Ein Rundumschlag auf das Leben als verwobenes Etwas

Marcel Möhring betrachtet in „AMEN“ die großen Menschheitsfragen von einer neuen Seite aus

Von Stefanie SteibleRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie Steible

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer bin ich, wo komme ich her, warum befinde ich mich genau da, wo ich jetzt bin und vor allem, warum ist das passiert, was unabwendbar scheint? Diesen Fragestellungen widmet sich Marcel Möhring in seinem Roman AMEN. Ihm ist damit ein nahezu philosophisches Werk gelungen, das nicht nur Fragen stellt, sondern auch viele beantwortet, denen sich die moderne Menschheit ausgesetzt sieht.

Eingebettet in die Geschichte eines verlassenen Mannes, der tieftraurig durch die niederländischen Wälder strebt und dabei eine Leiche entdeckt, weil er aus Berufsgewohnheit neugierig ist und unter das ausgebrannte Auto schaut, das plötzlich vor ihm auftaucht. Das macht ihn automatisch zum Verdächtigen, und im Verlauf der Ermittlungen, in denen er auf eine alte Schulkameradin trifft, beginnt er nicht nur seine zuletzt gescheiterte Beziehung mit Joyce zu reflektieren, sondern auch die sonstigen Relationen in seinem bisherigen Leben. Und zwar die, die tatsächlich bestanden, die, die eigentlich nur Begegnungen waren, aber auch die, aus denen hätte mehr werden können und es aus irgendeinem Grund nicht geworden ist.

Auch mit der schwierigen Konstellation in seiner Familie befasst er sich dabei und stellt schließlich einige Parallelen fest:

Brich mit deiner Familie, leugne die Existenz eines Vaters, einer Mutter, eines Bruders oder einer Schwester, erkläre sie für tot: Sie bleiben. Immer. Irgendwo, an einem tiefen, dunklen Fleck in deinem Kopf, ist X. Du tust nur so, als wäre X nicht da. Wie ein körperliches Problem, dass dich meistens nicht stört, dass du sehr gut ignorieren kannst, sogar vergessen, das sich von Zeit zu Zeit bemerkbar macht. Und dann weißt du es wieder. Diese alte Wunde. Diese Narbe.

Denn obwohl er kaum Kontakt zu seiner im Pflegeheim lebenden Mutter und zu seinem inzwischen in Norwegen ansässig gewordenen Vater hat, begleiten sie ihn weiterhin. Genauso wie das verschwundene Mädchen Shannon, auf das er in einem Familienurlaub in der Schweiz hätte aufpassen sollen, und dessen Nicht-Wiederauftauchen dafür sorgt, dass die zuvor heile Welt der Nachbarsfamilie aus den Fugen gerät. Zwar verschwindet im Laufe der Zeit Shannons Gesicht aus dem Kopf von Samuel, aber sie bleibt bei ihm. Und taucht sogar als Wortspiel in der Ermittlerin Mevrouw Sital wieder auf. Können wir also das Erlebte niemals ganz ablegen?

Und was bedeutet Glück? Während Joyce behauptet, nie glücklich zu sein, sieht es Samuel pragmatisch:

Ich fand, es war schon eine ganze Menge, dass Menschen einander nicht fortwährend den Schädel einschlugen, dass es schon mehr als ein halbes Jahrhundert keinen Krieg gegeben hatte. Hier in Europa. Wiege und Totenhaus einer Kultur.

Beklemmende Worte, die nach dem Kriegsausbruch in der Ukraine an Gehalt gewonnen haben.

Der Fundort der Leiche befindet sich in der Nähe seiner Arbeitsstätte. Als Archäologe gräbt er am früheren Standort verschiedener Lager, auf denen sich zuletzt im 2. Weltkrieg dramatische Szenen abgespielt haben. Deswegen vermutet Mevrouw Sital einen Zusammenhang zwischen dem Fundort und den Tätern, denn wie sich herausstellt, war der Verstorbene bereits tot, als das Auto in Brand gesetzt wurde. Mevrouw Sitalschließt auf Deutsche, die hier Rache für das ihrerseits Erlebte nehmen bzw. die Tat symbolisch für die Last des Krieges, die auf mindestens einer Generation liegt, verüben. Samuel, der eher zufällig Archäologie studierte, weil er nach dem Abitur kein richtiges Ziel verfolgte, und plötzlich dennoch eines hatte. Genauso zufällig trat Joyce in sein Leben, und schon während der Beziehung fragte er sich oft, was diese wirklich ausmachte. Ein großes Begehren, aber was noch? Hatte er sie mit seiner Art von Liebe, die er dennoch nicht definieren konnte, gar vertrieben? War er nicht gut genug für sie?

