Gewinn der Mitte

Der Sammelband „Poetik der Mitte“ entdeckt eine nützliche Formel für Walter Kempowskis Poetik

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie kommt ein Autor zur Mitte und was richtet er darin an? Mit der Poetik der Mitte haben die Literaturwissenschaftler Tom Kindt, Marcel Lepper und Kai Sina eine Formel gefunden, mit der sich die Autorschaft Walter Kempowskis (1929–2007) originell aufschlüsseln und einordnen lässt. In einem Sammelband, der aus einem Kolloquium an der Berliner Akademie der Künste im September 2019 hervorgegangen ist, lassen sie diese Poetik der Mitte in einer Reihe von anregenden Beiträgen drehen und wenden. 

Diese Mitte-Formel ist allerdings kein künstlicher Fokus außerhalb exzentrischer Bahnen, kein Versuch, manche Widersprüche der Kempowski-Rezeption zu versöhnen und den populären Schriftsteller auf den Schild eines Literaturkanons zu hieven. Vielmehr geht es darum, ‚Mitte‘ als Komplexitätsbegriff für jene entdramatisierten Pluralitäten und tolerierten Ambiguitäten zu gewinnen, an denen Kempowskis Romane und Erinnerungscollagen so reich sind, und ihren ideengeschichtlichen Ort zu bestimmen. Dabei stehen nicht zufällig der Roman Tadellöser&Wolff (1971) und das zehnbändige Collagewerk Echolot (1993–2005) im Mittelpunkt der Untersuchungen. In diesen Werken von Kempowski, die als seine bekanntesten und wirkungsvollsten anerkannt sind, klingen die Impulse des Vermittelns und Mitte-Suchens am deutlichsten an: durch die Redemimesis der bürgerlichen Figuren, die romantische Ironie der Dialoge, ihren sentenzartigen Traditionsanspruch. Auf Kempowskis sprichwörtliches „Wie isses nun bloß möglich?“ ließe sich da die Antwort geben: durch den Abschied vom Experimentellen und Prinzipiellen, den Rückzug aus der großen Geschichte auf die kleinen Geschichten, durch moderate Modernisierungskritik – und vielleicht auch durch die Krawatte, die wir den Autor auf vielen Fotos tragen sehen, als spätbürgerlichen Habitus.

Durchaus kontrovers sind die literaturgeschichtlichen Anschlussversuche einiger Beiträge des Bandes zu sehen. Während Goethe, Thomas Mann, Jaspers als Ahnherren des Mitte-Konzepts mit guten Gründen in Stellung gebracht werden können, überzeugt die musikalische Brücke zu Adorno weniger. Einleuchtend ist die gewiss beidseits unwillentliche und vielleicht auch unwirtliche Verwandtschaft Kempowskis zu Enzensberger, dessen Diagnosen aus den 1970er und 1980er Jahren über eine selbstzufriedene Mittelstandsgesellschaft, der nichts mehr einfällt, worüber sie streiten könnte, der geistigen Haltung von Kempowskis Figuren erstaunlich nahekommen. Noch erstaunlicher ist allerdings, wie der Autor Gerhard Henschel mit seinem Romanhelden Martin Schlosser einen enthusiastischen Kempowski-Leser ins Werk gesetzt hat, wie Hanna Engelmeier in einem fabelhaften Beitrag nachweist.

Die Poetik der Mitte ist eine nützliche Formel, um Kempowski vor seiner archivalischen Unterschätzung und der avantgardistischen Überschätzung zu retten. Vom Autor selber gibt es allerdings kaum essayistische oder poetologische Belege dafür. Es bleibt uns wohl nichts Anderes übrig, als sein episches Archiv und die autobiographischen Legenden aus der Mitte seiner Werke für sich sprechen zu lassen.

Titelbild

Tom Kindt / Marcel Lepper / Kai Sina (Hg.): Poetik der Mitte. Walter Kempowski im literatur- und ideengeschichtlichen Kontext.
Wallstein Verlag, Göttingen 2020.
256 Seiten, 26,90 EUR.
ISBN-13: 9783835338463

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