Die zunehmende Quantifizierung des Alltagslebens

In ihrem Buch „Soziologie des Wertens und Bewertens“ expliziert die Soziologin Anne K. Krüger die Grundzüge einer neuen soziologischen Teildisziplin

Von Gertrud Nunner-WinklerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gertrud Nunner-Winkler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit Nietzsche seine Verwünschung: „Hole […] der Teufel […] die Statistik“ ausstieß, ist die Macht der Zahlen stetig weitergewachsen, die Welt immer messbarer geworden. Diesem Trend zur Quantifizierung unterliegen auch Bewertungen. So etwa bemisst sich der Wert eines Wissenschaftlers an seinem Zitationsindex und steigt mit der Zahl seiner Artikel in renommierten Zeitschriften. Mit voranschreitender Digitalisierung erfolgen Bewertungen dann zunehmend häufiger durch intransparente Algorithmen – zum Beispiel bei Buchempfehlungen von Amazon oder bei Bonitätsbewertungen von Banken. Solche Veränderungen in den Praktiken sozialer Bewertungen diskutiert Anne Krüger.

In der ersten Buchhälfte analysiert sie Schritte der ersten Quantifizierungsstufe des Bewertens: Ausgangspunkt sind die je verwendeten Kategorisierungen. Diese bilden nämlich nicht – wie alltagsweltlich unterstellt – die objektiv gegebene Wirklichkeit einfach ab. Vielmehr reflektieren und verstärken sie implizite Werthaltungen, die – nicht zuletzt dank statistischer Bearbeitungen – bald als ‚soziale Tatsachen’ und damit als selbstverständlich und legitim wahrgenommen werden. Krüger illustriert dies an Neuerungen berufsstatistischer Erhebungen: Als Messeinheit galt nun nicht länger der Haushalt, sondern das Individuum. Daraus ergaben sich veränderte Kategorisierungen: Man unterschied ‚tätige‘ und ‚untätige‘ Personen und definierte Arbeit nicht als nutzenstiftende, sondern als monetär vergütete Tätigkeit. So wurde ganz unauffällig Hausarbeit entwertet und unsichtbar gemacht. Zunehmend häufiger werden den je unterschiedenen Kategorien Zahlen zugewiesen. Dies erlaubt, Rangreihen zu erstellen, die sich bald selbst bestätigen. Solche Rückkoppelungseffekte der Quantifizierung von Bewertungen belegt Krüger anhand einer Studie über das Ranking von Hochschulen: Hoch bewertete Universitäten zogen mehr erfolgversprechende Studenten an, gewährten Stipendien nach Leistung (nicht nach Bedürftigkeit) und schönten ihre Erfolgsstatistiken (vermerkten etwa bei ihren berufstätigen Absolventen nicht, ob deren Tätigkeit ausbildungsgerecht war, oder beschäftigten gar einige vorübergehend auf Universitätsstellen). Quantifizierungsprozesse erfüllen wichtige Funktionen und zeitigen (erwünschte und unerwünschte) Folgen.

Diese von Krüger im Detail analysierten Aspekte von Bewertungspraktiken seien an einem alltagsweltlichen Beispiel illustriert. In einem bildungssoziologischen Seminar Ende der 1970er erwähnte ich, dass der NC erst vor wenigen Jahren eingeführt worden war. Ungläubiges Staunen. Dann stellte einer der Studenten die alle bewegende Frage: „Haben denn die Schüler ohne NC überhaupt gelernt?“ Offensichtlich erlebten die Studenten den NC als allzeit gültiges und unerlässliches Erfordernis – als Moment der objektiven Wirklichkeit. Unbemerkt bleibt, wie solch verdichtete Bewertungen schrittweise sozial erzeugt werden. Zunächst erfolgt eine Kategorisierung inhaltlich völlig unterschiedlicher Äußerungen der Schüler in natur- und geisteswissenschaftlichen Fächern als Leistungen. Diese werden miteinander verglichen und mit Noten bewertet, aus denen dann beim Abiturzeugnis ein Durchschnittswert errechnet wird. Nun lassen sich die Schüler des ganzen Landes in eine Rangordnung bringen, die die Zuweisung der begrenzten Zahl von Studienplätzen bestimmt. Diese Transformation vielfältiger qualitativer Unterschiede in eine Maßzahl reduziert Komplexität. Dabei wird der Anschein von Objektivität und Neutralität erzeugt, der die Verteilung knapper Güter als unparteilich und gerecht zu legitimieren vermag. Zugleich wirkt sich das Wissen um folgenreiche Bewertungen disziplinierend auf das Verhalten der Schüler aus, stiftet Konkurrenz zwischen ihnen und generiert Anpassungsreaktionen. So etwa wählen viele Schüler Leistungskurse nicht in erster Linie nach ihren Interessen oder Neigungen, sondern im Blick auf die Maximierung erzielbarer Punkte. Insgesamt zeigt das Beispiel: Sind soziale Praktiken erst einmal institutionalisiert, werden sie von den Akteuren rasch internalisiert. Hinfort gelten sie als nicht weiter hinterfragte Selbstverständlichkeit.

