Napoleon in Dapsulheim

Dort und in anderen serapiontischen Erzählungen E.T.A. Hoffmanns sucht ihn Günter Dammann auf

Von Wulf SegebrechtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wulf Segebrecht

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Hoffmann wird durch die Befreiungskriege eigentlich zum Schriftsteller, sein Werk kann nur von den hier anhängigen politischen Prozessen aus interpretiert werden“. Dieser Satz steht in der Dissertation von Günter Dammann über das Thema Antirevolutionärer Roman und romantische Erzählung. Vorläufige konservative Motive bei Christian A. Vulpius und E.T.A. Hoffmann aus dem Jahr 1975. Es ist, als habe Dammann dieser alten apodiktischen Forderung mit seinem jüngsten Buch nun endlich nachkommen wollen.

Ganz hat er es nicht mehr geschafft. Der Germanist Günter Dammann (geb. 1941) ist am 24. November 2021 in Hamburg gestorben, ohne sein Buch Napoleon Bonaparte unter den Serapions-Brüdern völlig abgeschlossen zu haben. Sein Kollege Jan Christoph Meister, Professor für Digital Humanities an der Universität Hamburg, hat sich der Aufgabe unterzogen, aus den weit fortgeschrittenen Manuskripten und Entwürfen ein Ganzes zu machen. Er tut das mit äußerstem Takt, mit Präzision und freundschaftlicher Gewissenhaftigkeit.  

Als Ergebnis seiner Studien lässt sich vorab festhalten: Napoleon und der sogenannte „Napoleonismus“ sind im Werk Hoffmanns weitaus häufiger präsent, als das der früheren Hoffmann-Forschung zu entnehmen war. Allerdings: Ganz „neu“ sind die „Einblicke in E.T.A. Hoffmanns Erzählwerk“, die Dammann unter dem Aspekt der Napoleon-Rezeption bietet, nicht. Immerhin hat Michael Rohrwasser seinen glänzenden Essay Coppelius, Cagliostro und Napoleon mit dem Untertitel Der verborgene politische Blick E.T.A. Hoffmanns, den Dammann zu Recht lobend hervorhebt, schon 1991 vorgelegt. Aber Barbara Beßlichs unter dem Titel Apokalypse 1813 im E.T.A. Hoffmann Jahrbuch 11 (2003) erschienene Analyse der Flugschrift Die Vision auf dem Schlachtfelde bei Dresden, die sie 2007 in ihr weitausgreifendes Buch Der deutsche Napoleon-Mythos. Literatur und Erinnerung 1800-1945 eingefügt hat, bleibt bei Dammann unerwähnt, ebenso die nach den Erstdrucken faksimilierten und kommentierten Nachdrucke der Vision-Flugschrift durch Hartmut Steinecke (1988) und der antinapoleonischen Erzählung Der Dey von Elba in Paris durch Wulf Segebrecht (2015).

In vier Kapiteln präsentiert Dammann seine Thesen über die bisher weitgehend übersehene Präsenz Napoleons in E.T.A. Hoffmanns serapiontischen Erzählungen.

1. Das Fragment gebliebene Einleitungskapitel – es fehlt der von Dammann angekündigte Schluss über Hoffmanns Erzählung Erscheinungen – informiert über die Kriegsereignisse in und um Dresden im Jahr 1813 vor dem Hintergrund der Lebensumstände Hoffmanns und seiner schriftstellerischen Werke unter Einschluss seiner Tagebucheintragungen aus dieser Zeit. Dabei konzentriert sich Dammann auf die Dialogerzählung Der Dichter und der Komponist und stellt die beiden Gesprächspartner, Ludwig, den weltfremden Komponisten, der nur für die Kunst lebt, und Ferdinand, den zum patriotischen Kampf entschlossenen Dichter, als zwei Imagines Hoffmanns vor: Sie „sind unterschieden und doch eins“: In der Künstlerpersönlichkeit Hoffmanns treffen sie zusammen.

2. Mit seinem Märchen Nußknacker und Mausekönig, so lautet unzweideutig Dammanns These, bildet Hoffmann „die antinapoleonischen Befreiungskriege in Gestalt nächtlicher Schlachten zwischen einem Mausekönig, der ein Heer von Mäusen befehligt, einerseits und einem Nussknacker mit seiner zusammengewürfelten Schar von Spielzeug- und Lebkuchenfiguren andererseits nach“. Es gehe darum, das kurze Inhaltsreferat „üppig mit Material auszustaffieren“. Zu diesem „Material“ gehören u.a. die zeitgenössischen antinapoleonischen Karikaturen, die Napoleon als Mause- oder Rattenkönig darstellen, auch die französischen Feenmärchen und schließlich die Hässlichkeit des Nussknackers und die metaphorische Thematik des Essens: „Die moralische Hässlichkeit des Mausekönigs spiegelt die moralische Hässlichkeit des Usurpators Napoleon, die ihren Grund im unangemessenen rücksichtslosen Egoismus Napoléon Bonapartes hat. In der Thematik des Essens hat das Märchen ein Instrument gefunden, diesen Aspekt eindrucksvoll zur Geltung zu bringen“. Deutungen, die sich auf die Figur der kleinen Marie, auf ihre Sozialisation und sexuelle Initiation konzentrieren, tritt Dammann mit Nachdruck entgegen; sie seien geradezu „abwegig“, sagt er. Marie sei überhaupt „kein Lebewesen aus Fleisch und Blut, sondern eine semiotische Kunstfigur“. Und Droßelmeier, der Obergerichtsrat im ungewöhnlichen gelben Rock?

