Suchbewegungen eines jungen Autors

Christian Brühl schreibt in „Sehnsucht und Krisenbewusstsein“ über die Prosa Klaus Manns in den Jahren 1924 bis 1926

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Generation“ gehört zu den Schlüsselbegriffen der 1920er Jahre. In der Welt war er bereits um 1900, als man Jugend als eigene, von den Erwachsenen geschiedene Lebensphase zu entdecken begann. Geradezu inbrünstig wurde in der – bürgerlichen ­– Jugendbewegung die Distanz zu den Alten zelebriert. Der Konflikt zu ihnen schien unüberbrückbar. Damit vermischten sich weit reichende, freilich wenig konkrete Vorstellungen künftiger Ordnungen. Bei Licht besehen waren diese gegen die eigene Herkunft gerichtet: antibürgerlich, traditions- und zivilisationskritisch, versessen auf Gemeinschaft, voller Abscheu gegen die pluralistische und sozial zerspaltene Gesellschaft. Eingeschrieben war darin der Gedanke, dass Jugend die Avantgarde der kommenden Zeit sei: ein Wert an sich und Garant für die Schaffung einer gesunden und naturverbundenen, jedwedem Kapitalismus entfremdete Existenz.

Der Krieg, zumal der 1918 unwiderruflich verlorene, verschärfte derartige Stimmungen, ließ die vorhandenen oder nur eingebildeten Divergenzen ins Prinzipielle wachsen. Generation wurde zum politisch und ideologisch aufgeladenen Kampf-, Projektions- und Zukunftsbegriff. Das galt für die Linke, aber mehr und prinzipieller noch für die Rechte. Deren Aufmerksamkeit richtete sich auf die Kriegsjugend- und die Nachkriegsgeneration, denen man die Überwindung aller Übel und aller Malaisen zutraute. Darin schwangen zunehmend radikalisierte Ressentiments und Ausgrenzungen mit. Das zielte generell auf die Älteren, die sich unfähig gezeigt hatten, den Krieg zu gewinnen, nicht zuletzt auf die Weimarer Demokratie und deren Repräsentanten, auf Toleranz und Liberalismus, auf Juden, Intellektuelle und Anhänger des Sozialismus welcher Couleur auch immer. Dergleichen Positionen waren Versuche, Quellen der Legitimation für eigene Macht-, Geltungs- und Gestaltungsansprüche zu erschließen. Nicht von ungefähr und unbeeindruckt von Richtungskämpfen sprach Peter Suhrkamp, der Herausgeber der bei S. Fischer verlegten Neuen Rundschau, 1930 von den Söhnen „ohne Väter und Lehrer“.

An den Diskursen über Generation beteiligten sich Publizisten und Wissenschaftler, Politiker und Schriftsteller, darunter Klaus Mann, kein sozialistischer oder konservativer, sondern ein eher linksliberaler Autor. Zum Sprecher mochte er sich dabei nicht erheben, aber die Problematik, die er zu beobachten wähnte, machte er mehrfach zum Gegenstand von Erörterungen. Aus seinem frühen dichterischen und essayistischen Werk ist die Thematik jedenfalls nicht wegzudenken. Seine Diagnosen und Plädoyers waren im vielstimmigen Chor der Diskutanten relativ gemäßigt, teils nur konventionell. In ihnen steckte gleichermaßen Verzweiflung wie Zukunftshoffnung. 1925 sorgte er sich im Fragment von der Jugend um die allenthalben spürbare „Ratlosigkeit“. Fast „alles“ schien ihm „in Frage gestellt“, darunter „am fragwürdigsten“ sei es um die Kunst bestellt. „Zwischen unserer Generation und der der Väter“ sei ein tiefer Graben aufgebrochen, notierte er. Forciert worden sei diese durch Krieg und Staatsumsturz. Aber, und darin war sich der Autor sicher: Das Pathos seiner Altersklasse dürfe „nicht das revolutionäre, nicht das des Gewaltsam-sich-Befreiens“ sein. Nicht das „Los vom Vorigen! Los vom Überlieferten“ sei die Parole, sondern einzig das „Wohin“. Aufgabe der Jugend müsse die Suche nach einem selbstbestimmten Dasein, müsse das allmähliche sich Finden sein, nicht die vorgängige Verpflichtung auf dogmatisch verriegelte, ideologischen Gewissheiten entsprungene Ziele.