Folgenreicher noch ist die zweite Quantifizierungsstufe. Immer mehr (öffentlich zugängliche, durch Nutzertracking erhobene oder von den Nutzern selbst eingespeiste) Daten werden im Blick auf kommerzielle oder auch politische Nutzungsmöglichkeiten aggregiert und computergestützt ausgewertet. Damit wandeln sich Bewertungskriterien und -praktiken. Dies zeigt Krüger an dem Vergleich eines etablierten Hotelführers mit einer Bewertungsplattform. An die Stelle von Experten, die anhand standardisierter Kriterienkataloge die Leistungen eines Hotels evaluieren, tritt eine Vielzahl anonymer Nutzer, die nach ihren je eigenen Präferenzen urteilen. Algorithmen übersetzen dann diese subjektiven Bewertungen in Rangordnungen. Empfehlungsplattformen verändern sogar die Praktiken des Kategorisierens. Mittels automatischer Mustererkennung generieren sie etwa Lektüre- oder Musikvorschläge, die weder an Merkmalen der Objekte noch an persönlichen Interessen der einzelnen Nutzer, sondern allein an Ähnlichkeiten des Nutzungsverhaltens aller erfassten Konsumenten orientiert sind. Zunehmend bestimmen solch rein korrelativ erzeugte Ähnlichkeitsmuster nicht nur Empfehlungen für Urlaubsorte und Musikstücke, sondern auch die Vergabe von Krediten, Wohnungen und Arbeitsplätzen. Dabei bleiben nicht nur die eingesetzten Algorithmen, sondern auch die in den Daten gespiegelten Diskriminierungen intransparent. Vor allem aber tritt die Berechnung von Korrelationen an die Stelle der Erforschung von Ursachen und dies zunehmend auch in der Wissenschaft.

Der zweite Teil des Buches geht einen Schritt zurück und fragt: Wie kommen Wertzuschreibungen überhaupt zustande? Und welche Bedeutung haben gesellschaftliche Wertordnungen? Bei der ersten Frage verweist Krüger auf kulturgebunden wertverleihende Kategorisierungen, die durch geeignete Narrative Legitimität erzeugen. Zum Beispiel gelang Lebensversicherungen eine gewinnbringende Umdeutung: Die verwerfliche Zuschreibung eines profanen monetären Werts zum ‚heiligen‘ Leben wurde neu klassifiziert und galt fortan als Indikator altruistischer Vorsorge für die Hinterbliebenen. Werden weiterhin qualitative Bewertungen genutzt (etwa bei Weinproben, wissenschaftlichen Begutachtungen, Literaturkritiken), so sucht man Legitimität durch den Verweis auf die Unparteilichkeit und Expertise der Urteilenden zu stiften. Dabei wird Einzigartigkeit in der Spätmoderne zu einem besonders wichtigen Kriterium für Wertzuschreibung. Dieses Streben nach Besonderheit interpretieren einige Autoren als Korrelat einer wachsenden gesellschaftlichen Bedeutung von Kultur, andere als Zeichen einer umfassenden Ökonomisierung des Privaten.
Bei der Frage nach der Bedeutung gesellschaftlicher Wertordnungen referiert Krüger unterschiedliche Einschätzungen. Klassische Theoretiker (etwa Durkheim oder Parsons) sehen ein kollektiv geteiltes Wertesystem als notwendige Bedingung gesellschaftlicher Stabilität. Neuere Ansätze hingegen gehen von einem Nebeneinander multipler Wertordnungen aus. So beschreibt die ‚Soziologie der Kritik‘ unterschiedliche Rechtfertigungsordnungen mit je eigenen Prinzipien (z.B. Welt des Marktes mit Eigennutz und Konkurrenz; häusliche Welt mit Loyalität und Autorität). Trotz dieser unterschiedlichen Welten können Individuen sich jedoch dank ihrer reflexiven Kompetenzen verständigen, Kompromisse eingehen und so auch in Konfliktsituationen Ordnung aufrechterhalten. Auch der Neo-Institutionalismus beobachtet konfligierende Deutungsrahmen (z.B. Demokratie mit Partizipation und Kontrolle durch das Volk; bürokratischer Staat mit Hierarchien). Solche Widersprüche – so die Interpretation – eröffnen individuelle Freiheitsspielräume und befördern sozialen Wandel. Zugleich können sich auf der Basis der unterschiedlichen Wertordnungen einzelne Kollektive zusammenschließen und gegen andere abgrenzen.

