Ein Meister des szenischen Witzes

In seinem neuen Roman „Ein Sommer in Niendorf“ führt uns Heinz Strunk an die Ostseeküste und erzählt in seiner unvergleichlichen Manier eine (Fehl-)Entwicklungsgeschichte der besonderen Art

Von Karsten HerrmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karsten Herrmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Heinz Strunks Protagonist und Ich-Erzähler Roth ist ein erfolgreicher Anwalt, frisch geschieden und hat vor dem Antritt einer neuen Stelle einen Sommer lang Zeit zu tun, was er will. Er mietet sich ein kleines Apartment in Niendorf am Timmendorfer Strand und plant, seine Familiengeschichte zu schreiben. Ihm, der wohl als einziger an diesem Ferienort im Maßanzug herumläuft, befällt alsbald aber ein „Gefühl beschämender Andersartigkeit“ und „diffuser Beklemmung“.

Durch seinen ihn ständig heimsuchenden Hausverwalter und nebenberuflichen Delikatess-Spirituosenhändler Breda wird Roth jedoch unvermittelt in eine völlig andere Welt katapultiert: In die „Welt des Wabbels, Fusels, Schimmels, der Eiflecken und ungeschnürten Schuhe […], in der man ungeniert popelt, furzt, rülpst und sich den Saft übers Kinn laufen lässt.“

Nach und nach beginnt Roth die Freuden des Alkohols und des Rausches sowie die Gesellschaft Bredas mehr und mehr zu schätzen. Seine literarischen Ambitionen, die er durch ein legendäres Treffen der Gruppe 47 im Jahre 1952 in Niendorf bestärkt sieht, drohen dabei jedoch ins Hintertreffen zu geraten und er muss sich eingestehen: „Ein Buch zu schreiben ist, wie Wasser aus einem Stein zu pressen“.

Unter dem Deckmantel der Schriftstellerexistenz entfesselt sich Roth immer mehr von Disziplin und Ehrgeiz und groovt sich in ein alkoholgeschwängertes „dolce far niente“ mit gefährlichen Nebenwirkungen ein. Halt gibt ihm nur noch das benachbarte Ehepaar Klippstein, das ihn nach seinen Exzessen bei Breda und in der Proleten-Kneipe „Spinner“ rührend umsorgt und betüttelt.

Heinz Strunk ist Meister einer sinnlich-zupackenden Prosa voller origineller Metaphern sowie der blitzschnellen Charakterisierung von Menschen und Sujets. Er überzeichnet und verfremdet dabei mit breitem Strich und lässt Bilder wie aus dem expressionistischen Universum von Otto Dix oder George Grosz auferstehen. In der Strunk-Welt ist alles leicht verkommen und siffig, aber auf eine ganz eigene Weise doch auch irgendwie wieder allzu menschlich und sympathisch. Strunk bleibt dabei immer nah bei seinen Figuren und stellt sie nur selten ganz ins Abseits – so wie in diesem Roman auf herrliche Weise die Tochter von Roth, die von ihm mit überschäumendem sarkastischem Witz als völlig hoffnungsloser und sich durchs Leben schnorrender Kim Kardashian-Verschnitt charakterisiert wird.

Schwächen zeigt Strunks Roman jedoch in der Entwicklung und Dramaturgie der Geschichte, die zuweilen etwas auf der Stelle tritt und in sich selbst und ihrem Pointen-Feuerwerk zu kreisen droht. Nichtsdestotrotz bietet Ein Sommer in Niendorf ein höchst kurzweiliges und amüsantes Lesevergnügen.

Titelbild

Heinz Strunk: Ein Sommer in Niendorf.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2022.
240 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783498002923

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