Das war ersichtlich weniger als das, was die radikaleren Generationenkrieger im Lager der Rechten verhießen. Belegen lässt sich das mit einer genauen Betrachtung der Prosa Klaus Manns aus der Mitte der zwanziger Jahre. Dieser Aufgabe widmet sich der Literaturwissenschaftler Christian Brühl. Sein Buch, eine in Marburg eingereichte Dissertation, über Sehnsucht und Krisenbewusstsein betrachtet in drei Schritten das zwischen 1924 und 1926 publizierte Prosawerk des Autors: Die Jungen, Der Fromme Tanz und Kindernovelle. Entstanden sind drei umfangreiche Großabschnitte, welche die untersuchten Schriften jeweils nah am Text durchmessen und interpretieren.

Geboten wird eine Art dichter Beschreibung. Am Anfang steht jeweils eine chronologische Aufschlüsselung der Erzählverläufe, danach folgen mit unterschiedlicher Intensität hervorgehobene Elemente der behandelten Werke, was bisweilen zu – wenn auch nicht gravierenden ­– Wiederholungen zwingt. Das letzte Kapitel allerdings beginnt mit einer systematischen Betrachtung der Forschungsliteratur, die sonst zumeist in die Fußnoten verbannt ist. Überhaupt die Fußnoten: Nicht selten nehmen sie Gestalt und Länge von Exkursen an, die nicht immer notwendig erscheinen, häufig aber Lesbarkeit und Konzentration beeinträchtigen. Die Spuren einer Qualifikationsarbeit, die hier in den Vordergrund drängen, hätten durchaus den beherzten Gebrauch eines Rotstifts vertragen. Komplettiert wird das Ganze am Schluss mit Überlegungen über die Beziehungen von Klaus Mann und Ernst Bloch, die den gewählten Zeitraum überschreiten, indem sie nicht nur die Jahre vor, sondern auch und vor allem die nach 1933 in den Blick nehmen.

Die Romane und Essays des Exils gegen die damit abgewerteten Frühschriften auszuspielen, ist Brühls Sache nicht. Im Gegenteil, das Augenmerk soll auf die „Vorzüge und die eigenständige Bedeutung der Jugendarbeiten“ gelenkt werden, um diese im Horizont der Zeit zu verstehen und ihnen keine aus späteren Empfindungen und Einsichten gewonnene Deutungen aufzudrängen. Dabei gilt es, Widersprüche nicht auszublenden, sondern freizulegen, sie auszuleuchten und einzubetten in das geistige Klima der zwanziger Jahre, sie – gleichviel ob begründet oder nicht – als Ausdruck apokalyptischer Stimmungen zu begreifen, selbst dann, wenn sich die Weimarer Demokratie ab 1924 halbwegs stabilisierte und deren führende Repräsentanten so taten, als sei man noch einmal davongekommen. Die Fixierung auf das, was in den Milieus, in denen Klaus Mann sich bewegte, als „Krise des Bürgertums“ wahrgenommen wurde, verflüchtigte sich damit nicht. Exemplifiziert wird das in den frühen Prosastücken mit Hilfe realhistorisch greifbarer, weitläufig interpretierter Phänomene, mehr noch aber anhand von Träumen und Phantasiegebilden, in denen sich Hoffnung, Enttäuschung und Verzweiflung äußern.

Ungeachtet anderer Facetten, die Brühl in seiner voluminösen Studie hervorhebt, sollen hier nur ein paar, allerdings zentrale Elemente hervorgehoben werden. Zum einen der beherrschende Konflikt zwischen Jung und Alt, zwischen zwei einander fremd gewordenen Welten. Gefragt, was sein frühester Erfolg gewesen sei, erwähnte Klaus Mann im Jahr 1932 die Reaktion der Zeitschrift Der Feuerreiter auf seine Novelle Die Jungen, die er dort zum Druck angeboten hatte. Sie sei, hörte er aus der Redaktion, „das erste literarische Dokument einer neuen Generation, eine Überwindung des Expressionismus“. Das habe ihm, dem gerade Siebzehnjährigen, fügte er ein wenig relativierend hinzu, „in einem gefährlichen Grad geschmeichelt“.