Abschließend schlägt die Autorin Querschnittsthemen für künftige Forschungen vor – die materielle Basis der Praktiken des Bewertens (etwa die technische Gestaltung digitaler Infrastrukturen), die Herstellung von (Un)Sichtbarkeit durch Bewertungsprozesse, die Einbettung von Bewertungspraktiken in gesellschaftliche Machtverhältnisse. Kurz: „Weitere Themen sind möglich. Das Forschungsfeld ist aktiv. Fortsetzung folgt.“

Das Buch ist als Einführung gedacht. Es ist verständlich geschrieben. Die Lesbarkeit ist auch erleichtert durch den Verzicht auf die Nennung beider Geschlechtsformen: Die Autorin hat sich für das generische Femininum entschieden (ich persönlich hätte wohl den durchaus auch leserfreundlichen Doppelpunkt bevorzugt). Der Text ist klar gegliedert und mit prägnanten Stichworten am Seitenrand versehen. Krüger versteht es, die luziden theoretischen Erwägungen durch Befunde aus einschlägigen empirischen Studien einleuchtend zu konkretisieren. Insbesondere die in der ersten Buchhälfte vorgetragene Analyse der (Be)Wertungspraktiken, ihrer Funktionen und Folgen, sind erhellend, informativ und faszinierend.

In diesem Zusammenhang möchte ich eine kleine Ergänzung vorschlagen. Entwicklungspsychologische Forschungen zum kindlichen Begriffsverständnis zeigen: Schon früh bauen Kinder ein theoriegeleitetes Begriffssystem auf, das auf drei Grundannahmen basiert: Generalisierbarkeit (Merkmale eines Exemplars lassen sich auf alle Mitglieder dieser Kategorie verallgemeinern), Konstanz (trotz äußerlicher Veränderungen bleibt ein Objekt das gleiche), Wesensannahme (alle Mitglieder einer Kategorie teilen basale – inhaltlich allerdings je kulturspezifisch bestimmte – Gemeinsamkeiten). Hinfort generalisieren sie dann nicht mehr nach äußerlich beobachtbaren Merkmalen, sondern nach kategorialer Zugehörigkeit. Genau das verleiht den in den Klassifikationssystemen enthaltenen Wertungen (etwa negativen Stereotypisierungen) ihre nicht durchschaute Wirkmächtigkeit.

Weniger überzeugt haben mich Krügers Ausführungen zu kollektiv geteilten Wertsystemen. Zwar werden in der Moderne Fragen des guten Lebens von Moral unterschieden und (weitgehend) dem Entscheidungsspielraum der Individuen anheimgestellt – es gibt also multiple Wertordnungen. Gleichwohl dürfte jedoch eine geteilte Minimalmoral (wie sie etwa in demokratischer Rechtsstaatlichkeit verkörpert ist) unerlässlich sein für die Stabilität liberaler Gesellschaften. Auch Krügers Verweis auf die notwendige Einbettung von Bewertungssystemen in Machtverhältnisse bleibt verkürzt. Macht stützt sich nicht allein (sensu Foucault) auf Diskurse und Praktiken, nicht allein auf Ideen und Werte. Insbesondere in nicht-demokratischen Staaten spielen Befehlsgewalt, die Kontrolle über die Armee oder die Geheimpolizei eine entscheidende Rolle: „Alle Macht“ – so Mao – „kommt aus den Gewehrläufen.“

Ungeachtet der kleinen Anmerkungen halte ich das Buch für sehr gelungen. Es bietet eine analytisch differenzierte, empirisch solide gestützte Einführung in eine längst überfällige neue, auch durch dieses Buch (mit)konstituierte Teildisziplin der Soziologie – die ‚Soziologie des Wertens und Bewertens‘.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Anne K. Krüger: Soziologie des Wertens und Bewertens.
Transcript Verlag, Bielefeld 2022.
232 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783825257224

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