Kommentare zu Kleist

Gerhard Oberlin legt mit „Kleist verstehen“ eine heterogene Essaysammlung vor

Von Christina RossiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christina Rossi

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gerhard Oberlin nennt es sein „zweites Kleist-Buch“, doch im Vergleich zu seiner wissenschaftlichen Monographie von vor 25 Jahren ist sein nun erschienener Band Kleist verstehen grundlegend anders angelegt. Dabei geht es, mit einer Ausnahme, um die gleichen sieben Erzählungen Heinrich von Kleists. Die im Band vollständig abgedruckten Prosatexte hat Oberlin mit eigenen analytischen Skizzen von jeweils rund zehn Seiten versehen. Mit diesem – übrigens weder aus dem Titel noch dem Klappentext des Bandes ersichtlichen – Konzept etablierte der Verlag Königshausen & Neumann jüngst eine Reihe mit dem Untertitel „Text + Deutung“ für Gerhard Oberlin, in deren Rahmen aktuell bereits Bücher zu Rilke und Kafka entstanden sind.

Kleist verstehen richtet sich dennoch (wohl) nicht in erster Linie an forschungsorientierte Leser. Grundsätzlich liefern Oberlins Essays, die im Band auf den ersten Blick nur als knappe Dekore zu den Prosatexten Kleists erscheinen, keinen Überblick über die bereits mannigfaltig vorliegenden Forschungsansätze zum Werk Kleists. Sie nehmen zudem in Kauf, die umfangreiche und vor allem die jüngere Forschungsliteratur auszublenden – etwa drei Viertel des Literaturverzeichnisses datieren auf den Zeitraum 1905 (!) bis 1999. Auch legen sie wenig Wert auf umfassende, erschöpfende Deutungen. Mal thesenhaft und schlaglichtartig pointiert, mal sprunghaft perspektivierend und detailphilologisch kontextualisierend, setzen Oberlins essayistisch gehaltene Skizzen (die er selbst als Kommentare bezeichnet) in der Regel unmittelbar bei den Texten an und beleuchten diese mitunter sehr selektiv, immer aber mit hohem analytischem Gewinn. Vor diesem Hintergrund bildet vielmehr das innovative Potential der Kommentare den Maßstab der Lektüre und zugleich auch den Mehrwert des Buches. Und dieses ist durchweg – wenn auch nicht für alle Essays gleichermaßen stark – vorhanden.

In seiner Einführung erklärt Oberlin seinen Zugang zu Kleist, wobei er besonders auf die dargestellten Mechanismen von Gewalt eingeht. Er verortet die Erzählungen zwischen „Zerstörungskreislauf“ und „Vorenthaltenem“ und thematisiert im Sinne des Buchtitels auch die Suche nach Sinn als Sinn der Lektüre selbst (mit Lacan) bzw. die Erkenntnis der Pluralität der Stimmen (mit Barthes) als Moment der Auflösung und der Bewusstseinsambivalenz. All diese Aspekte nehmen dann in den einzelnen Kommentaren aber kaum Raum ein. Das Erdbeben in Chili liest Oberlin beispielsweise als eine „auf dem Kopf stehende Herleitung apokalyptischen Denkens“, als ein „Figurenspiel“, das „die Koppelung von Utopie und Apokalypse als psychisches Auswegparadox inszeniert“. Zwar ist er nicht der erste, der den Begriff der Utopie im Kontext dieses Textes heranzieht, trotzdem ist seine auch rhetorisch plausibilisierte Deutung dennoch innovativ argumentiert und kontextualisiert. Doch bleibt der Kommentar in seiner Tiefe und Reichweite hinter bereits vorgelegten Forschungsbeiträgen zurück (etwa dem Johannes Lehmanns, der in seiner Monographie zu Kleist eine brillante Analyse zu diesem Werk vorgelegt hat, und zwar auch, ohne dabei die gesamte Forschung und Entstehungsgeschichte aufzuarbeiten).

Die fünf Seiten Kommentar zu Der Findling leisten innovative close readings, die überaus anregend sind. Hier führt Oberlin mal explizit, mal implizit in Idee der Ordnung(en) und Gegenordnung(en) ein, die für viele Erzählungen Kleists relevant sind. Dies lässt weiteres, hier allerdings nicht ausgeschöpftes Analysepotential vermuten. Überhaupt reißt Oberlin in seinen Kommentaren viele sehr anregende Kontexte und Begriffe an, streift diese allerdings eher als sie weiterzuverfolgen. Der Eindruck, dass zum Teil auch vielversprechende Gedanken nicht ausreichend zu Ende gedacht wurden, schmälert den gelehrten Eindruck der Kommentare zwar keineswegs, weist aber das Bedürfnis des Lesers nach „Verstehen“ (das der Titel des Bandes verspricht) hier und da doch ein wenig abrupt ab.

Zum Bettelweib von Locarno fällt Oberlins Kommentar deutlicher detaillierter aus. Auch hier arbeitet er inhaltlich vielfältig kontextualisierend und leistet eine vergleichsweise erschöpfende Darstellung von Forschungsansätzen, motivischen und literaturhistorischen Aspekten und methodischen Zugängen zum Text. Auf nur rund sechs Seiten entfaltet er demgegenüber zu Die Marquise von O…  im Grunde lediglich eine (an sein erstes Kleist-Buch erinnernde) psychologisierende Lesart. Diese spart viele wichtige Aspekte des Textes aus, angefangen bei dem für den Text selbst so zentralen Mechanismus der Aussparung bis hin zu Konflikten zwischen Normordnungen. So wird dieser Kommentar der keineswegs, wie von Oberlin behauptet, „am wenigsten verstandene[n], weil vertrackteste[n]“ Erzählung letztlich nicht ganz gerecht. Das ist bei dem Buch angesichts des Konzepts, das ihm zu Grunde liegt, zwar nicht vorzuwerfen, lässt aber den Buchtitel Kleist verstehen doch hier und da etwas vermessen klingen.

In Stil und Umfang variieren Oberlins Kommentare von Erzählung zu Erzählung insgesamt also stark. Diejenigen Kommentare, die von einer These aus entfaltet werden, geraten deutlich origineller und tiefgreifender als diejenigen, die sich an bereits etablierten Zugängen abarbeiten und – scheinbar infolgedessen – eigenen, neuen Ideen weniger Raum lassen. Stilistisch und methodisch sind sie nicht selten von Verweisen auf Kleists Motivationen und Intentionen und Oberlins stark psychologisch grundierten Zugang zu den Texten geprägt. Damit bleibt er in der wissenschaftlichen Tradition seines „ersten Kleist-Buchs“, bringt inhaltlich aber durchaus neue Aspekte und sehr lesenswerte Deutungen in die Kleist-Forschung ein.

Titelbild

Gerhard Oberlin: Kleist verstehen. Text + Deutung.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2022.
338 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-13: 9783826076220

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