Vom Scheitern am Leben und schadenfroher Genugtuung

Heinz Strunks „Ein Sommer in Niendorf“

Von Laura HoffmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Laura Hoffmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zu diesem Buch ist in literaturkritik.de bereits eine Rezension von Karsten Herrmann erschienen. Ausnahmsweise publizieren wir hier eine zweite, studentische Rezension. 

Heinz Strunk, Schriftsteller, Musiker und Schauspieler, feierte 2004 mit seinem autobiografischen Roman Fleisch ist mein Gemüse den nationalen Durchbruch. Schnell folgten weitere Romane, sein wohl erfolgreichster ist Der goldene Handschuh. Heute zählt er zu den erfolgreichsten Schriftstellern Deutschlands, ausgezeichnet mit Preisen wie dem Wilhelm Raabe-Literaturpreis oder dem Kasseler Literaturpreis. In seinem neuen Roman Ein Sommer in Niendorf – bereits jetzt für den Deutschen Buchpreis nominiert – erzählt er nun die Geschichte eines Mannes, der am eigenen Leben scheitert. Strunk selbst bezeichnet seine Erzählung als eine „Art norddeutsches Tod in Venedig“. Dieser Vergleich mit Thomas Manns bekannter Novelle weckt große Erwartungen.

In der Geschichte nutzt der Protagonist Georg Roth, seines Zeichens erfolgreicher Anwalt, eine dreimonatige berufliche Auszeit, um im abgelegenen Niendorf am Timmendorfer Strand einen ungestörten Sommer zu verbringen. Er will dort ein Buch über seine Familie, eine Abrechnung mit seinen Vorfahren, schreiben – eine anspruchsvollere Aufgabe, als Roth zunächst annimmt.
Doch die Prioritäten des Anwalts verschieben sich schnell und aus dem gut situierten Juristen wird ein heruntergekommener Alkoholiker, der sich selbst nicht mehr im Griff hat. So schlägt er im Streit seine Ex-Frau und begeht zudem Fahrerflucht, nachdem er betrunken einen Mann angefahren hat. Roth verachtet Breda, den Vermieter seines Apartments, denn er sieht in ihm den Verursacher seiner Veränderung. Doch Breda – ein unansehnlicher, vulgärer Schnapshändler – lädt Roth regelmäßig in seinen Laden ein.

Der passt ihn ab, lauert ihm auf, will ihn kontrollieren. Bredas Schatten verdunkelt ganz Niendorf. Roth geht jetzt immer einkaufen, wenn er den Typen auf Strandkorbpatrouille wähnt. Und dann schickt Breda ihm auch noch furchtbar ungelenke Gutenacht-SMS: «Wünsche, gut zu ruhen!» «Hoffe, Sie haben sich bestens eingelebt.» «Mittwoch kommt ein ganz frischer Brandy rein.» Dazu irgendwelche dämlichen Emojis. Sind wir jetzt ein Liebespaar, das sich Träum-süß-Grüße schickt?

Strunk erschafft mit seinem Protagonisten einen klischeehaften, erfolgreichen Mann mittleren Alters, unzufrieden mit der Welt und seinen Mitmenschen. Arrogant und herablassend fühlt Roth sich anderen in jeglicher Hinsicht überlegen – insbesondere Frauen, die für ihn lediglich als Sexobjekt fungieren. Die trockene, kurz angebundene und erbitterte Grundstimmung Roths lässt sich auch in der Sprache und Erzählweise des Romans wiedererkennen. Kurze Sätze, staccatoartige Dialoge sowie zeitliche und örtliche Sprünge lassen die Leserinnen und Leser erst nach einer Weil erahnen, in welcher Situation sich der Protagonist plötzlich wiederfindet. Das Geschehen wird schnell und trocken erzählt und lässt keinen Raum für Reflexion, da man sich ständig mit einer neuen Situation auseinandersetzen muss. Die personale Erzählperspektive wirkt sich auf die Stimmung der Leserinnen und Leser aus: Der Protagonist ist als Unsympath konzipiert, unterstützt wird dies durch die Wortwahl, mit der Strunk Roths Gedanken und Erlebnisse beschreibt:

