Enttäuschte Hoffnungen

Mirjam Wittig verbindet in ihrem Debütroman „An der Grasnarbe“ die Flucht aufs Land mit Fragen zum Klimawandel

Von Liliane StuderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liliane Studer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die junge Restauratorin Noa lebt in der Stadt. Ein bisschen auf der Suche, ein bisschen unterwegs, planlos, ziellos. Doch dann wird sie aufgeschreckt, erschüttert, irgendetwas will nicht mehr aufgehen, sie wird von Angst und Panikattacken überfallen. Um diesen zu entfliehen, um zurück zu sich selbst zu finden, mietet sie sich bei Ella und Gregor sowie deren elfjähriger Tochter Jade auf einem Hof in Südfrankreich ein. Hier, so wünscht sie sich, will sie zur Ruhe kommen, den Zyklen der Natur folgen, sich aufs Wesentliche konzentrieren.

Noa findet keine Idylle. Ella und Gregor, die als klassisches Aussteigerpaar gesehen werden können, haben nach Jahren körperlich anstrengender Arbeiten und täglicher Herausforderungen resigniert und können dem Leben auf dem Lande nicht mehr viel abgewinnen. Der Alltag ist hart, jeder Tag ein Überlebenskampf, der Hof wirft letztlich zu wenig ab, doch fehlen Kraft und Energie, um etwas zu ändern. Vor allem Gregor ist nicht mehr jung und die Ideale längst verflogen. Das Paar hat sich auseinandergelebt, eine Trennung steht trotzdem nicht zur Diskussion, mangelt es doch an alternativen Lebensentwürfen, nachdem man sich vor Jahren für den gemeinsamen Ausstieg entschieden hat.

Vielleicht sind es diese Unsicherheiten, die Noa trotzdem eine Stabilität geben. Sie ist auf sich allein gestellt. Ohne dass sie Anleitungen bekäme, lernt sie schnell. Sie begleitet die Schafe, macht, was es zu tun gibt, ohne zu hinterfragen. Sie schafft es, eine Beziehung zu Jade aufzubauen. Und bleibt trotzdem auf eine seltsame Art unbeteiligt – vielleicht braucht sie genau das. Dabei zu sein, ohne zu müssen, ohne sich zu verpflichten. Oder anders gesagt: Niemand interessiert sich hier für die Probleme, die Noa in der Stadt hatte. Auch nicht dafür, was Noa in Zukunft will. Ja, letztlich geht es nicht einmal darum, was Noa hier in dieser Familie, auf diesem Hof möchte oder sucht. Noa ist da, und das geht in Ordnung. Sie hilft heute mit, umso besser. Was morgen ist, schauen wir morgen.

Die an sich prekäre Situation auf dem Hof verschärft sich durch die Klimaveränderung, die überall zu spüren ist. Trockenheit, starke Regenfälle, Futterknappheit, Ernterückgang sind Herausforderungen, mit denen Ella und Gregor konfrontiert und denen sie letztlich hilflos ausgeliefert sind. In ihrer Zurückgezogenheit sind sie ganz auf sich gestellt – das Paar hat kaum Kontakt zu Leuten in der Nachbarschaft und spricht auch immer weniger miteinander. Zwar ist man zusammen verantwortlich für den Hof, doch längst weit entfernt von einem Miteinander. Noa kommt dies immer wieder gelegen, bleibt sie damit doch ebenfalls außen vor und auf sich gestellt.

Mirjam Wittigs Debütroman An der Grasnarbe hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Zum einen entwickelt er vor allem zu Beginn einen seltsamen Sog. Hier gelingt es der Autorin, mit ruhiger Sprache und gleichzeitig schnellen Wechseln eine Spannung aufzubauen, die flirrt und mitzieht. Zum anderen schwächt sich das Interesse zunehmend ab. Eine Gleichgültigkeit, parallel zum Unbeteiligtsein der Hauptfigur, legt sich auch auf die Leserin/Rezensentin, die sich zunehmend fragt, warum sie die Familie und den Hof in Südfrankreich, die Ängste der Hauptfigur, die schwierigen Momente in deren Leben weiterverfolgen soll. Was sich zu Beginn als spannende Ausgangslage präsentiert hat, verändert sich nach und nach und mündet in  Belanglosigkeit. Dem Text, der Sprache, der Geschichte fehlt hier die Kraft, trotzdem für sich einzunehmen.

Titelbild

Mirjam Wittig: An der Grasnarbe.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022.
190 Seiten, 23 EUR.
ISBN-13: 9783518430620

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