Zwischen Ehrensperger, Hackl, Hesse und Stifter

Peter Reutterer schreibt in „Bei mir Kind“ über seine Herkunftsfamilie, sich selbst – und über Welten von gestern und heute

Von Günter HelmesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Helmes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Womit beginnen, wenn für ein Buch mit Schönheitsfehler gewonnen werden soll? Mit dem zuweilen den Atem stocken lassenden Lesevergnügen an einem gehaltreichen, in Teilen ungewöhnlich intimen autobiographischen Text, der diverser literarischer Anklänge zum Trotz doch kompositorisch und stilistisch ganz eigenständig ist? Oder mit dem Ärger über eine indiskutable Leistung des Lektorats? Das eine läuft vermutlich – um den Preis des faden und hartnäckigen Nachgeschmacks allerdings – auf ein Weiterlesen der Besprechung hinaus, das andere möglicherweise auf einen baldigen Lektüreabbruch. Was ist wahrscheinlicher, was wiegt schwerer, was schadet dem Buch mehr?

Zum einen und im Vertrauen auf die nicht leicht zu brechende Neugierde des Lesers: Hat man sich mit einem Übermaß an Tippfehlern und mit dem plötzlichen Abbruch eines Satzes bzw. eines ganzen Absatzes sogar abgefunden, hat man zudem gelegentliche stilistische Unfertigkeiten als ein Übel abgetan, dem man leicht hätte zu Leibe rücken können, dann stellen sich die Freude über weltkundliche Bereicherungen und ästhetische Zugewinne und im Zusammenhang damit Respekt vor einer erfahrungs-, wirklichkeits- und reflexionsgesättigten literarischen Leistung voller Poesie ein.

Zum anderen und als weiterer Anreiz: Blättert man nach der empfehlenswerter Weise durch Anstreichungen unterstützten Lektüre noch einmal durch das mit gut 100 Seiten eher schmale doch inhaltspralle Buch, ist man von der thematischen Vielfalt doch einigermaßen überrascht. Ihr Ausmaß, das an dieser Stelle nur stichwortartig angedeutet werden kann, entgeht einem bei der Lektüre selbst möglicherweise deshalb, weil Reutterer nicht chronologisch, thematisch Strang für Strang oder nach einem an Personen orientierten Ordnungsprinzip erzählt, sondern Abschnitte von meist weniger als einer Seite kunstvoll aneinanderreiht, die aufgrund von Assoziationen, der Eigenmacht des Erinnerns oder geläufigen mündlichen Erzählpraktiken scheinbar ‚locker‘ und ‚spontan‘ miteinander in Verbindung stehen bzw. gebracht werden. So kommt es, dass man auch nach Dreiviertel Text und mehr ein weiteres Mal zurück in die Kindheit des Autors und zu Mutter und Vater geführt wird.

Reutterer erzählt von seiner überall von Disziplinierung und dem Schuld- und „Sünden-Denken des Katholizismus“ durchdrungenen Kindheit und Jugend im Waldviertel der 1950er und 1960er Jahre, in dem das skrupellose „Geschlechtstier von Gottes Gnaden“, der Pfarrherr, im Zusammenwirken mit Förster, Gendarm und willfährigem Arzt das Sagen hatte, von dem „Gemetzel unter den Kinderpsychen“ in der Schulzeit, an dem sich nur wenige Lehrer nicht beteiligten. Er erzählt vom trüben, durch eine Drillingsschwangerschaft über Nacht „erledigt[en]“ Leben seiner vor der Zeit durch eigene Hand aus dem Leben scheidenden Mutter und demjenigen seines Vaters, der „vor nichts Halt“ machte, so „wie Hitler keine Grenzen respektierte“, von der Ehe dieser Eltern, die die unablässig sorgende und angestrengt Heiterkeit vorspielende Mutter in „erdrückende[] Verzweiflung“ stieß. Vom meist liebevollen Umgang zwischen ihm, einem Sensibelchen, und seiner als „Kinderfreundin“ erinnerten Mutter und dem über die Jahrzehnte mehr als spannungsreichen Verhältnis zum Vater, von den Geschwistern, vor allem dem früh versterbenden Bruder, vom Leben in dieser auf Biegen und Brechen auf Prestige erpichten „Herkunftsfamilie“ obendrein, die „als Festung angelegt und abgeschottet war“.