Verarbeitet und reflektiert werden Erfahrungen in einem reformpädagogischen Landerziehungsheim, das er 1922 besucht und ohne Abschluss verlassen hatte. Aus dem Kreis der portraitierten Schülerinnen und Schüler ragen Adolf und Harald heraus. Sie repräsentieren zwei konträre „Grundmodelle“ jugendlichen Daseins. Dieser, der „Ästhet“, steht für ungenierte Lässigkeit ohne gesellschaftliche Bindungen und Bezüge, jener, der „Moralist“, für soziales, politisch jedoch wenig konkretisiertes Engagement. Die von den beiden Protagonisten verkörperte Spannung ist eines der existentiellen Themen, das den Autor auch noch im Exil umtreibt. Kritisiert wird in der Novelle unter anderem das Binnenklima des Internats, dessen Lehrpersonal die behaupteten demokratischen Strukturen nicht mit Leben zu füllen vermag. Insofern ist die Vorstellung von einer neuen, in Gemeinschaft und Selbstverantwortung aufgehobenen Jugend auf Sand gebaut. Tatsächlich signalisiert die Schule das Scheitern ihres Projekts, nicht zuletzt den „Niedergang“ pädagogischer Kompetenz, der die „Autoritätssehnsucht“ der heranwachsenden Knaben und Mädchen ins Leere laufen lässt.

Fester Bestandteil der generationellen Konflikte, die jeweils individuell erfahren und ausgekämpft werden, ist die Suche nach erotischer Autonomie und Anerkennung homosexueller Veranlagung. Die Erzählung Die Jungen deutet dies an. Gemeint ist Haralds Liebe zu einem jüngeren Mitschüler, deren „homoerotische Dimension“ nicht offen benannt wird, tatsächlich aber unverkennbar ist. Der Sehnsucht nach sexueller Befreiung steht die im Internat wie in der Gesellschaft obwaltende „sexuelle Repression“ entgegen. Deren vornehmster Repräsentant ist der Vater, ein pensionierter General, den Brühl als dominanten „Sozialtypus des etablierten Bürgertums“ begreift, verantwortlich für den „gesellschaftliche Anpassungsdruck“, der auf dem Sohn lastet. Sich davon zu lösen, heißt eine Richtung einzuschlagen, die nicht in die – als aussichtslos empfundene – Auseinandersetzung mit der Welt und den Normen der Alten mündet, sondern zur Erschließung einer eigen, davon geschiedenen der Jungen führt. Harald, dessen Empfindungen und Entscheidungen der Erzähler mit Anteilnahme schildert, folgt dem „Weckruf des Lebens“. Darin erscheint er gemeinsam mit dem Freund und Gegenpol Adolf, notiert der Autor, „als Hauptvertreter und Wegbereiter“ einer „neuen“, auch erotisch ihrer selbst gewissen Jugend.

Den Bildern und Gegenbildern erotischer Neigungen und Obsessionen gesellen sich solche hinzu, die von räumlichen Gegebenheiten künden. Dabei geht es um die Stadt und das Land: jene eine Art Vorhof der Hölle, durchdrungen von Absonderlichkeiten und Pathologien, diese ein romantisches Idyll, ein Reich der Unschuld und der Kinder, ein Reich des Spiels, der „innigen Verbundenheit untereinander“ und des „Einsseins“ mit der Natur. Andreas Magnus, die Hauptfigur im Frommen Tanz, dem ersten Roman Klaus Manns, scheitert, ein Gemälde zu schaffen, das seinen Ansprüchen auf Allgemeingültigkeit genügt. Er flieht aus der Provinz nach Berlin, geleitet von dem Wunsch, sich von der seine Kreativität behindernden Atmosphäre des Elternhauses und der patriarchalischen Dominanz des Vaters zu lösen. In Berlin will er neue Erfahrungen sammeln und Impulse für seine Malerei empfangen.

