Wenn Sprache zur Heimat wird

Die belarussische Dichterin Volha Hapeyeva beschreibt in „Die Verteidigung der Poesie in Zeiten dauernden Exils“, wie Menschen durch Diktaturen zu Nomaden werden

Von Nora EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Irgendwann kursierte der Begriff Exilliteratur. Zweierlei verband sich damit: Zum einen die literaturgeschichtliche Beschäftigung mit Autor*innen, die nach 1933 aus Deutschland emigrieren mussten und damit ihr Lesepublikum und in den meisten Fällen ihre Existenzgrundlage verloren, und zum anderen das Bestreben, überhaupt mit den im Exil entstandenen Werken bekanntzumachen, indem einige Verlage entsprechende Editionsreihen in ihre Programme aufnahmen, um so die Werke aus dem Vergessen in das Bewusstsein der Nachgeborenen zurückzuholen. Das enthielt zum einen die Aufarbeitung eines dunklen Kapitels deutscher Geschichte mit all den damit verbundenen biografischen Brüchen und zum anderen einen Akt der literarischen „Wiedergutmachung“. Am Ende ging es darum, ein Bewusstsein für die oft prekären Lebens- und Arbeitsbedingungen des Exils zu schaffen. Und vielleicht konnte man glauben, Exil sei eine abgeschlossene, historische Angelegenheit und erledigt mit dem Sieg über das NS-Regime. Die Wahrheit indes: Exilliteratur ist nichts Singuläres, ihre Wahrheit liegt vielmehr im Plural, denn Diktaturen hören nicht auf, Menschen zu vertreiben und zu verfolgen. Exil ist zu einem Dauerzustand auf der Welt geworden, wie ein kleines weißes Büchlein bezeugt, dessen Titel von Zeiten dauernden Exils spricht.

Das Büchlein enthält einen 20 Druckseiten umfassenden Text und noch einiges mehr, den die 1982 in Minsk geborene Lyrikerin, Autorin, Übersetzerin und promovierte Linguistin Volha Hapeyeva verfasst hat. Ausgezeichnet wurde der Text mit dem Literaturpreis für kritische Kurztexte „Wortmeldungen“. Jeder Satz darin steht für eine Lebenserfahrung der Autorin und jeder ist so eindringlich und genau wie es sonst nur das Leben selbst sein kann. Kurzum, dieser Text ist von einer wohl kaum überbietbaren Intensität – und die verdankt sich auch seiner Sprache.

Wann sind wir wirklich zuhause? Die Frage stellte die französische Philosophin Barbara Cassin in ihrem im letzten Jahr auf Deutsch erschienenen Buch Nostalgie. Darin heißt es: „Die Aussage, dass das Exil Modellcharakter für die gegenwärtige Conditio humana besitzt und wir alle Exilanten sind, fällt natürlich sehr viel leichter, wenn man selbst nicht oder nicht wirklich in einer solchen Lage ist.“ Wie wahr. Auch Hapeyeva spricht vergleichbar von einer Bedingung des Menschseins und wählt dabei den im Gegensatz zum Begriff Exil keineswegs politisch konnotierten Begriff des Nomadischen. Und wie bei Cassin findet auch sie in der Sprache den eigentlichen Zufluchtsort. „Mein Zuhause ist die Poesie“, heißt es am Schluss.

Doch wenn man auf der Flucht ist, dann bietet die Sprache kein Dach über den Kopf:

Ein Hotelzimmer ist mein Zuhause, ein Gästezimmer bei einem Freund – Zuhause; Flughäfen, Bahnhöfe – auch die. Das ist eine Art nomadisches Denken. Der Versuch dazuzugehören. Wenn man keine eigene Wohnung hat, wird jeder Ort zu einem potenziellen Zuhause. Ist das Verzweiflung oder Hoffnung? Viele Jahre des Reisens und das Fehlen einer eigenen Wohnung haben mich daran gewöhnt.

Mit Hannah Arendt teilt Hapeyeva übrigens die Abneigung gegen einen Begriff wie „Geflüchtete“. Arendt sprach lieber von „Neuangekommenen“. Hapeyeva wiederum erkennt in Emigrant, Flüchtling und Exilant Worte, die „aus der Position der Staatlichkeit heraus entstanden“ seien. „Ich möchte nicht in solchen Begriffen denken – also höre ich bei Nomaden auf.“ Das Nachdenken über Wörter nennt sie gar eine „berufliche Deformation“. Denn natürlich weiß sie, dass Sprache nie neutral und objektiv ist – „sie ist immer politisch“. Und sie kann ebenso ein Instrument der Entmenschlichung werden durch beleidigende Worte, verbale Aggressionen und durch Hassrede, die sich „unter dem Recht auf freie Meinungsäußerung verschleiert“.

Es sind nicht zuletzt Diktaturen, die einen dazu zwingen, ein überlebensnotwendiges Sprachbewusstsein zu erlangen: „Menschen, die unter undemokratischen Regierungen leben, sind es gewohnt, in der inneren Emigration zu leben – ein Leben in zwei parallelen Welten, von denen die eine fremd und hässlich ist.“ Da es in den beiden Welten keine gemeinsame Sprache gibt, fehlt auch die Verständigung. Wie sollte die auch möglich sein, wenn ein verbrecherischer Krieg nicht so, sondern „militärische Spezialoperation“ genannt werden muss. Traurig ist auch, dass Hapeyevas Essay wohl immer aktuell bleiben wird.

Dem schmalen Band sind ebenso drei Gedichte beigegeben, die auf ihre Weise vermitteln, was Exil auch sein kann:

[…]
man kann das meer durch einen see ersetzen
den see – durch den fluss
die espen durch platanen
eine belarussische stadt durch ein schweizer dorf
und trotzdem auf einer holzbank sitzen
und an nichts denken

Oder auch dies:

[…]
und immer öfter spreche ich mit motten und vögeln
sie fragen nicht nach irgendetwas
sie sind einfach da
und erlauben
mir
einfach da
zu sein

Titelbild

Volha Hapeyeva: Die Verteidigung der Poesie in Zeiten dauernden Exils.
Aus dem Belarussischen von Matthias Göritz.
Verbrecher Verlag, Berlin 2022.
72 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783957325327

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