Ein kurzweiliges Vorführen der Langeweile

Der zweite Band von Margit Schreiners autobiographischem Projekt „Mütter. Väter. Männer. Klassenkämpfe. Über das Private“

Von Helmut SturmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Helmut Sturm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Auf Linz reimt sich Provinz“, sagt man in Wien; daselbst freilich: „In Linz beginnts!“. Margit Schreiner, 1953 in Linz geboren, lebt nach längeren Aufenthalten in Tokio, Paris, Berlin und Italien heute in Gmünd im niederösterreichischen Waldviertel. Wie ihr Lebenslauf quasi ein Stück Zentrum in die Peripherie bringt, enthält er von Anfang an auch das Provinzielle. Zu Beginn des Studiums, mit dem Mütter. Väter. Männer. Klassenkämpfe., der zweite Teil (nach Vater, Mutter, Kind. Kriegserklärungen) der Schreinerschen Selberlebensbeschreibung im im Verhältnis zu Linz etwa halb so großen Salzburg endet, kommt sich die Erzählerin wie ein „Kleinkind aus der Provinz“ vor.

Der Untertitel des zweiten Bandes der Autobiographie lautet Über das Private. Die Zeitspanne, über die berichtet wird, umfasst etwa das Jahrzehnt von1963 bis 1973. Klar, dass die 68er-Bewegung da eine Rolle spielt und gilt: „Alles Private ist politisch“. Was die westliche Welt damals bewegt hat, bewegt auch die (linken) Schülergruppen in Linz: Reformpädagogik, Marxismus, Kommunarden, Klassengesellschaft. Wenn vom „Kapitalarbeitskreis“, Besuchen beim Gynäkologen oder vom Referat über „Die Emanzipation der Frau“ im Knabengymnasium berichtet wird, kann es, muss es sich aber nicht, um Erinnerungen aus dem Leben Margit Schreiners handeln. Denn als Ziel nennt die Erzählerin eine „generationsübergreifende Autobiographie“, in der die Erinnerungen anderer Menschen mit einbezogen werden. Es wird nie verheimlicht, dass das richtige Leben der Protagonistin immer auch erfundenes Leben ist und sich Dichtung und Wahrheit frei vermischen.

Selbstverständlich webt der Mythologe mein Leben lang an diesem, meinem Ich, lässt manches wieder fallen, um es später durch anderes zu ersetzen beziehungsweise einzuweben. Er ist naturgemäß chaotisch und kümmert sich nicht besonders um die Fakten in meinem Leben. Darum kümmert sich der Archivar.

Ihr Mythologe sei ein verlässlicher Arbeiter, heißt es, wogegen der Archivar stets schlampig sei.

So wird uns Leserinnen und Lesern eine Jugendzeit fabuliert, mit all den Auseinandersetzungen mit LehrerInnen, MitschülerInnen, Eltern und Familienmitgliedern, die sich vortrefflich lesen lässt, eine(n) nicht selten zum Schmunzeln bringt und auch manche Einsichten bereit hält, die zum Nach- und Überdenken anregen. Was diese Einsichten betrifft, ist manchmal schwer zu entscheiden, ob sie eher banal oder genial sind. Jedenfalls trifft zumindest im Jugendalter zu: „oft reflektiert man sich ja ins Out.“

Kalauer sind Schreiner nicht fremd:

Aber so ist die Klassengesellschaft: Die einen (die Lehrer) wiederholen gut bezahlt Jahr für Jahr, was sie in grauer Vorzeit einmal gelernt haben, die anderen (die Schüler) schuften ohne Lohn Tag für Tag unter schlechtesten Bedingungen […] Noten sind das Mittel zur Unterdrückung der arbeitenden Schulklasse.

Für eine Lesung vor einer Schulklasse, die diese nicht freiwillig besucht, ein guter Text. Kalauer braucht man wie Kitsch auch irgendwie um zu überleben. Schreiner scheint sich daran zu halten.

Die gut zweihundert Seiten des Textes sind ohne jede Gliederung. Absatz reiht sich an Absatz. Keine Kapitelüberschrift bringt Ordnung in die Gymnasialzeit, in der sich, so lesen wir, alles, was im bisherigen Leben etwas bedeutet hatte, aufzulösen begann. Im Gymnasium konnte die Autorin ihre Schreibhemmung nur überwinden, indem sie bei Klassenarbeiten Schmierzettel „hemmungslos vollschrieb“. Schreiner rationalisiert diese Hemmung und meint, dass sich darin der Instinkt ausdrückt, „dass nichts endgültig ist. Und wir selbst schon gar nicht.“

Generell findet man in den Beschreibungen des Deutschunterrichts im Speziellen einige Hinweise auf Schreiners Selbstverständnis als Schriftstellerin. Das ist wiederum typisch für Schreiners Romane, die immer auch reflektieren, wie sie entstehen.

Schreiners Deutschprofessorin, denkt die (Auto-)Biographin, „dachte, mein Leben wäre so, wie ich es beschrieben hatte: bunt, ereignisreich und sehr komisch. // Tatsächlich war mir meistens langweilig.“ Die Erzählung über dieses Leben zu lesen ist jedenfalls Kurzweil pur.

Titelbild

Margit Schreiner: Mütter. Väter. Männer. Klassenkämpfe. Über das Private.
Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2022.
216 Seiten, 22 EUR.
ISBN-13: 9783895612848

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