Die Realität dort ist allerdings, wenn auch anders, ebenso entmutigend wie die im Heimatort, die Erfahrungen in der Metropole bringen ihn künstlerisch nicht voran. Es ist eine Gegenwelt, die sich entrollt. Die Liebe zu einem jungen bisexuellen Mann scheitert, die Anmutung der Großstadt und die Milieus, in denen Andreas sich bewegt, sind deprimierend, geraten zu einer gleichsam „schockartigen“ Wahrnehmung der Gegenwart. Die Moderne, die sich darbietet, ist ein Albtraum, die Herrschaft des Geldes durchdringt die sozialen Verhältnisse. Berlin, das „Zentrum des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses“ befördert die „Enthumanisierung der menschlichen Beziehungen“. Die Freiheiten in den Szenerien der Homosexuellen entpuppen sich als „prekär“, sind nicht nur entlastend. Das coming-out des Protagonisten, resümiert Brühl, ist „tief ambivalent“, denn daraus resultiert weder „Aussicht auf wirkliche Befreiung“ noch „auf sexuelle Erfüllung in Schönheit.“

Die Erzählungen Klaus Manns sieht der Verfasser durchweht von „Krise“ und „Krisenbewusstsein“. Damit sind Verhalten, Gefühle und Optik von einigen der handelnden Personen korrekt beschrieben. Deren Nöte und Erleben zeugen von Ungewissheiten und verwickelten Prozessen der Selbstfindung und Selbstbefreiung. Wohin sie genau führen, bleibt offen. Was Krise im Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse bedeutet, verharrt im Ungefähren, begnügt sich mit allgemeinen Formeln, ist häufig nur eine ins Allgemeine gewendete Verhüllung und Überhöhung individueller Probleme.

Dies korrespondiert mit dem Gebrauch des Begriffs Generation. Auch er ist wenig konkret, nimmt keinen Bezug auf die verschiedenen Facetten der Generationendiskurse, von denen die zwanziger Jahre angefüllt sind. Reflektiert werden die Phantasmen, die Definitionen und die Ansprüche, die darin zu Tage traten, jedenfalls nicht. Immerhin, Klaus Mann und sein Freund Erich Ebermayer, die 1928 eine Anthologie von Prosastücken junger Autoren auf den Markt brachten, waren sich im Klaren darüber, dass weder ein „einheitliches literarisches“ Konzept von Jugend existiere, noch ein solches von Generation im Blick auf „Richtung und Ziel“ oder auf „Stoff und Stil“. Sichtbar machen wollten sie allerdings, welche „dichterischen Kräfte“ in der „jungen Generation auf dem Gebiete der Prosa“ stecken. Eine Generation, fügten sie hinzu, nicht „unbedingt“ eine „Gruppe von Menschen bestimmten Alters“ solle zu Wort kommen. „Nicht das Geburtsdatum“ des jeweiligen Verfassers erschien ihnen wichtig, sondern „seine Art zu sehen, zu erkennen, zu gestalten“. Dies wäre, auch nach der Lektüre des Buches von Christian Brühl, eine der Erkenntnisse, die es festzuhalten gilt: Generation nämlich nicht als Dogma oder ideologisch eingefärbtes Konstrukt zu traktieren, sondern als pragmatisch abgestecktes Terrain für offene Debatten, nicht zuletzt über die Schicksale und die Lebenswelten von Homosexuellen. Die „Dauerkrise“ des 20. Jahrhunderts, die Gefährdung und Erschütterung der europäischen Zivilisation durch den Nationalsozialismus, von der Klaus Mann 1949 sprach, waren im Erzählwerk aus der Mitte der 20er Jahre in dieser Eindeutigkeit freilich noch nicht zu erkennen.

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Christian Brühl: Sehnsucht und Krisenbewusstsein. Studien zum frühen Erzählwerk Klaus Manns (1924–1926).
Königshausen & Neumann, Würzburg 2021.
602 Seiten, 54,00 EUR.
ISBN-13: 9783862074981

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