Auf der Suche nach der Wahrheit

Reinhard Stöckel schickt in seinem Roman „Bärensommer“ einen Beamten in die Provinz

Von Miriam SeidlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Miriam Seidler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Grimmelshausens Roman Simplicissimus Teutsch erhält der Protagonist von den sagenhaften Sylphen im Mummelsee einen Stein, mit dem er zurück auf der Erdoberfläche eine Heilquelle an einem Ort seiner Wahl entspringen lassen kann. Simplicissimus erkennt sofort das Potential dieses Geschenks, das ihm dauerhaften Wohlstand verspricht, wenn er den Ort für seine Quelle geschickt wählt. Durch seine eigene Ungeschicklichkeit und Neugier – ihm fällt der Stein aus der Tasche als er nachts ein paar Waldarbeiter im Nordschwarzwald belauscht – vergibt er die Chance. Die Quelle sprudelt ungenutzt, weil sich auch die Arbeiter nicht vorstellen können, dass sie an dieser abgelegenen Stelle aus dem heilenden Wasser Gewinn schlagen können. Bei dieser Episode aus dem barocken Roman geht es damit weniger um den Nutzen der Quelle als vielmehr um die Gewinnabsicht der Figur. Thematisch vergleichbar ist die Ausgangslage in Reinhard Stöckels Roman Bärensommer.

In der brandenburgischen Provinz an der Grenze zu Sachsen befindet sich zwischen den Gemeinden Klein Kloitz und Branzdorf eine bislang nicht erschlossene Heilquelle. In beiden Dörfern hofft man einige Jahre nach der Wende darauf, mit einer touristischen Attraktion die Einkünfte der Gemeinde wie auch die Beschäftigungsgrundlage der Bewohner sichern zu können. Da beide Gemeinden einen Zusammenschluss ablehnen, da befürchtet wird, dass man die Geldquelle teilen müsste, soll geklärt werden, auf welcher Gemarkung die Quelle genau entspringt. Dazu wird Marc Jander vom Ministerium entsandt. Sein Auftrag besteht darin, den Streit zwischen den beiden Gemeinden zu schlichten. Vor allem gilt es damit auch zu verhindern, dass Klein Kloitz sich für einen Anschluss an Sachsen entscheidet. Was Jander noch nicht weiß, ist dass es verschiedene historische und zeitgenössische Verstrickungen rund um den Bärwald gibt, die dem Fremden gegenüber nur angedeutet werden und auch bei der Lektüre immer wieder das Gefühl erwecken, dass Mysteriöses im Gange ist.

Der Ministeriumsmitarbeiter verseht seinen Arbeitsauftrag weniger als eine politische Mission, sondern möchte sein Streben nach Harmonie erfüllen: „Ich, dachte Jander, bin nach Branzdorf gekommen, damit sich hier keiner erschießt, damit sich alle umarmen. Trotzdem schienen die Leute auf einen wie ihn nicht gewartet zu haben.“ Trotz der Ablehnung scheint die Aufgabe zu Beginn schnell zu erfüllen, da Klein Kloitz eine Urkunde vorweisen kann, die die Gemeinde als Besitzerin der Quelle ausweist. Doch die Lage kompliziert sich zunehmend, als auch der Bürgermeister von Branzdorf eine gerade erst vom Pfarrer entdeckte Urkunde mit identischem Inhalt vorweisen kann, die allerdings seiner Gemeinde den Besitz des Waldes und damit der Quelle bescheinigt. Auch ein Gutachten kann nicht wirklich Licht in die Sache bringen.

Die Tristesse, die diesen Landstrich nach der Wende auszeichnet und die den besonderen Reiz dieser Quelle noch einmal deutlich macht, deutet Stöckel in seinen Beschreibungen der Figuren und der Landschaft immer wieder an, ohne sie explizit auszuführen. Das Misstrauen, das die Bewohner nach den Erfahrungen in der DDR und mit dem Tagebau gemacht haben, erschwert Jander die Arbeit zusätzlich. Auch in der Pension, in der er untergebracht ist, scheinen seltsame Dinge vor sich zu gehen. Die übrigen Bewohner sieht er kaum und wenn sie doch irgendwo kurz über den Flur huschen, dann gelingt es ihm nicht, sie in ein Gespräch zu verwickeln.  Auch der Sohn der Wirtin, der – wie Jander berichtet wird – seit einem Unfall im Rollstuhl sitzt, treibt sich gerne mit einem geistig behinderten Mann im Bärwald herum. Wie letzterer Jander berichtet, sammeln sie dort unter anderem ein Kraut, das glücklich machen soll. 

