Irischer Lastwagen überfährt den ‚Joyce des 21. Jahrhunderts‘

Clemens Ottawa erfindet mit „Kletus“ einen Schriftstellergott, der tragisch endet

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Prolog des neuen Buchs von Clemens Ottawa ist davon die Rede, dass wir im Jahr 2044 leben. Bekommt man eine Utopie oder eine Dystopie zu lesen? Beides – zwar gibt es kein Facebook und kein Google mehr, dafür aber andere „asoziale Netzwerke“. Deutschland ist wieder geteilt, und die FAZ wurde von den Russen abgeschafft.

Angeblich handelt es sich um Aufzeichnungen des 39-jährigen Kletus Klieber, „Schriftstellergott einer ganzen Generation“, der wegen einer Krebsdiagnose seine Memoiren verfasst. Kletus ist ein äußerst seltener Vorname und kommt vom altgriechischen „kleitos“, was soviel wie „berühmt“ bedeutet. Und berühmt wurde Kletus Kleiber mit dem millionenfach verkauften Roman Wenn’s hilft wird Vincent Wunderheiler, in dessen Titel kein Komma steht.

Die 55 Memoirenbruchstücke plus Prolog und Epilog springen von Thema zu Thema, sind sprachlich gelenkig und erfinderisch, doch oft wirkt der Humor herbeikommandiert. Gern stellt Clemens Ottawa seine Belesenheit aus und beweist beispielsweise in einem einzigen Satz auf Seite 101 seine Vertrautheit mit Eigenheiten von Truman Capote, James Joyce, Emily Dickinson, Elfriede Jelinek und Oscar Wilde.

Über seine Eltern schreibt Kletus, der mit zwölf Fingern auf die Welt kam, in lieblos herablassendem, zuweilen zynischem Ton. Sein Vater scheint von ihm nur zu erwarten, dass seine Polydaktylie ihn zur Weiterentwicklung des Zehnfingersystems und auf den Thron des „Schnellschreibchampions“ führt. Bei einem Autor mit ausgeprägtem Sprachbewusstsein verwundert es, dass er seinen Vater scherzhaft zu „Sir Klieber“ macht, wo es doch „Sir Arno“ heißen müsste, weil das britische Adelsprädikat stets vor dem Taufnamen und niemals vor dem Familiennamen steht.

Nach dem Selbstmord des Vaters, der zu geschmacklosen Assoziationen führt („Todesfall in der Familie? Hund tot? Katze erfroren? Freitod des Hamsters?“), lächelt der Autor seine Schreibblockade weg und wird auf zum Bersten vollen Lesungen von Prominenten hofiert, die keine einzige Zeile seiner Bücher gelesen haben. Der Leser gönnt ihm dies und das kurze Liebesglück mit seiner Verlegerin Sybille, mit der er später nur noch geschäftlich verbunden ist, ebenso wie die Diagnose einer doch gutartigen Geschwulst. Kurz vor Ende des Buchs schwirrt ihm die Frage durch den Kopf, ob Lebensgefährtin von Lebensgefahr kommt.

Als sich der Autor entschließt, „noch massenhaft Massentaugliches“ zu liefern, wird der glasklar vor seinen Augen stehende Titel seines übernächsten Buches: „Wie ich einmal während der vollen Fahrt den Luftdruck meines hinteren Fahrradreifens prüfte und dabei aus der Spur geriet“ zur außerliterarischen Realität, in der ein Lastkraftwagen mit irischem Kennzeichen den zum „Joyce des 21. Jahrhunderts“ hochgelobten Autor überfährt. Kletus Kleiber ist tot.

Der 1981 geborene und vielfach begabte Clemens Ottawa, auch Illustrator, Karikaturist, Musiker, Dramatiker und Theaterleiter, Lehrer und Sachbuchautor, kann weiterhin das tun, was laut Rückumschlag nötig ist, um in der Szene dauerhaft zu bestehen: „Liefern, liefern, nochmals liefern.“ Vielleicht ist das nächste Buch so unverkrampft komisch wie seine Karikaturen, die man im Internet unter CartoonMadness findet.

Titelbild

Clemens Ottawa: Kletus.
container press, Walheim 2022.
172 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783948172060

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