Über 100 Jahre Lyrik und Prosa im Originalton

Der Hörverlag legt zwei umfangreiche mp3-Bibliotheken mit historischen Dichterlesungen vor

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bereits 2009 hatte der Münchner Hörverlag die Anthologie Lyrikstimmen vorgelegt, die auf neun Audio-CDs etwas Einmaliges bot: sie präsentierte einige der besten Gedichte deutscher Sprache seit 1900, aber nicht gelesen von SchauspielerInnen und SprecherInnen, sondern von den DichterInnen selbst. Nach dreizehn Jahren gibt es nun eine Neuauflage der Edition, jetzt natürlich im mp3-Format (Spieldauer über 10 h).

Für dieses einzigartige Mammutprojekt machte sich der Hörverlag weltweit auf die Suche nach Originalstimmen von LyrikerInnen. Nach mehrjährigen und teilweise schwierigen Recherchen in den verschiedensten Rundfunk-, Ton- und Literaturarchiven sowie Privatarchiven versammelt die Edition nun auf drei CDs insgesamt 420 zwischen 1907 und 2007 aufgenommene Gedichte von 124 deutschsprachigen AutorInnen.

Das älteste lyrische Tondokument (1907) stammte von Hugo von Hofmannsthal, der sein berühmtes Gedicht Manche freilich (1895) rezitierte. Eine wahre Rarität, denn im Unterschied zu Musik wurden Lyrik-Vorträge erst ab den 1920er Jahren aufgezeichnet. Daher gibt es z.B. keine Aufnahmen etwa von Christian Morgenstern, Stefan George, Else Lasker-Schüler, Rainer Maria Rilke oder Kurt Tucholsky. Schmerzhafte Lücken entstanden auch durch die Zerstörungen in den Literatur- und Rundfunk-Archiven während des Zweiten Weltkrieges. Ein weiterer überraschender Fund gelang mit zwei Gedichtvorträgen von Thomas Bernhard, die bisher noch unveröffentlicht waren.

Die Lyrikstimmen sind chronologisch nach dem Geburtsdatum der AutorInnen angeordnet, wodurch sich historisch interessante Nachbarschaften ergeben – z.B. Johannes R. Becher, Nelly Sachs und Josef Weinheber. Die Anthologie setzt mit Ricarda Huch und ihrem Liebesgedicht ein, das erst 1947 aufgenommen wurde. CD1 versammelt Hörbeispiele von Hermann Hesse, Stefan Zweig, Joachim Ringelnatz, Gottfried Benn, Hans Arp, Nelly Sachs, Bertold Brecht, Erich Kästner, Peter Huchel oder Rose Ausländer. CD2 startet mit Mascha Kaléko und bringt dann Lyrikstimmen von Christine Lavant, Paul Celan, H.C. Artmann, Erich Fried, Friederike Mayröcker, Ingeborg Bachmann bis zu Hans Magnus Enzensberger und Adolf Endler. Auf CD3 lesen schließlich Gerhard Rühm, Jürgen Becker, Reiner Kunze, Sarah Kirsch, Robert Gernhardt oder Thomas Kling ihre Gedichte.

Dem Herausgeber-Team ist es gelungen, unterschiedliche DichterInnenstimmen mit ihren eigenen Werken zum Klingen zu bringen, vom Dialekt bis zum Hochdeutsch. Die CD-Sammlung macht deutlich, wie Stimmen überzeugen und mitreißen, somit Bilder vor dem geistigen Auge entstehen können. Die HörerInnen sehen gleichsam die Gesten der SprecherInnen vor sich. Ob Joachim Ringelnatz‘ Die Weihnachtsfeier des Seemanns Kuttel Daddeldu, Bertolt Brechts Die Moritat von Mackie Messer, Paul Celans Todesfuge oder Ingeborg Bachmanns Die gestundete Zeit – die Stimmen der AutorInnen verleihen mit ihren unverwechselbaren Stimmen den eigenen Gedichten eine neue Dimension. Die HörerInnen sind  gewissermaßen Ohrenzeugen des Schaffensprozesses.

Obwohl manche VerfasserInnen keine begnadeten VorleserInnen waren, präsentiert die Anthologie nicht nur die akustische Seite der Literatur, mit ihren authentischen Aufnahmen will sie auch „ein Ort für die Körper- und Seelenspuren der Dichterinnen und Dichter in ihren Texten sein“ – so die Herausgeberin Christiane Collorio in ihrem Vorwort. Die Lyrikstimmen gehen also über eine reine, gedruckte Lyrik-Anthologie hinaus. Sie beweisen Roda Rodas Ausspruch: „Der Dichter ist der beste Interpret seiner Werke.“ Mit seinem Vortrag nimmt er gewissermaßen persönlich Kontakt zu den HörerInnen auf. Darüber hinaus vermittelt die Hör-Edition auch eine historische Atmosphäre, in der man das Lebensgefühl des 20. Jahrhunderts spürt.

Neben den Vorworten der vier HerausgeberInnen bringt das 150-seitige Booklet Kurzbiografien aller DichterInnen in alphabetischer Reihenfolge, ergänzt mit einer Werkauswahl als Lektüreanregung mit.

Außerdem ist im Hörverlag mit Prosastimmen eine mp3-Neuauflage der Hör-Edition Erzählerstimmen. Die Bibliothek der Autoren aus dem Jahre 2012 erschienen, die damals auf literaturkritik.de bereits vorgestellt wurde.Sie ist die bislang umfangreichste Originaltonsammlung deutscher Sprache von 1907 bis heute. Über 180 deutschsprachige ErzählerInnen aus 100 Jahren – von Sigmund Freud bis Juli Zeh – lesen auf fünf mp3-CDs insgesamt 56 Stunden Prosa.

Titelbild

Christiane Collorio / Michael Krüger / Hans Sarkowicz (Hg.): Prosastimmen. 183 Autorinnen & Autoren, 100 Jahre Prosa im Originalton.
DHV - Der Hörverlag, München 2022.
14.7 cm x 14 cm, 578 g, 28,04 EUR.
ISBN-13: 9783867177870

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Titelbild

Christiane Collorio / Peter Hamm / Harald Hartung / Michael Krüger (Hg.): Lyrikstimmen. 122 Autorinnen & Autoren, 420 Gedichte, 100 Jahre Lyrik im Originalton.
DHV - Der Hörverlag, München 2022.
14.8 cm x 14.1 cm, 309 g, 28,04 EUR.
ISBN-13: 9783844539240

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