An dieser Stelle greift Dammann auf die antinapoleonische Erzählung Der Dey von Elba in Paris. Sendschreiben des Thürmers in der Hauptstadt an seinen Vetter Andres (1815) zurück. Dort stellt ein „ganz gelb gekleidetes Männlein“ dem Türmer jenes Perspektiv zur Verfügung, das es ihm erlaubt, nicht nur durch die Dächer in die umgebenden Häuser hineinzuschauen, sondern auch die Gespräche contra und pro Napoleon mitanzuhören, die dort geführt werden. „Freund Mondstrahl“ nennt der Türmer dieses freundliche Teufelchen, das sich dem Türmer als „Cicerone“ anbietet, um ihm zu erläutern, welche politischen Gruppierungen durch das Zauberglas zu sehen und zu hören sind. Dieses Männlein identifiziert Dammann mit dem Nain jaune. Le Nain jaune ist der Name einer pronapoleonischen, satirischen Zeitschrift, die 1814/15 erschien und ihrerseits zum Objekt der antinapoleonischen Karikaturistik wurde, wie Dammann an einem Beispiel zeigt: Der schwächelnde Napoleon benötigt, um mit dem Degen fechten zu können, ausgerechnet die Unterstützung durch die Zeitschrift Der Gelbe Zwerg. Eine echte Entdeckung! Doch wenn dann die kurze Geschichte der Zeitschrift ausgebreitet wird und sogar hinter dem Paten Droßelmeier in der Erzählung Nußknacker und Mausekönig allein deshalb wiederum und weiterhin angeblich der Nain jaune steht, weil Droßelmeier hin und wieder einmal ein „gelbes Röckchen“ trägt, dann erreicht Dammanns Interpretation den Status einer freischwebenden Spekulation. Zum bloßen „harmlosen Witzbold“ à la Nain jaune wird Droßelmeier jedenfalls dadurch nicht.

Mit dem harmonischen Ende des Märchens mag Dammann nicht ganz zufrieden sein; es sei vor dem Hintergrund der vorangegangenen temperamentvollen antinapoleonischen Arbeiten Hoffmanns zu zurückhaltend, zu sehr sotto voce gehalten. Das Märchen endet mit einer Wiedereinsetzung des Königtums – ein Gesinnungswandel E.T.A. Hoffmanns? Dammanns Interpretation endet hier leider, und der Herausgeber Jan Christoph Meister teilt nur mit, Dammann habe eine „kontroverse Replik zur vorgängigen Forschung“ geplant und Hoffmanns „heimliche Sehnsucht nach einer Wiederkehr prärevolutionär-idyllischer Zustände des Ancien Régime“ hinterfragen wollen.      

3. In seiner Abhandlung über Das Fräulein von Scuderi rechnet Dammann mit manchen bisherigen Kennzeichnungen der Erzählung ab. So handele es sich keineswegs um eine Kriminal- oder Detektivgeschichte, auch stehe nicht die Künstlerthematik im Vordergrund, und zwar weder im Hinblick auf die Scuderi noch auf Cardillac. Und was Olivier betrifft, so müsse „mit allem Nachdruck und aller Konsequenz“ gesagt werden, dass er ein Straftäter sei. Schließlich sei auch die These zurückzuweisen, der zufolge Hoffmann mit der Darstellung der polizeilichen Terrormethoden im absolutistischen Frankreich zugleich eine aktuelle Justizkritik habe betreiben wollen. Dammanns eigener, reizvoller Ansatz besteht darin, dass er mit dem „Sog einer Verstrickung“ der Hauptfiguren einem Erzählmodell Hoffmanns auf die Spur zu kommen meint, das auch in anderen Erzählungen begegnet. Dieser Verstrickungssog führt alle Figuren in aporetische Situationen. Cardillac sei „nichts anderes als ein weiterer Coppelius-Coppola“, heißt es. Die angebliche pränatale Prägung Cardillacs, die einen solchen Sog auslöst, relativiert Dammann allerdings mit Hinweisen auf die komplizierte „verschachtelte narrative Konstruktion“ dieser Informationen und empfiehlt, auf sie „kein übergroßes interpretatorisches Gewicht zu legen“ – ein Rat, dem nicht unbedingt folgen muss, wer in Cardillac eher die Figuration eines geborenen Handwerker-Künstlers zwischen Autonomie und Indienstnahme sehen möchte. Dammann beschließt seine Interpretation stattdessen mit einer epochen- und mentalitätsgeschichtlichen Betrachtung im Anschluss an Tocquevilles Beschreibung der Rolle des Individuums in einer nachrevolutionären Gesellschaft des Übergangs von der Aristokratie zur Demokratie. Besonders hat es ihm dabei die mehrfach wiederholte Formulierung Tocquevilles (in: De la Démocratie en Amérique) angetan, wonach die Demokratie das Individuum in die „Einsamkeit seines Herzens“ einzuschließen drohe („de le renfermer enfin tout entier dans la solitude de son propre cœur“). Damit ließen sich „von ihrer Macht“ Berauschte wie Cagliostro, Napoleon und Cardillac ebenso erklären wie die Verkümmerung des Einzelnen am Beispiel des Fräuleins von Scuderi und Olivier Brussons. Dammann versteht diese abschließenden, ein wenig abgehobenen Digressionen nicht als Nachweise im Sinne einer Einfluss-Forschung; sie sollen vielmehr „thematische Aspekte der hier analysierten Erzählung unterfüttern“.