Die Hauptfigur versucht diese Fragen durch Vergleiche mit der Geschichte zu beantworten. Und kommt dabei zum Kern des Menschlichen, zu dem, was wir sein wollen und wie wir uns definieren. Zur Kriminalkommissarin sagt er auf die Frage, ob die Archäologie nicht ein abstraktes Fach sei:

Ich finde nichts Abstraktes an der Prähistorie. Wenn man ein Skelett freilegt, das Tausende von Jahren alt ist, Grabbeigaben, wenn man Glück hat, in seltenen Fällen noch ein Textilfetzen, und wenn man ganz viel Glück hat, Haarreste, wenn man das tut, dann berührt man jemanden, der hier nicht nur schon vor langer Zeit war, sondern nährt auch an eine Vorstellung von der Welt, darüber, wer wir sind, was wir sind. Dass niemand ‚von hier’ ist, zum Beispiel, dass Menschen in diesem Gebiet gelebt haben, in dem, was wir als ‚unser Land’ bezeichnen, die von irgendwo herkamen, aus dem, was heute Deutschland ist, aus der Türkei, aus Russland.

Dies stellt wiederum die Verbindung her dazu, warum die Leiche genau an dem Ort aufgefunden wurde, wo Samuel zufällig vorbeikam, der sich aber in historischer Umgebung des Lagers befand, und von dem er darauf schloss, dass es sich um Deutsche handeln musste, die die Tat verübt haben, um Menschen, die hier nicht zu Hause waren. Aber im gleichen Zug stellt er fest, dass die Geschichte ohnehin von der Völkerwanderung geprägt ist und wir uns heute vielleicht zu wichtig nehmen, weil viele das Jahr 2015 inzwischen als die eine Fluchtbewegung definieren, obwohl es nur eine von sehr vielen auch in der jüngeren Geschichte ist. „Menschen sagen: Dies ist unser Land, weil sie schon etwas länger da sind. Aber die Welt, wie sie ist, ist entstanden, weil jemand anders einen Ort verließ.“ Demzufolge ist die Welt, und damit das Leben, ständig in Bewegung, in Veränderung und auch Beziehungen bleiben nicht da, wo sie sind. Vielmehr versuchen die Beteiligten, häufig aus sehr rationalen Gründen, sie festzuhalten und zu bewahren, so wie sie sind. Unter diesen Voraussetzungen führt das häufig auch dazu, dass Wünsche unausgesprochen bleiben, dieses Vorgehen aber auch das Ende einer Liebesbeziehung einleiten kann.

Das Buch ist anspruchsvoll, ebenso wie der Schreibstil des Autors, der die meisten Sätze durch viele Kommata miteinander verbindet. So reihen sich Gedanken manchmal gefühlt auch wahllos aneinander. Aber das ist es ja, was im Kopf passiert. Da ist auch nach einer Trennung nicht nur Trauer, sondern vieles andere mehr. Und die Geschichte mit Joyce, das bleibt das verbindende Element in diesem Roman.

Letztlich übt Möhring auch Gesellschaftskritik: In seiner Reflektion beschäftigt sich der Autor zum Beispiel mit einer Gruppe von Klassenkameraden im letzten Jahr auf der höheren Schule. Sie wollten die Revolution, konnten aber nicht beantworten, wohin sie führen sollte, was nach Auflösung aller Institutionen bliebe:

Sie, Mittelschichtkinder, denen nie etwas Schlimmeres widerfahren war, als ein Spielzeug zu verlieren, hatten mich mit einem Blick betrachtet, der aus reiner Ungläubigkeit bestand. Dass ich das nicht wisse. Dass ich so zynisch sei. Aber ich wusste es schon, und was sie zynisch nannten, fand ich eher pragmatisch.

Eigentlich steht die Hauptfigur also vielleicht mehr im Leben als andere, und dadurch auch wieder nicht. Denn nach Meinung der Hauptfigur bewegt sich ein Großteil der Menschen nur an der Oberfläche.Das mag auf manche Rezipienten seltsam wirken, andere werden sich hingegen wiedererkennen. Und genau das macht für mich die Faszination dieses Textes aus.

Titelbild

Marcel Möring: Amen. Roman.
Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen.
Luchterhand Literaturverlag, München 2022.
218 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783630876528

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