Und wieder eine Beerdigung

Laura Cwiertnia beschreibt in ihrem Roman „Auf der Straße heißen wir anders“ Armeniens Vergangenheit und Zukunft

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als gäbe es keine andere Möglichkeit, über familiäre Migrationskontexte zu schreiben, als den Tod Familienangehöriger zum Anlass zu nehmen, avancierte in den letzten Jahren der letzte Abschied von (Groß-)Müttern und (Groß-)Vätern zum zentralen Motiv und Auslöser literarischer Erinnerungsströme schlechthin. So fliegt in Nava Ebrahimis Roman Sechzehn Wörter (2017) Mona mit der Mutter zur Beisetzung der Großmutter nach Teheran oder fährt der Protagonist in Marko Dinićs Roman Die guten Tage (2019) zur Beerdigung des Vaters mit dem ‚Gastarbeiterexpress‘ nach Belgrad. Dorthin zieht es aus dem gleichen Grund auch Sandra Gugićs Protagonistin im Roman Zorn und Stille (2020), während Nastasja Penzars Yona (2021) sich nach dem Tod ihres Vaters in seine ihr fast unbekannte südamerikanische Heimat begibt, um dort ihre Familiengeschichte aufzuarbeiten. Man reist in das Herkunftsland (der Eltern) und fühlt sich zu einer Auseinandersetzung mit der vermeintlich längst hinter sich gelassenen Heimat gezwungen.

Auch Laura Cwiertnia nutzt in ihrem Debüt diesen Kunstgriff, um ein schwieriges Stück Historie als Familiengeschichte zu erzählen. Die Großmutter verstirbt diesmal in Bremen-Nord, weshalb die promovierende Enkelin Karla dorthin, an den Ort ihrer Kindheit, „an dem man das Leben nicht sonderlich gemocht hat“, zurückkehrt. Sie wird, wie es scheint, überhaupt erst bei der Beerdigung intensiv mit den armenischen Traditionen konfrontiert. Die armenische Liturgie, für die ein Priester über 100 Kilometer anreist, gehört zu den 14 Wünschen der Großmutter, die alles ihr Wichtige auf einem Zettel notiert hatte. Karla taucht in die ihr fremdvertraute Kultur und das Familienleben ein, sieht die Tante eine Handvoll Walnüsse als Proviant für die letzte Reise ins Grab werfen und als bei der Verteilung des Nachlasses ihr unbekannte Personen mit Schmuckstücken bedacht werden, fasst sie den Entschluss, mit dem Vater unbedingt und umgehend nach Armenien zu reisen, wo sie beide noch nie gewesen sind. Sie wollen dort auch Lilit Kuyumcyan, der die Oma den goldenen Armreif vermacht hatte, finden und ihr Geheimnis lüften.

Cwiertnia beschreibt in 19 Kapiteln die Eindrücke ihrer Protagonistin vom Erinnerungsort Bremen und dem Kennenlernen des Sehnsuchtsortes Armenien. In den Rückblenden wird abwechselnd aus der Ich- und der auktorialen Erzählperspektive von den prägenden Erlebnissen des Kindes „Karlotta“, des Vaters Avi, der Großmutter Maryam und deren Mutter Armine berichtet. Der Roman ist eine stimmig erzählte literarisch-fiktionale Reise, die aus Bremen-Nord nach Jerusalem, Istanbul und Armenien sowie zu den dunkelsten Momenten der armenisch-türkischen Geschichte führt.