Dabei lässt er dem despotischen, soldatischer Werte- und Lebenswelt (Hierarchiedenken, Pflicht, Kameradschaft, Aufopferung etc.) huldigenden Vater, den man getrost als egomanisches, an Ich-Spaltung leidendes Ekel mit Hang zur Bigotterie und zu Übergriffen bezeichnen kann, aber insofern Gerechtigkeit widerfahren, als er auch von den Verkümmerungen und Versehrungen erzählt, die dieser als Kind auf einem von Not, Mangel und Pflicht bestimmten Bauernhof erleiden musste. Der Vater: Täter und Opfer zugleich.

Reutterer erzählt aber auch von Freunden und Freuden aus der Kindheit, vom frühen Gitarrenunterricht, der für ihn lebensbestimmend werden sollte, von seinen ersten literarischen Versuchen (inkl. Auszügen) und – mit ausgeprägtem Selbstbewusstsein – seinen ersten Veröffentlichungen, vom Studentenleben in Salzburg innerhalb und außerhalb der Hörsäle. Von seiner Begeisterung für die Natur, von seinem fordernden, jahrzehntelangen Leben als Deutsch- und Lateinlehrer in der durch Modularisierung zusehends auf „geistlos standardiesierte[s] Unterrichtsgeschehen“ zurückgeschnittenen gymnasialen Oberstufe, von kunstgesättigten Romaufenthalten und dem Pensionistendasein als „jung gebliebene[r] Schriftsteller[]“ inklusive des ersten und zweiten Lockdowns, über Film und Fernsehen (Western, James Bond-Filme) und die kulturelle Beeinflussung durch ein vermeintliches Trivialmedium wie den Comic und die mehr oder minder ‚hohe‘ Literatur:

Thomas Bernhard, Enid Blyton, Christoph Braendle, Hans Eichhorn, Max Frisch, Johann Wolfgang Goethe, Hermann Hesse, Michel Houellebecq, Peter Handke, Hugo von Hofmannsthal, Franz Kafka, Milan Kundera, Haruki Murakami, Robert Musil, Paul Nizon, Rainer Maria Rilke, Gerhard Roth, Arthur Schnitzler, Friedrich Torberg, Jakob Wassermann, Stefan Zweig – diese Aufzählung sehr unterschiedlicher, z.T. sich regelrecht aneinander stoßender Autorenprofile ist gewiss nicht vollständig und unterschlägt zudem eine ganze Reihe von Sachbuchautoren, die Reutterer ebenfalls als Gewährsmänner ins Feld führt.

Vor diesem Hintergrund lässt sich mühelos nachvollziehen, wenn Reutterer bekennt: „Mich haben Therapien, aber auch Bücher und die Musik aus der doppelbödigen Rechtschaffenheit des dunklen Vaterhauses gerettet.“

Bliebe noch zu erwähnen, dass Reutterer sich selbst als „mentalen Mix aus Erotik und Spiritualität“ sieht. Das ist zwar nicht falsch, aber nur die halbe Wahrheit, lässt sich Reutterer doch auch als Naturenthusiast und Sozialkritiker beschreiben (wobei Politik sui generis nur am Rande und hinsichtlich Bildungspolitik eine Rolle spielt). Aber es stimmt schon, Spiritualität (bspw. Hesse und Murakami) und insbesondere Sinnlichkeit, Erotik und Sexualität, Mädchen und Frauen sind über den gesamten Text hinweg ein, wenn nicht das zentrale Thema schon für das Kind, dann den Jugendlichen, den Erwachsenen in seinen besten Jahren und auch noch für den Mann auf der Schwelle zum Greis Peter Reutterer. Warum? Reutteres Antwort in Bei mir Kind wie in all seinen anderen Büchern lautet: Weil „Sinnlichkeit für Sinnstiftung unverzichtbar ist.“

Titelbild

Peter Reutterer: Bei mir Kind.
Bibliothek der Provinz, Weitra 2022.
116 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783991261032

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