Im Lauf des Romans, der zwar aus der Innensicht Janders geschrieben ist, aber immer eine gewisse Distanz zu den Gefühlen der Figur wahrt, lässt sich der Ministeriumsmitarbeiter die im Bärwald entspringende Quelle vom Branzdorfer Bürgermeister zeigen. Jander ist dann doch sehr irritiert, ob der Kluft zwischen den Träumen der Anwohner und der Realität im sogenannten Bärwald, die auch der Bürgermeister nicht beschönigen kann:

Richtig, das ist der Bärwald. Früher war hier tatsächlich Wald. Wurde alles abgeholzt. Schon im Mittelalter. So was hat Tradition. Dann war‘n hier ein paar Fischteiche, aber als der Tagbau kam, war das Wasser bald weg. Und in der LPG hatten wir hier oben unsern Bauhof. Naja, Sie sehen ja die Reste, alles geplündert, alles geklaut. Die sind über Leichen… – Wenigstens das Wasser, wie’s scheint, kommt langsam zurück. Da, der rote Pflock! Irgendwo hier muss doch das Rohr von der Bohrung sein? 

In früheren Zeiten war der Bärwald aber nicht nur der Ort der Quelle, sondern zugleich sagenumwoben. Nachdem ein Mann, der zur Schlichtung des Streits zwischen den beiden Orten vom Kaiser geschickt wurde, im Bärwald erschlagen wurde, ging die Sage um, dass seine Verlobte Miranda mit einem Bären in der Ödnis umherwandele und jeden vertreibe, der sich dem Ort näherte. Auch Jander sieht wiederholt an dem Ort eine Frau mit einem großen braunen Tier umherziehen, in dem er einen Bären sieht. Darüber hinaus verweist auch ein großer weißer Stein, der im Volksmund nur den Namen Große Weiße Bärin trägt, auf einen alten Kultplatz. Von den Ereignissen ist Jander zunehmend überfordert. Ausdruck dieser Überforderung ist nicht nur ein pelziges Mal, das sich auf seinem Unterarm immer weiter ausbreitet, sondern auch das Bewusstsein, dass die Ereignisse im Bärwald in irgendeiner Weise mit seiner eigenen Familiengeschichte verwoben sind. Immer häufiger fallen ihm Übereinstimmungen zwischen dem Romanprojekt, an dem sein vor kurzem verstorbener Vater Zeitlebens gearbeitet hat, und den Ereignissen im Bärwald auf.

Neben dem Erzählstrang um die Quelle gibt es einen zweiten, der zu Beginn für den Leser wie ein Fremdkörper wirkt. Ein Mann ist in einer Hütte gefangen. Vor der Tür sitzt ein Bär und wartet. Der Mann hat ein Gewehr dabei, aber nur noch Munition für einen Schuss. Trifft er den Bären, dann ist er frei. Trifft er nicht, dann gewinnt der Bär den Zweikampf. Im Verlauf des Romans entspinnt sich ein Gespräch zwischen dem namenlosen Mann und dem Bären, bei dem nicht klar ist, ob es sich der Gefangene nur einbildet oder ob die Wortwechsel real sind. Das Tier im Kampf mit dem Menschen oder die Natur im Kampf mit der Zivilisation – ähnlich wie in Kafkas Türhüterlegende ist hier nicht eindeutig zu entscheiden, wo die Fronten verlaufen. Kann der imaginierte Bär als Teil der eigenen Psyche entlarvt werden oder stellt das archaische Tier für den Mann tatsächlich eine Gefahr dar?