Bremen-Vegesack ist Karlas abgehängter Kindheitsort, wo der Schulleiter bei 19 von 31 Namen seiner Schülerinnen und Schüler, weil ‚exotisch‘, ins Stottern kam und der Wortführer der Migrantenkids von damals heute als Laubbläser arbeitet. Klara selbst hat es geschafft und kann mit einem Lächeln auf diese Jahre zurückblicken, sie „als Erinnerung ins Gedankenregal sortieren“. Spielplatztreff mit Drehscheibe, Disco, Eis, Pommes, Wodka, Joints oder „Pumpernickel […] mit Frischkäse und Gurken“ lassen auf eine herkömmliche Kindheit schließen, zu der auch die Diddl-Maus und die Backstreet Boys gehörten. Es war für sie rückblickend kein Zuhause, für das man sich, wie sie es einst tat, schämen müsste. Und zu den ‚Fremden‘, die jeden Sommer in der Heimat verbrachten, zählte sie sich schon damals nicht, da sie als einzige Schwimmbadsommerferien in Bremen genoss und sonst kein Mädchen in ihrem Umfeld eine Kurzhaarfrisur oder eine Latzhose trug. Sonnenblumenkerne konnte wiederum nur sie nicht ohne Finger aufbeißen und essen. Sie sprach nur Deutsch, beherrschte nicht einmal Türkisch, geschweige denn Armenisch, was zuhause ein Problem darstellte: „Die Worte wurden zu einer Mauer, die sich zwischen sie und den Rest der Familie schob“. Alsbald ging Karla an die Universität und ihren eigenen, erfolgreichen Weg.   

Die Großmutter Maryam hatte es zwei Generationen zuvor ungleich schwerer: minderjährig verheiratet, Analphabetin ohne jede Schulbildung, im Beruf gemobbt, privat ein Kind verloren und geschieden worden. Sie folgte Anfang der 1960er Jahre dem Ruf nach Deutschland. Die Bundesanstalt für Arbeit hatte in Istanbul extra eine Verbindungsstelle eingerichtet, unterzog die ausländischen Arbeitskräfte einer strengen gesundheitlichen Überprüfung, kontrollierte bisweilen akribisch, ob es nicht doch geeignete deutsche Kandidat*innen für die Anwerbeanliegen der deutschen Unternehmen gäbe und vergab nur Einjahresverträge, was zu einem Austausch der Arbeiter*innen in einem Rotationsprinzip führte. Karlas Großmutter arbeitete auf diese Weise als Gastarbeiterin in Frankfurt, Bochum, Kiel und schließlich – „Ende, Nordmende“ – in Bremen, wo sie als ungelernte Fabrikarbeiterin Fernseher zusammenschraubte und zur „Almancı“ (‚Deutschländerin‘) wurde.

Maryam war zwar aus Istanbul, aber keine Türkin, wie alle in Deutschland dachten. Ihre Mutter Armine war „Medz Yeghern“ (dt.: die große Katastrophe), dem Völkermord an den Armeniern 1915, nur durch Zufall entronnen. Sie war vom Vater ins Nachbardorf geschickt worden und erfuhr von der einzigen Überlebenden, ihrer kleinen Schwester Lilit, dass die ganze Familie und das ganze Heimatdorf ausgelöscht worden waren. Dieser Tag nimmt ihnen Vergangenheit und Zukunft und ist für ihre spätere Trennung verantwortlich. Armine lebt anschließend bei einer türkischen Familie, nimmt einen türkischen Namen an und lässt auch ihre Tochter Maryam nur als „Meryem“ auf die Straße. Der aufkommende Nationalismus und die Angst vor dem türkischen Mob Anfang der 1960er Jahre macht Maryam den Abschied noch leichter. Aber sie schuftet sich in Deutschland kaputt, lamentiert über die kalten Deutschen und lässt sich von ihnen ausnutzen.

Dem Werdegang von Karlas Vater, Avedis Kunduracı, sind drei Kapitel gewidmet. Avi wird schon mit elf von seinem strengen Vater aus Istanbul nach Jerusalem in ein Kloster geschickt, um Priester zu werden. Aber die Basargerüche und -regeln, das Abenteuer Jerusalem, reizen ihn so sehr, dass er aus dem Kloster ausgeschlossen und nach Hause geschickt wird. Dort arbeitet er als Zeitungsverkäufer und Filmstatist, widersetzt sich den Verboten des Vaters und entflieht mit 17 bei erster Gelegenheit mit Onkel und Tante zur Mutter Maryam nach Bremen, die ihren eigenen Sohn zuerst gar nicht erkennt. Deutschland, das bedeutet für Avi anfangs Autos, Lastwagen, Wohlstand und ein tolles Junggesellenleben.

