Dem Untergang geweiht

Theresia Enzensberger erzählt in ihrem Roman „Auf See” vom Scheitern fiktiver und realer Gesellschaftsutopien

Von Steffen KrautzigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Steffen Krautzig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ganz am Ende, in den Literaturhinweisen zu ihrem zweiten Roman Auf See verweist Theresia Enzensberger auf eine Biografie über Ada Lovelace, Mathematikerin und Tochter des berühmten Dichters Lord Byron. Auch in Sharon Dodua Otoos häufig besprochenem Roman Adas Raum (2021) spielt Ada Lovelace eine wichtige Rolle. Sowohl Otoo als auch Enzensberger verknüpfen historische Figuren mit fiktionalen Erzählungen, springen in ihren Texten auf unterschiedliche Arten durch Zeit und Raum.

Enzensbergers Auf See spielt in einer nahen Zukunft. In kurzen Kapiteln erzählt die siebzehnjährige Yada über ihr eintöniges Leben auf einer künstlichen Insel in der Ostsee. Ihre Ich-Erzählungen wechseln sich mit aus auktorialer Perspektive geschriebenen Episoden aus dem Leben der Berliner Künstlerin Helena ab – im Laufe des Romans nähern sich die Zeitebenen beider Erzählstränge an, bis sie sich nach etwa zwei Dritteln berühren und sich der Roman am Ende in einzelnen Kapiteln anderen, zumeist weiblichen Figuren widmet, die schon früher in die Geschichte eingeführt wurden. Dieser schnelle Wechsel der Kapitel beschleunigt die Lesegeschwindigkeit – auch wenn die Inhalte dabei nicht immer mithalten können. Dazwischengeschoben sind acht als „Archiv“ betitelte kurze Essays, in denen vom Scheitern realer Gesellschaftsutopien aus den vergangenen Jahrhunderten, den Wurzeln des Neoliberalismus oder den zerstörerischen Auswirkungen menschlichen Handelns allgemein – immer sind es größenwahnsinnige Männer – berichtet wird. Der letzte dieser feuilletonistischen Beiträge beschäftigt sich mit Yadas Vater, Fiktion und Realität verschwimmen.

Ob Umweltzerstörung oder die riesige Kluft zwischen Arm und Reich – viele kleine, oft beiläufig eingebaute Beispiele machen die Romanwelt insgesamt plausibel. (Das Tempelhofer Feld ist inzwischen mit Büro-Hochhäusern bebaut, die aber als Investmentruinen leer stehen, während wohnungslose Menschen in Zelten im Tiergarten hausen.) Weniger überzeugend sind hingegen die Motivationen der handelnden Personen selbst. Warum wird sich Yada erst nach 10 Jahren auf der „Seestatt“ genannten künstlichen Insel bewusst, dass sie eigentlich eine Gefangene ihres Vaters ist? Expert*innen aus aller Welt unterrichten sie täglich stundenlang online, hätte sie da nicht früher etwas ahnen können? Was hat Yadas Vater eigentlich mit ihr vor? Warum ist er selbst nicht auf der Insel? Warum bringt er Rebecca mit auf die „Seestatt“, in die sich Yada verliebt und die ihr bei der Flucht hilft?

Auch andere Figuren wirken wie Statist*innen, die nur dazu da sind, zu einem bestimmten Zeitpunkt eine kleine Funktion zu übernehmen, und dann wieder abtauchen. Gleichzeitig blitzen zwischendurch auch Geschichten auf, von denen man gern mehr erfahren hätte: Helenas Leben als Künstlerin, die als eine Art Guru Anhänger*innen um sich schart, erinnert an das Spätwerk der Performance-Künstlerin Marina Abramović. Eine genauere Beschreibung sowohl Helenas als (Anti-)Künstlerin, ihres Werks als auch ihrer Anhänger*innen hätte spannend sein können, da sich am überhitzten Kunstmarkt teilweise absurde kapitalistische Mechanismen besonders gut verdeutlichen ließen. Vieles auf der Handlungsebene des Romans bleibt leider zu oberflächlich.

Auf See steht in der Tradition klassischer Science Fiction-Bücher. Schon Jules Verne ließ eine von Milliardären gebaute Propellerinsel (1895) über die Meere ziehen – und natürlich am Ende auseinanderbrechen. In H. G. Wells‘ Zeitmaschine (ebenfalls 1895) lebten Morlocks im Untergrund in einer grausamen Symbiose mit den Elois auf der Erdoberfläche. Diese Zwei-Klassen-Gesellschaft erinnert auch an Auf See: Enzensbergers „Seestatt“ ist nämlich nur vermeintlich autark. Nicht weit entfernt schwimmt ein ausgedientes Kreuzfahrtschiff, auf dem vor allem Frauen unter menschenunwürdigen Bedingungen hausen. Nur sie ermöglichen den Betrieb der „Seestatt“. In der dortigen Kantine wird übrigens Soylent ausgegeben, ob es sich wie im Science Fiction-Film Soylent Green (1973) um Menschenfleisch handelt, bleibt glücklicherweise offen.

Anspielungen, Aktualisierungen und Umdeutungen wie diese zu finden, macht Spaß. Doch wenn vor allem in den „Archiv“-Beiträgen reale Ereignisse eins zu eins die Romanhandlung begründen, wird die Message zu offensichtlich. Die Geschichte von Valeska Paris, die 12 Jahre auf einem Scientology-Schiff festgehalten wurde, um dort täglich hart in einem Restaurant zu arbeiten, hätte es in dem Roman zum Beispiel nicht gebraucht. Die Botschaft an uns Leser*innen ist ohnehin klar: „Die brüchigen Systeme der Insel waren auf die Ausbeutung von Menschen angewiesen, deren Leben sich in einer Parallelwelt abspielte. Und alle wussten davon – nur tat niemand etwas.“ Der Roman übt laut Gesellschaftskritik und fordert unmissverständlich zum Handeln auf. Vielleicht kommt daher der in anderen Rezensionen geäußerte Verdacht, Auf See richte sich vor allem an Jugendliche?

Trotz vieler interessanter inhaltlicher Ansätze und einer ausgetüftelten Konzeption springt der Funke nicht richtig über. Das liegt neben den blassen Charakteren auch an der unspezifischen, oft journalistischen Sprache. Sibylle Bergs Dystopie GMR. Brainfuck (2019) hat vor allem deswegen so eine Wucht und Energie, weil der harte Sound zum düsteren Inhalt passt. Oder ein aktuelles Beispiel, das es anders als Auf See leider nicht auf die diesjährige Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat: Die zeitgemäße, moderne Sprache in Julia von Lucadous großartigem Roman Tick Tack (2022) trägt und verstärkt die Handlung. Mit beiden Büchern kann Auf See leider nicht mithalten. 

Titelbild

Theresia Enzensberger: Auf See. Roman.
Hanser Berlin, Berlin 2022.
272 Seiten, 24 EUR.
ISBN-13: 9783446273979

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