, gerade seine Bildwelt als Ausdruck ihrer eigenen Befindlichkeit ansehen mögen: Wer eine bildliche Metapher sucht für die bedrohte Schöpfung, kann sich bei ihm mit beiden Händen bedienen.

Abgesehen davon, dass Metaphern immer Bilder sind, sollten wir schöne Bilder schöne Bilder sein lassen, auch wenn ihre Botschaften noch so ansprechend, tröstend oder animierend auf uns wirken, und die Probleme dort lösen, wo sie entstehen – jedenfalls finden wir sie nicht im Kunstmuseum.

Titelbild

Michael Krüger: Über Gemälde von Giovanni Segantini.
Schirmer/Mosel Verlag, München 2022.
144 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-13: 9783829609517

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