Der Lebemann und seine Tochter erliegen Jahre später in der unbekannten Heimat der mystischen Faszination des heiligen Berges Ararat, der auch das Buchcover ziert. Während Avi Armenisch spricht, aber von den Einheimischen nicht verstanden wird, lernt Karla endlich die Sprache ihrer Familie und wirkt dennoch wie eine Fototouristin, die sich Land und Leute neugierig und ganz genau anschaut. Ihr Vater, der als Kind nicht einmal wusste, dass es Armenien gab, bemerkt, dass man sogar seine Muttersprache vergessen kann. Die beiden wohnen in einem privat vermieteten Zimmer, feilschen nur aus Spaß und lassen sich vom Taxifahrer Sergej die weitere Umgebung zeigen. Avi bekommt schnell Heimatgefühle, während Karla sich förmlich ‚armenisiert‘. Sie genießen das Boom-Land, aus dem der berühmte Charles Aznavour stammt, vor allem kulinarisch und nach dem mitreißenden Bosporus in Istanbul den stillen Sevansee.

Die Annäherung an und den schwierigen Umgang mit einem nicht selbst erlebten Völkermord kann jede*r nachvollziehen, der Gedenkstätten des Holocaust besucht hat. Es ist Karlas Anliegen, den Denkmalkomplex zum Gedenken der Opfer des Völkermordes an den Armeniern unbedingt besuchen zu wollen und weil ihr Vater schon in ihrer Jugend diesem Thema stets ausgewichen ist, zieht sie alleine los. Zwar wurde Karla in ihrer Schulzeit in Bremen auf Demonstrationen mit Teenagern damit konfrontiert, dass ihre Vorfahren 1955 wohl Opfer des Pogroms in der Türkei geworden sind, aber sie musste das Geschehene wegen der Tabuisierung in der Familie selbst recherchieren. Ihre Reise nach Armenien hat neben der kulturellen Entdeckungsreise auch das Ziel, mit der schrecklichen Vergangenheit der Vorfahren Frieden zu schließen. Das Treffen mit Meline, der Enkelin von Lilit Kuyumcyan, ihrer Urgroßtante, stellt hier einen Schlusspunkt dar.

Laura Cwiertnia setzt sich in ihrem Roman neben einer bundesdeutschen Kindheit, wie sie in einer Bremer Vorstadt unter Migrationsbedingungen erfahren wurde, mit dem entbehrungsreichen Leben der kämpferischen Großelterngeneration, der großes Unheil widerfahren ist, auseinander. Da die Großmutter und die unmittelbar nachfolgende Generation es verpasst haben, sich zu Lebzeiten über die Familiengeschichte auszutauschen, fällt nach dem Tod der Großmutter die Aufgabe, die verhängnisvolle Vergangenheit zu erarbeiten, der Enkelin zu.

Karlas Reise in die geschichtlichen Abgründe eines Volkes zeigt, was Tabuisierung bewirkt, wenn wichtige Familienmitglieder fehlen oder schweigen, die im Laufe der Zeit die Erinnerungen an das Geschehene hätten überliefern können. Diese eingeschränkte Multiperspektivität beeinträchtigt die Rekonstruktion und das Nachvollziehen von Geschichte. Bilder des neuen, bereisenswerten, gastfreundlichen und großzügigen Armeniens müssen die so entstandene Lücke im Roman füllen: Was sich nicht zweifelsfrei klären lässt, wird literarisch erfunden.

Titelbild

Laura Cwiertnia: Auf der Straße heißen wir anders. Roman.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2022.
240 Seiten, 22 EUR.
ISBN-13: 9783608981988

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