Mit Herrn Harald durch das Jahr

Dagmar Leupolds außergewöhnlicher Roman „Dagegen die Elefanten!“

Von Hannes KraussRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hannes Krauss

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dagmar Leupold überrascht ihre Leser*innen immer wieder durch die Formen- und Themen-Vielfalt ihrer Bücher. War es zuletzt die Ich-Erzählung einer Selbstmörderin, die beim Sturz vom Dach eines Hochhauses das eigene Leben Revue passieren ließ (vgl. literaturkritik.de 5/2020), so ist es nun die akribische Schilderung eines unspektakulären Alltagslebens in der dritten Person.

Protagonist ist Herr Harald, Garderobier im Opernhaus einer großen Stadt, einige Indizien deuten auf München. Seine Tage verlaufen gleichförmig. Er ist für die Garderobe „Balkon links“ verantwortlich; „wenn Not am Mann ist“, hilft er in der „Philharmonie, im unwirtlichen Untergeschoss“ aus, und als „Einspringer, wenn auch selten, übernimmt er zusätzlich einen Garderobenabschnitt im Schönsten Theater der Stadt. […] Am liebsten […] bei Klavier solo oder bei Kammermusikabenden […], die feierlich sind, ohne einzuschüchtern“.

So exakt, wie Herr Harald den Dienst versieht, wird seine Tätigkeit beschrieben.

Er hat einen Trick erfunden, wie schwere Mäntel schadlos vom Haken gelöst werden können. Ohne dass die Schlaufen reißen oder der Kragen leidet. Er packt den Mantel hinten im Schulterbereich, so als wolle er Delinquenten verhaften, mit sehr festem Griff, und schiebt ihn hinauf. Bis er über der oberen Halterung der Garderobe schwebt, dann lässt er ihn auf sich zufallen, stellt sich dabei vor, er würde bei einer Ohnmacht einspringen und achtet sorgsam darauf, den Mantel nicht ungebührlich eng in die Arme zu schließen. Das gelingt ihm mit bis zu drei Mänteln gleichzeitig. Die Schlange vor seinem Garderobenbereich schrumpft am schnellsten.

Bei der Arbeit trägt er, „der Schuppenflechte wegen“ „die weißen, vornehm fadenscheinigen Handschuhe […] wie ein Archivar, der Kostbares verwaltet“ – und „einen schlichten, dunklen Kittel, eigentlich schwarz, aber vom häufigen Waschen verschiefert im Farbton.“ Seine Blicke schweifen „über die Mäntel, Schirme, Rucksäcke, Aktentaschen […] deren vorübergehender Hüter er ist.“ „Den Unterschied zwischen Reichtum und Behauptung“ erkennt er am Geruch. Während der Vorstellungen denkt er sich Lebensgeschichten zu den Mänteln aus, manchmal schaltet er ein kleines Radio ein oder blättert im „Grundkurs Italienisch I. Bella Italia“, den ein Operngast einst vergessen hatte. Zwischendurch fertigt er die „Pausendeserteure“ ab, gelegentlich notiert er einen schönen Satz oder ein besonderes Wort in einem Notizbuch, in dessen Gummizug ein gespitzter Bleistift steckt.

Die Vormittage verbringt Herr Harald mit Staubsaugen, Einkaufen, Gängen zum Automatenwaschsalon, Essenszubereitung; gelegentlich besucht er die Stadtbibliothek oder geht spazieren. An freien Tagen und in den Theaterferien gönnt er sich mitunter einen Konzertbesuch – vorzugsweise Liederabende oder Klavierkonzerte. Im Fernsehen sieht er am liebsten Tierfilme und selten leistet er sich eine Cola im „Ratschkath‘l“. Aus einem dieser raren Kneipenbesuche erklärt sich auch der Titel des Buches: nachdem Herr Harald im Fernsehen den behutsamen und rücksichtsvollen Umgang von Elefanten mit ihrem Nachwuchs bewundert hatte, ruft er einer Gruppe von lautstark am Nachbartisch Streitenden zu: „dagegen die Elefanten“ – und verlässt das Lokal.  

Die elegante und genaue Sprache des Buches verleitet zum Zitieren, aber um zu verstehen, warum diese Schilderungen aus dem Alltag eines (nachnamenlosen) Protagonisten in dreizehn, mit Monatsnamen gezeichneten Kapiteln, an keiner Stelle langweilen, muss man den Roman einfach lesen. Es passiert zwar auch gelegentlich etwas – einmal entdeckt Herr Harald in der Tasche eines in der Garderobe vergessenen Mantels eine (Schreckschuss-) Pistole, ein anderes Mal zieht die Nachbarskatze für einige Zeit bei ihm zuhause ein –, doch nicht solche Störungen der Alltagsroutine machen dieses Buch zu etwas Besonderem, sondern die Sprache. Herr Harald sammelt Sätze und „Wörter des Monats“, hat „schöne Antworten auf nicht gestellte Fragen parat“, spielt mit Begriffen und malt beiläufige Beobachtungen detailliert für sich aus; kurze Szenen stehen neben einer seitenlang imaginierten Affäre mit einer „Umblätterin“ beim Klavierkonzert. Herr Harald ist ein Beobachter, der „die Welt […] in jeder Einzelheit“ sieht, „Nanovermessung nennt er das“. Er beschreibt das Gesehene nicht, sondern erfindet Geschichten dazu. So entsteht in seinem Kopf Literatur, durch die er die Realität wahrnimmt; sie ist sein sechster Sinn. Herr Harald ist der Prototyp eines Autors, und die Art und Weise, in der Dagmar Leupold von ihm berichtet, kann süchtig machen. Ihre Schilderungen von Belanglosigkeiten und Absurditäten reißen erhellende Löcher in unsere Wahrnehmungsroutinen. Ihre Prosa erinnert an Peter Bichsel oder Reinhard Lettau. Was der einst über Kafkas Sprache geschrieben hat, gilt auch für dieses Buch: es „schüttelt schnelles Lesen von sich ab“. Der Schluss (der nicht verraten werden soll) mag ein bisschen irritieren, aber anders war ein solcher Sprach- und Beschreibungsfluss wohl nicht zu beenden.

Der Roman steht auf der Vorschlagsliste für den diesjährigen Deutschen Buchpreis. Damit wurde zum dritten Mal (nach 2013 und 2016) ein Buch von Dagmar Leupold nominiert. Ob es 2022 klappt? Verdient wäre es, denn aufregender und unterhaltsamer kann ein literarischer Blick auf das Leben kaum sein.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Dagmar Leupold: Dagegen die Elefanten! Roman.
Jung und Jung, Salzburg 2022.
272 Seiten, 23 EUR.
ISBN-13: 9783990272626

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