Der Stärkere denkt nach

Die Geschichte der Menschheit kann man auch als Geschichte der „Macht“ lesen. Silvio Vietta erklärt in seinem gleichnamigen Buch, warum uns das auch bei der Lösung aktueller und künftiger Konflikte helfen könnte

Von Sebastian MeißnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Meißner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Alle entscheidenden Fortschritte der Menschheitsgeschichte stünden im Zusammenhang mit Macht, behauptet Silvio Vietta im Vorwort seines neuen Buches Macht. Eine kleine Kultur- und Universalgeschichte der Menschheit von den Anfängen bis heute. Macht versteht der emeritierte Professor an der Universität Hildesheim dabei zum einen als körperlich, handwerklich, militärisch, ökonomisch (Macht 1) und andererseits als kontrollierend, sozial, vertraglich (Macht 2). Während „Macht 1“ also die (gewaltsame) Ausübung von Dominanz meint, kontrolliert „Macht 2“ die erste durch friedliche Verhandlungen und Teilung der Macht, also durch zum Beispiel Formen der Demokratie und die Verteilung von Macht auf mehrere Instanzen (Legislative, Exekutive, Judikative). Zwischen diesen ambivalenten Polen vollziehe sich die Menschheitsgeschichte als eine Geschichte der Macht. Ein fruchtbarer Ansatz, mit dem Vietta seine Universalgeschichte deutlich von älteren Modellen abgrenzt, etwa dem von Friedrich Schiller, der die gesamte Geschichte als einen ewigen Kulturfortschritt von der rohen Barbarei zu immer zivilisierteren Formen betrachtete.

Vietta sieht Macht als Treiber, als Motor der Entwicklung. Macht, so schreibt Vietta an einer Stelle des Buches, sei „ein ständiger Begleiter der Menschheitsgeschichte wie Hunger, Durst und der Sexualtrieb.“ Die Geschichte der Menschheit ist über weite Strecken eine Geschichte von „Macht 1“. Mit Hilfe von Sprache, Verstand und Werkzeugen habe „das kleine und instinktmäßig schlecht ausgerüstete Wesen ‚Mensch‘“ ­es geschafft, eine geradezu „unheimliche“ Macht über die Natur zu erlangen – und damit auch über alle vorhergehenden Stufen der Evolution, über Pflanzen, Tiere und auch Menschen. Sprache und Verstand sind also die Hauptmittel der Macht des Menschen. Gleichzeitig befindet sich die Menschheit permanent in Auseinandersetzungen. So stellen etwa Faktoren wie Sprache, Religion, Besitzverteilung, gesellschaftliche Hierarchien sowie die steigende Bedeutung militärischer Macht im Wettkampf der Imperien Konfliktherde dar, die die Ausübung von Macht voraussetzen und fördern.

An zahlreichen Beispielen aus der Geschichte zeigt Vietta anschaulich, wie der Hunger nach Macht ständiger Motor für menschliches Handeln ist und umgekehrt wie menschliches Handeln diese Machtstrukturen und -muster ständig verfestigt. Dazu bedient sich der Autor auch einer kulturellen Typologie in Tabellenform, die verstehen helfen will, wie sich Machtausübung und -gebrauch vom Homo Sapiens (ca. 300.000 v. Chr.) bis zum Homo Technicus (ab dem frühen 18. Jahrhundert) verändert haben.

Vietta gelingt es, seine Theorie sowohl in der Frühgeschichte der Menschheit zu behaupten (wenn es etwa um religiöse Macht, die Stärkung durch Zusammenschluss, den Kampf des modernen Menschen gegen Neandertaler geht) als auch im weiteren Verlauf der menschlichen Evolution (die Macht der Erfindungen, die Machtverteilung in frühen Stadtkulturen, den Aufbau von Imperien, die Macht von Kulturen bis hin zur Eroberung der Erde durch den europäischen Kolonialismus).

Und heute? In der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts, so Vietta, zeige sich eine gewisse Rückkehrsehnsucht nach diktatorischen Herrschertypen. Gleichzeitig ist die Rationalitätskultur in der globalisierten Welt in eine Krise geraten. So habe laut Vietta insgesamt die Gefahr zugenommen, dass Weltmachtansprüche kriegsähnliche Spannungsfelder erzeugen. Entscheidend sei daher, diese Konflikte in solche der „Macht 2“ zu überführen. 

Der Kampf um Vorherrschaft wird künftig vermutlich nicht mehr durch Wachstum und Stärke gewonnen. Gerade die Unterwerfung der Natur als Machtdemonstration stehe nun auf dem Prüfstand, so Vietta. Die Zukunft der Menschheit könne nur in Einstimmung mit der Natur – nicht gegen sie – gelingen.  Der homo technicus – soweit wagt sich Vietta aus dem Fenster – werde in Zukunft noch eine Vielzahl technischer Transformationen durchlaufen. Vietta sieht darin einen Grund zur Hoffnung auf Machtkontrolle durch eine vernünftig agierende Gegenmacht. An einen Menschen ohne Machtbestreben glaubt er nicht. Die Geschichte der Macht werde in der Geschichte der Menschheit nicht enden.

Titelbild

Silvio Vietta: Macht. Eine kleine Kultur- und Universalgeschichte der Menschheit von den Anfängen bis heute.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2021.
230 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783826074707

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