Und Gott weiß es besser

In „Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen“ erklärt Navid Kermani seiner Tochter seinen Islam

Von Laslo ScholtzeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Laslo Scholtze

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Navid Kermani stammt aus einer persischen Ärztefamilie, seine Eltern wanderten 1959 aus Iran nach Deutschland ein. Seinem Vater hat er vor dessen Tod versprochen, seiner Tochter den Islam zu lehren. „Unseren Islam“. Den die Familie aus Isfahan mitgebracht hat, eine gelebte Geisteshaltung, die von einer Generation zur nächsten wandert. Etwas, das so nicht in Büchern nachzulesen, wohl aber mit ihnen verbunden ist. Ein offensichtlich so persönliches wie herausforderndes Unterfangen, das Kermani schließlich dialogisch angeht: Tagsüber setzt er sich mit den Fragen und Einwänden der Tochter auseinander, abends legt er ihr seine Überlegungen vor und diskutiert mit ihr. Daraus entstanden ist kein sokratischer Dialog, in dem der Autor die Tochter über ihre Missverständnisse belehrt, sondern ein Gespräch, in dem er sich selbst stets aufs Neue infrage stellen lässt. Und in immer neuen Anläufen von Religion und Glauben erzählt als „einer Beziehung zwischen dem Endlichen, das wir sind, und dem Unendlichen, das auch Gott genannt wird.“ Die zwölfjährige Tochter bleibt dabei Ideen- und Stichwortgeberin, als Gesprächspartnerin fast unsichtbar, was schade ist, ihre Gedanken hätten auch ausführlicher interessiert. (Andererseits sind Jugendliche auch nicht immer an längeren religiösen Debatten mit ihren habilitierten Vätern interessiert.)

Der Autor hat sich also das Paradox vorgenommen, über das Unsagbare zu sprechen. Und befindet sich damit in einer ähnlichen Position wie die Kommentatoren der Tora, der Bibel oder des Korans, konfrontiert mit der Mehr- und Uneindeutigkeit der religiösen Offenbarungstexte, mithin mit deren Interpretationsbedürftigkeit. Die heiligen Schriften „erfordern von Anbeginn den Kommentar“. In islamischer Tradition hat jeder klassische Korankommentar zuerst alle bekannten Deutungen einer Sure aufzuführen, bevor er schließlich die eigene Deutung darlegt. Um dann als Schlussformel folgen zu lassen: „Und Gott weiß es besser“. Wie heiter-demütig mutet dies an, Jahrhunderte an Auslegungshistorie zu resümieren, die eigene anzufügen, nur um wie alle vor einem und alle nach einem mit der gleichen, stets erneuerten Gewissheit zu enden: „Und Gott weiß es besser“.

Nun handelt es sich bei Kermanis Buch sicherlich nicht um reine Koranexegese. Ganz im Gegenteil, er betont die Sinnlichkeit, die Poesie, das Geheimnis, die Buntheit und Vielgestaltigkeit des Glaubens, der ins Leben eingebettet ist und also in eine historische Zeit. Daher geht er immer wieder von seiner eigenen Erfahrung aus – als Kind, als Vater, als Liebender oder auch als verärgerter Nachbar, der in Hundehaufen tritt. So werden das Mystische und Metaphysische geerdet, die Dialektik von Begrenztheit und Unendlichem mal schmerzlich, mal humorvoll lebendig gehalten. Ohne dass Kermani viele Zeilen darauf verwendet, wird überdeutlich: Gottes Wort zu vereinnahmen, um anderen gegenüber Recht zu behalten, sie zu beschämen oder zu beherrschen – dies ist eine unzulässige Instrumentalisierung, eine mutwillige Verstümmelung der Religion.

Tatsächlich rechnet er den monotheistischen Religionen das Verdienst zu, die Idee der Gleichheit aller Menschen im Sinne ihrer Gleichberechtigung zu unterstützen. Hier, wie in vielen anderen Aspekten, zeigt Kermani detailreich die enge Verwandtschaft der Religionen auf, insbesondere der abrahamitischen: Judentum, Christentum, Islam. Es ist verblüffend, wie weitgehend diese Wesensverwandtschaft und inneren Bezüge sind. Verblüffend nicht zuletzt, weil der öffentliche Diskurs so oft nur um eine Frontstellung der Religionen kreist. Als ein Beispiel von vielen führt Kermani die herausgehobene Stellung von Jesus im Koran an, in dem dieser sogar mit seinem Erlösertitel „Christus“ genannt wird. An anderer Stelle berichtet er von einer großen internationalen Konferenz für Religionswissenschaftler: Dort seien die Vertreter der drei abrahamitischen Religionen von den anderen Wissenschaftlern ganz selbstverständlich als eine Glaubensrichtung angesprochen worden.

Das Gemeinsame zeigt sich für Kermani besonders deutlich in der Mystik, der seine Bewunderung gilt. „Das Problem mit der Religion ist nicht, dass sie so kompliziert ist. Das Problem ist, dass sie so einfach ist“, fasst er zusammen und führt seiner Tochter aus, wie der Atem einmal Symbol für den göttlichen Geist ist, gleichzeitig das ganz konkrete Atmen in der Meditation den Gläubigen erfüllen kann, indem es ihn leer macht, der Alltagswelt entrückt. 

Im Atmen, allein schon im Atmen, liegt das ganze Leben mit all seinen Widersprüchen: Zwang und Freiheit, Schmerz und Freude, Zufall und Vorhersehung, Beklemmung und Erlösung.

Dennoch legt Kermani Wert darauf, die Unterschiede der Konfessionen, auch die feinen, herauszuarbeiten und zu diskutieren. Er ist kein Freund von Gleichmacherei, sondern von natürlicher Vielfalt. Die Differenzen sind wertvoll, sie beleuchten sich gegenseitig. Die Menschen seien viel begabter darin, mit solchen Unterschieden in ihrer alltäglichen Lebenswelt umzugehen, als es ihnen von Ideologen gepredigt würde, so sein Credo. Sein eigener Großvater habe bei einem Deutschlandbesuch 1963 zu den vorgeschriebenen Gebetszeiten mit seinem Gebetesteppich stets eine christliche Kirche aufgesucht – weder Pfarrer noch Nonnen noch er selbst hätten daran etwas merkwürdig gefunden.

Warum ist es immer wieder so außerordentlich lehrreich und erhellend Kermani zu lesen, seien es seine Reportagen, seien es seine ästhetischen oder religionswissenschaftlichen Studien? In der FAZ stand einmal über ihn, er sei jemand, „der auch als Gläubiger Denker bleibt, der um das Relative kultureller und religiöser Identitäten weiß und dieses Wissen zum Kern seiner Aufklärungsidee macht.“ Und weiter: dass er einfach mehr als andere wisse über zentrale Konflikte unserer Zeit. Wäre hinzuzufügen, dass seinen Texten eine Feinsinnigkeit eigen ist, ein Zusammengehen von Sanftmut und Unbestechlichkeit des Denkens, die auch Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen auszeichnen und es, auch und gerade für Agnostiker, zu einer überaus bereichernden Lektüre machen.

Titelbild

Navid Kermani: Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen. Fragen nach Gott.
Carl Hanser Verlag, München 2022.
240 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783446271449

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