4. Unter dem Titel „Satirische Erinnerung an den Napoleonismus“ liest Günter Dammann Die Königsbraut „als sarkastische Epochenelegie“. Dieser Blick allein ist schon, vergleicht man ihn mit den herkömmlichen Deutungen der Hoffmann-Philologie, nicht nur, wie versprochen, „neu“, er ist auch provozierend, schon allein deshalb, weil man als Leser etwa 20 Buchseiten hinter sich bringen muss, um endlich zu erfahren: „Der hohe Besuch, der sich verklausuliert in Dapsulheim angesagt hatte […], ist eine weitere Version jenes von Hoffmann im Stil der miniaturisierenden Satire konzipierten Napoléon Bonaparte“. Doch die 20 Seiten sind als vorgezogene Digressionen vielleicht entbehrlich, aber nicht überflüssig. Es geht darin um den zeremoniellen Einzug des Barons Porphyrio von Ockerodastes in der Form eines Pastiche, dessen burleske Beschreibung durch Hoffmann mit anderen Aufzügen in Romanen aus der Frühen Neuzeit verglichen wird. Da wird freilich die Tür, die auf ein sehr weites Feld führt, nur einen Spalt breit geöffnet, wenn man an die zahllosen Aufzüge anlässlich von hochrangigen Persönlichkeiten bei deren Einzug, bei Jubiläen, Hochzeiten und Festen aller Art denkt, die in Festbeschreibungen und auf illustrierten Flugblättern festgehalten sind. Dammann muss sich selbst nach seinen Abschweifungen mehrfach zur Ordnung rufen, um zur Sache, zur Königsbraut, zurückzukommen.

Dort findet Dammann nun eine ganze Serie von Allusionen auf „Napoleon in miniaturisierter Form“, die auch von den Zeitgenossen hätten erkannt werden können: Ännchens herrlicher Küchengarten wird als „Allegorie der Reformpolitik des französischen Kaiserreichs“ verstanden; in dem Baron Porphyrio sei eine „fiktionale Version des korsischen Barons Napoléon“ dargestellt; vom Charisma einer miniaturisierten  Napoleon-Replik zeigen sich Ännchen und der Baron von Nebelstern gleichermaßen beeindruckt, was Gelegenheit bietet, über die von Napoleon favorisierten Hofkünste und Hofpoesien zu berichten. Und sogar dem charakteristischen Zweispitz-Hut Napoleons begegne man – wenigstens im Namen „Corduanspitz“. Alles in allem: Hoffmann scheint sich „um ein historisch angemessenes Bild des Napoleonismus zu bemühen“, um eine „melancholische Vergegenwärtigung der Stimmung aus der aufregenden Zeit“. Es gehe in der Königsbraut „noch einmal um eine Befassung des Autors mit dem Napoleonismus, der zwar vergangen, aber nicht vergessen“ gewesen sei – „weder in seiner blendenden, von Stupor allerorten befeuerten Karriere noch in den Ruinen, die er vorübergehend in einer ihn anhimmelnden Bevölkerung erzeugt hatte“.   

Resümee: Günter Dammann hat seinen bisherigen Studien einen anregenden, streckenweise faszinierenden, ungewöhnlichen Forschungsbeitrag nachgetragen. Das Buch ist in den Thesen und Urteilen sehr persönlich und selbstbewusst gehalten. Dammann scheut kein Risiko, hat Lust zum Widerspruch und Freude an teils weiträumig dargebotenen Neuentdeckungen. Er diskutiert bekannte „Quellen“ Hoffmanns neu und schließt neue Bezüge auf. Daraus ergeben sich gelehrte, lesenswerte Digressionen, die kennzeichnend sind für Dammanns Stil und Verfahrensweise.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Günter Dammann: Napoleon Bonaparte unter den Serapions-Brüdern. Neue Einblicke in E.T.A. Hoffmanns Erzählwerk.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2022.
220 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-13: 9783826074998

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