Vom Leerlauf direkt in den Fünften, erreicht Simone binnen weniger Augenblicke Nähmaschinenwarpgeschwindigkeit, die Knethand walkt die Eier, was das Zeug hält; all dies unter dem strengen Auge des Rauchmelders, angeheizt von einer Symphonie aus Schnarchen, Röcheln, Schnaufen, Pfeifen und Rasseln (Breda). APOCALYPSE NOW! Roth wirft seinen Kopf von der linken auf die rechte Seite, stöhnt und keucht und sabbert, ihm steht der Schweiß auf der Stirn, ihm läuft der Schweiß in die Arschritze, ihm kommt der Schweiß schon aus den Ohren. Er nimmt Simones rechte Titte in den Mund, er kann nicht anders.

Die alltagsnahe und abwertende Sprache, die Roths Sicht auf die Welt – an dieser Stelle insbesondere auf sexueller Ebene – zeigt, lässt den Roman zunächst unsympathisch wirken, doch nach und nach wird klar, dass zwar der Protagonist abstoßend ist, nicht aber die Gesamtkomposition des Romans; personale Erzählperspektive und erlebte Rede bewirken, dass sich die Leserinnen und Leser dem Protagonisten nahe fühlen, obgleich dies nicht unbedingt gewünscht wird.

So ist es schließlich beinahe befriedigend zu sehen, wie der einst herablassende Anwalt förmlich an Allem und Jedem scheitert, seinen Job aufgibt, in Niendorf bleibt und nach dem Tod Bredas mit dessen Lebensgefährtin Simone ein Dasein fristet, das er Monate zuvor abgrundtief verachtet hat: Bredas Leben. Die Beziehung zu Simone zeigt schließlich, dass Roth sich zu einem hilflosen, kleinen Mann entwickelt, der gänzlich abhängig ist – eine Genugtuung für jene Leserinnen und Leser, die Roths sexistische Sicht auf Frauen als abstoßend empfinden.

Sich durch die Geschichte und Entwicklung Georg Roths zu quälen, kann sich lohnen, wenn man die Erzählweise Strunks als Kunst annimmt. Eben die Kunst, solche Eindrücke und Haltungen seitens der Leserinnen und Leser durch Sprache hervorzurufen, war es auch, die Heinz Strunk im Jahr 2016 den Wilhelm Raabe-Literaturpreis für seinen Roman Der goldene Handschuh verschaffte. Moritz Baßler, Professur für Literaturwissenschaft an der Universität Münster, hebt diese Fähigkeit Strunks in seiner Laudatio hervor:

Diese Literatur, die im engeren Sinne gar nicht aus dem Literarischen stammt, ist dennoch, auch und gerade in einem traditionellen Sinn, letztlich mehr Literatur als die Literatur-Literatur; denn Strunks Prosa arbeitet ja die ganze Zeit in und an Sprache und weniger auf der Ebene des Dargestellten, des Inhalts.

Baßler sieht in Strunks Erzählweise ein Zurückbesinnen auf das, was Literatur sein sollte – das Erzeugen von Komik und Tragik, von Ästhetik und Hässlichkeit allein durch Sprache. Und eben dies gelingt Heinz Strunk auch in Ein Sommer in Niendorf: Er erzeugt Gefühle, Unbehagen und Antipathie, zieht Leserinnen und Leser gänzlich in seinen Bann und lässt sie gleichzeitig ebenso unzufrieden wie ratlos zurück, da der Umstand, dass Roth am Ende mit seinem „neuen“ Leben zufrieden scheint, die Schadenfreude über sein Scheitern mindert.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Heinz Strunk: Ein Sommer in Niendorf.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2022.
240 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783498002923

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