Ist Marc Jander zu Beginn des Romans froh über den Auftrag, der es ihm ermöglicht, dem Urlaub mit seiner Freundin Martina zu entkommen, so zeigt sich zunehmend, dass sein Leben wie sein Beruf lediglich als Schutzraum konzipiert sind, durch den er alles von sich fern halten kann, was sein Leben aus den Fugen bringen könnte. Sehr einfühlsam entwickelt Stöckel im Lauf des Romans die Psyche seines Protagonisten. Dabei hinterfragt er immer wieder die Grenze zwischen Wahrnehmung und Realität, zwischen Mythos und Wirklichkeit, zwischen Einbildung und Wahrheit. Mithilfe von Romanfiguren, die Jander aus den Erzählungen seines Vaters erinnert, entwirft der Autor ein Textgewebe, das mit Vorausdeutungen Spuren legt, die ebenso Vergnügen bereiten wie sie ab und an in die Irre führen. So erhält der abwesende Vater eine zentrale Rolle im Romangeschehen. Neben Erinnerungen an seine Kindheit und die gescheiterte Ehe seiner Eltern ist es vor allem Janders Vorgesetzter im Ministerium Berger, mit dem Jander den Vater ersetzen möchte und so Halt in einer unübersichtlichen Welt findet:

Gerade hatte Jander […] über Vor- und Nachteile verschiedener Kleidungsstücke nachgedacht. Er hätte wegen der Hitze auch Shorts und Shirts einpacken sollen. Doch wie hatte Berger ihn unterwiesen, als er Anfang der Neunziger bei ihm landete: Junger Mann, wir sind nicht irgendein Garagen-Startup, wir sind ein Ministerium. Wir sind ein Stück vom Staat. Und soll der Staat seine Waden zeigen? Jeder hergelaufene Hund – das ist eine Metapher, junger Mann, eine Metapher – könnte uns in die Waden beißen. Manchmal hat Berger echt Humor. Und er hat recht. Es gibt ja nicht viele Dinge auf der Welt, an die man sich halten kann. Da ist es gut, ein paar verlässliche Regeln zu haben, und gut ist es auch, dass es Gesetze gibt. […] Außerdem, wenn man sich diese Welt so ansieht, dachte Jander, was unterscheidet den Menschen eigentlich vom Tier? Nichts, außer ein ordentlicher Anzug. Er ist es, der uns Form verleiht. Und Form, dozierte Berger gern, Form ist das Maß aller Zivilisation. Sie ist das Gatter, die des Menschen innere Menagerie im Zaum hält, und die bestmögliche Ausprägung von Form ist das Recht. Gesetze, Verordnungen, Vorschriften. Setze die Vorschrift „Du sollst nicht töten“, im Krieg zum Beispiel, außer Kraft. Und der Mensch wird töten. Auch Sie, junger Mann, würden dies tun. Würden Sie? Das Gesetz ist der Dompteur und ein Anzug die Longe für die Bestie Homo sapiens.

Hier formuliert Reinhard Stöckel das Konzept seines Romans explizit aus. Die Erzählung um Marc Jander und die Quelle im Bärwald stellt die Frage, was eine soziale Gemeinschaft – sei es in einem Ort oder in kleinerem Rahmen in einer Familie – zusammenhält. Dabei zeigt er an der Figur Jander auf, dass das zu rigide Festhalten an Regeln ebenso problematisch ist wie deren Missachtung. Dafür wählt er eine schillernde Erzählweise, die den Ernst des Geschehens mit humorvollen Beschreibungen und einem skurrilen Figurenensemble ab und an vergessen lässt.

Ist das Mal auf Marc Janders Arm ein metaphorischer Hinweis darauf, dass seine Verkleidung ihn nicht mehr schützen und er sich seiner Vergangenheit nicht mehr entziehen kann, so stellt sich gleichzeitig die Frage, was der Kampf um die Quelle bei der Bevölkerung in den beiden Gemeinden Klein Kloitz und Branzdorf bewirkt. Werden Regeln und Gesetze eingehalten oder wird die „Bestie Homo sapiens“ zur Gefahr? Wird Jander die Wahrheit ans Licht bringen und werden sich die Bürger an die Gesetze halten oder gerät Jander wie sein Vorgänger im ausgehenden Mittelalter zwischen die Fronten der aufgebrachten Bevölkerung? Bis die Wahrheit ans Licht kommt und die Fragen geklärt werden, überrascht Reinhard Stöckel in diesem klug komponiert und amüsant geschriebenen Roman mit einigen unerwarteten Wendungen.

Titelbild

Reinhard Stöckel: Bärensommer.
Müry Salzmann Verlag, Salzburg 2022.
192 Seiten, 19 EUR.
ISBN-13: 9783990142257

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch