Von der Corona-Politik in den Transhumanismus?

Ulrike Guérot rechnet in „Wer schweigt, stimmt zu“ mit zwei Jahren Pandemiemanagement ab und wirft grundsätzliche Fragen nach unserer Art zu leben auf

Von Maximilian LippertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maximilian Lippert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sie war als wissenschaftliche Mitarbeiterin von prominenten Bundes- und Europapolitikern sowie als Direktorin von Think Tanks wie dem German Marshall Fund oder dem European Council on Foreign Relations tätig, hat an verschiedenen renommierten Universitäten gelehrt, aktuell als Professorin für Europapolitik in Bonn, und ist als Verfechterin einer konsequenten politischen Einigung Europas ein gern gesehener Gast in Talkhows gewesen. Ulrike Guérot ließ sich also durchaus im politischen Mainstream verorten und erlitt dennoch vor knapp einem Jahr eine mediale Rufmordkampagne, die von polemischer Kritik aus dem journalistischen und akademischen Milieu bis hin zu Morddrohungen reichte. Der Grund dafür war die harsche Kritik der Politologin am politischen und gesellschaftlichen Umgang mit der Corona-Pandemie, die da bereits andere Personen des öffentlichen Lebens in Erklärungsnot gebracht, zuweilen gar ins gesellschaftliche Abseits gedrängt hatte. Guérot hat das alles dennoch nicht davon abgehalten, diese Kritik noch einmal ausformuliert und weitergedacht in ihrem Buch mit dem an Hannah Arendt angelehnten Titel Wer schweigt, stimmt zu vorzulegen, das all jenen gewidmet ist, „die nicht so leben können, wie wir jetzt leben“.

Der Essay beginnt mit einer Schilderung persönlicher Erlebnisse der Autorin. Es war im März vor zwei Jahren, als Guérot am Wiener Donaukanal, alleine auf einer Parkbank sitzend, die Frühlingssonne genoss und plötzlich von vier bewaffneten Polizisten gebeten wurde, den öffentlichen Raum zu verlassen. Sie schreibt:

Der Vorfall war so bizarr, dass ich ab da der Überzeugung war, dass ein Großteil der Gesellschaft kollektiv in eine Übersprungshandlung getreten war. […] Alle drängten unter Panik in einen Zug, der immer schneller Fahrt aufnahm. Es war der Zug der Coronamaßnahmen. Wer, wie ich, nicht in diesen Zug eingestiegen ist, hat das Zeitgeschehen von einer anderen Warte beobachtet und ist heute von der Gesellschaft entfremdet. Zwei Jahre schon fährt dieser Zug unaufhaltsam einem Ziel entgegen, das niemand mehr kennt.

So hatte die Autorin beim Niederschreiben dieser Überlegungen im Januar noch das „Gefühl, dass die […] längst rollende Lawine des Corona-Diskurses an Fahrt aufnimmt und eigentlich nur noch die Frage ist, wann sie wo aufprallt“. Doch der von ihr prognostizierte durch öffentlichen Protest sowie neue wissenschaftliche Erkenntnisse herbeigeführte „Dammbruch“ in der Corona-Debatte ist ausgeblieben. Mittlerweile haben der Krieg in der Ukraine sowie die Angst vor Inflation und einem Zusammenbruch der Energieversorgung das Thema Corona weitestgehend von den Titelseiten und aus den Talk-Runden verdrängt. Ohnehin treten die sich aneinander ablösenden Krisen – Banken-, Währungs-, Flüchtlings- oder Klimakrise – in immer kürzeren Zeitabständen auf den Plan, überlagern sich vielmehr gegenseitig. Doch wenn eine gesellschaftliche Dynamisierung die andere jagt, bleibt kaum Zeit für Klärungs- und Aufarbeitungsprozesse, die im Hinblick auf die Pandemiepolitik der letzten Jahre allerdings dringend geboten wären.

Guérot versteht ihren Essay als Versuch, „die Tabuzone zwischen Leitmedien und alternativen Medien zu durchbrechen“. Sie möchte ihre gesellschaftliche Stellung nutzen, um die Diskurse zu verbinden und so kritische Argumente in die bürgerliche Mitte zu transportieren. Nur darin sieht sie eine „Chance auf Versöhnung“ und die Hoffnung, „dass ein politisches System […] nicht über die Klippe des demokratischen Rubikon springt“. Überhaupt fordert die Autorin keinen radikalen Systemwandel, sondern die Bewahrung dessen, was die liberale Demokratie verspricht, aber zunehmend zu Lippenbekenntnissen verkommen lasse: Gewaltenteilung, Rechtstaatlichkeit, Pluralismus, körperliche Selbstbestimmung und generell fundamentale Grund- und Freiheitsrechte.

Bei ihrer Diagnose der „gesellschaftlichen Kollateralschäden“ und der „Verformung der Demokratie“ durch zwei Jahre Pandemiemanagement einer Politik, die sich „völlig verrannt“ habe, nimmt Guérot indes kein Blatt vor den Mund und geht mit verschiedenen gesellschaftlichen Subsystemen, die für eine funktionierende Demokratie unabdingbar sind, hart ins Gericht. So habe sich das Versagen der Justiz in einer De-facto-Aushebelung der Verwaltungsgerichtsbarkeit durch evasiv gedehnte Floskelsätze im Infektionsschutzgesetz sowie im zurückhaltenden Handeln des der Politik bei der Pandemiebekämpfung sämtliche Freiheiten lassenden Verfassungsgerichts geäußert. Die privaten wie öffentlich-rechtlichen Medien wiederum seien geradezu durch „Gleichschaltung“ geprägt gewesen und haben einen „Informationskrieg“ geführt, in dem diskurspolizeiliches Agieren durch mit öffentlichen Geldern finanzierte sogenannte Faktenchecker sowie Zensur statt kritischem Nachfragen und Einbeziehen relevanter Erkenntnisse an der Tagesordnung gewesen seien. Die schärfste Kritik trifft allerdings den Wissenschaftsbetrieb, der kritische Forscher ausgegrenzt habe. Der „Ausverkauf der Geisteswissenschaften“ wird genauso bemängelt wie die „Unterwerfung der Sozialwissenschaften unter die sogenannte ‚Quanti-Fraktion‘“, wobei Wissen auf Zahlen und quantifizierbare Größen reduziert, die Interpretationsbedürftigkeit solcher Sachverhalte hingegen zunehmend vernachlässigt worden sei. Auf den Punkt gebracht: „Žižek, Chomsky oder auch Habermas schrieben ihre dümmsten Artikel ever.“

Das „eigentlich Fatale, das Skandalöse am Corona-Diskurs“ sei jedoch die „systematische Andichtung von Verschwörungsnarrativen“ auf Maßnahmengegner, um unbescholtene Bürger permanent medial herabzuwürdigen und an den politischen Rand zu drängen sowie jede legitime Kritik nach Belieben zu stigmatisieren. „Selten wurde über einen Diskurs so viel strukturelle Macht – um nicht zu sagen: Gewalt! – einer meritokratischen Elite ausgeübt“, attestiert Guérot und führt weiter aus, „dass der gesamte Corona-Diskurs fast lehrbuchartig nach den einschlägigen Propaganda-Mechanismen funktioniert hat“, wie sie etwa vom französischen Soziologen Jacques Ellul beschrieben worden sind. Durch die systematische Berieselung mit ausgewählten Informationen, die gezielte Erzeugung von Angst sowie sinnstiftende Aufrufe zur Pflicht sei ein Teil der Gesellschaft „in einer Art kollektiven Psychose gelandet“. Deshalb umtreibt die Autorin auch die Frage nach den psychologischen Langzeitfolgen jenes Festklammerns an der Autorität: „Welche Gesellschaft steht uns also bevor? Vor allem, wo wir ganze Alterskohorten von Kindern und Jugendlichen daran gewöhnt haben?“

Wo die politische Linke den virologischen Sachzwang affirmiert und den Klassencharakter des Pandemiemanagements weitestgehend ausblendet, stellt Guérot die dringend notwendige Frage nach „Macht- und Kapitalinteressen“ als „Treiber vermeintlich notwendiger Corona-Maßnahmen“. Sie bemüht hierbei einen strukturellen Machtbegriff, macht aber beispielsweise auch auf die finanziellen und institutionellen Verstrickungen der Bill & Melinda Gates Foundation, verschiedenen deutschen Medien wie dem Spiegel und der Zeit, Institutionen wie dem bundeseigenen RKI, der Berliner Charité sowie schließlich Personen des öffentlichen Lebens aufmerksam. Sie prangert „die zunehmende Erosion internationaler Governancestrukturen durch ‚Global Corporate‘“ an und lenkt außerdem den Blick auf die Sanierung bzw. Umstrukturierung des Finanzsystems, das kurz vor einer Kreditklemme gestanden hatte, durch historisch präzedenzlose Ausgabenprogramme. Neben dieser (über-)staatlich regulierten Kapitalkonzentration, welche die soziale Ungleichheit gesteigert habe und weitere gesellschaftliche Spaltungsprozesse sowie autoritäre Tendenzen befördern könne, kritisiert die Autorin den vermeintlichen Konsens im Hinblick auf die Corona-Maßnahmen bereits als Anzeichen eines postdemokratischen Zustandes, in dem die Selbstinszenierung des politischen Systems mehr zähle als reale Aushandlungsprozesse.

Im letzten Teil des Buches deutet Guérot einen Zusammenhang zwischen dem Pandemiemanagement und bevorstehenden sozioökonomischen Transformationsprozessen an, welche völlig veränderte Lebens- und Vergesellschaftungsformen versprechen, und skizziert das geradezu dystopische Szenario eines „technologiegetriebenen Transhumanismus“ als „letzten großen Traum eines sinnentleerten, dafür aber autoritären Kapitalismus“. Dabei gehe es dem „digital-biometrischen Komplex[]“ um die „Ent-Subjektivierung und zugleich Kommerzialisierung des Körpers“, um diesen „als letzte ‚Ware‘ zu kapitalisieren“, womit die Autorin etwa auf digitale Bezahlmethoden mittels eingepflanztem Mikrochip oder eine Vernetzung von menschlichem Hirn und mobilem Endgerät durch ein Implantat abzielt. Die zwar doch nicht beschlossene, aber möglicherweise künftig erneut zur Debatte stehende Impfpflicht stelle in diesem Zusammenhang möglicherweise eine Art Einstieg dar. In manchen Ländern bereits verwendete digitale Identifizierungssysteme und -infrastrukturen, die weltweit rasant ansteigende Zahl biochemischer Hochsicherheitslabore sowie die fortschreitende neurotechnische Arbeit an der Vernetzung von Mensch und Maschine (human augmentation) durch Brain-Computer-Interfaces lassen Guérot vor alles umfassenden biotechnologischen Überwachungssystemen, die nationalstaatliche Strukturen zunehmend überschreiten und stärker von Konzernriesen gesteuert werden. Mögen diese Visionen im Zusammenhang mit den Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung zwar überzogen wirken, so weisen sie doch sicherlich auf wichtige Fragen der Zukunft.

Abschließend formuliert Guérot ihre Forderungen, wie den skizzierten Problemen und Herausforderungen zu begegnen sei: Es gelte, „den gesellschaftlichen Diskurs jetzt wieder in zivilisierte Bahnen und eine demokratische Normalität [zu] lenken“, wozu auch gehöre, etwa den „absurden Schmäh der Kontaktschuld““ abzulegen oder die „Gefahr des ‚Beifalls von der falschen Seite‘“ nicht zu fürchten. Es gehe auch darum, Schluss zu machen mit der „hochgradig moralisierte[n] Gesellschaft der Guten“ und einer Politik der „gnadenlosen Infantilisierung“. Die Autorin verlangt „eine neue radikale Aufklärung“, die „etwas anderes ist als ein fast religiöser Glaube an die Wissenschaft“, sowie die „Rückkehr zu einem mündigen, emanzipierten und selbstverantwortlichem Bürgertum“ und den zentralen Elementen demokratischer Theorien: „Würde, Individuum, Rechte und Autonomie“. Neben konkreten Maßnahmen wie einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss, politischen Neuwahlen oder Reformen des Gesundheitswesens enthält ihr Forderungskatalog allerdings auch viel utopistisch Anmutendes und jede Menge überschwänglich wirkenden Pathos: „Wir werden diesen Krieg gegen das Leben jetzt beenden und das Leben neu beginnen“, „uns die Echtheit nicht nehmen lassen“, „unsere Seelen boostern“, aber „[z]uerst räumen wir auf, jeder in seinem Land“, und „[w]enn wir aufgeräumt haben, denken wir die Demokratie radikal neu und entwerfen eine postnationale, postkapitalistische und postpatriarchale Welt“. Ob das heraufbeschworene ‚Wir‘ entsprechend handlungsmächtig oder überhaupt existent ist, darf an dieser Stelle jedoch in Zweifel gezogen werden.

Auf den 140 Seiten findet sich eine dichte Menge von Hinweisen und Gedanken. Die teils ungeordneten Überlegungen kehren immer wieder zu zentralen Punkten zurück und wechseln vom Allgemeinen zum Detail, von abstrakten gesellschaftlichen Mechanismen und Prozessen zum alltäglichen menschlichen Erfahren und Handeln. Ihre Argumentation spickt Guérot mit Ausflügen in Wissenschaft, Philosophie und Literatur. Sie bemüht Michel Foucaults Thesen zur Biopolitik ebenso wie Heinrich Popitz’ Machttheorie oder Paul Watzlawicks konstruktivistische Kommunikationstheorie, illustriert ihre Ausführungen mit den Romanen Dostojewskis, Kafkas Parabel Vor dem Gesetz oder Liedzeilen des Songs White Rabbit der Rockband Jefferson Airplane. Deutlich wird außerdem, dass Guérot nicht nur als eine um die Demokratie besorgte Politikwissenschaftlerin auftritt, sondern auch als eine Bürgerin, die sich ihren Frust von der Seele schreibt sowie als Autorin, die es versteht, Leser:innen mitzureißen.

Der Essay kann in großen Teilen überzeugen, ist lebendig und leidenschaftlich, für ein Kommunikationsangebot aber zuweilen auch in seinen Formulierungen zu überspitzt. So manche Behauptung wird unbelegt in den Raum gestellt und die Wortwahl zeigt auf ostentative Weise keine Scheu vor dem Vorwurf der Nähe zu Verschwörungstheorien. Einiges wirkt zudem nicht zu Ende gedacht, zum Beispiel warum gerade einer Impfpflicht im Zusammenhang mit Corona eine derart große Bedeutung zugemessen wird, wo doch bereits gesetzlich vorgeschriebene Schutzimpfungen existieren. Trotz aller Warnungen vor gesellschaftlicher Spaltung und dem Drängen auf eine versöhnliche Debatte polarisiert Guérot schließlich selbst. Der Soziologe Armin Nassehi beschrieb etwa ihre Forderungen, „die dunklen Gestalten von Pfizer und Co.“ zur Rechenschaft zu ziehen, als „autoritär-faschistische[n] Sound“. So überrascht es auch nicht, dass der Verlag, für welchen das Buch zuerst geschrieben wurde, eine Veröffentlichung aus der Furcht ablehnte, „man werde den Reaktionen auf sozialen Medien nicht Herr“. Die Aufgeregtheit, mit der das Thema nicht nur im Essay, sondern in unserer Gesellschaft allgemein diskutiert wird, verweist auf die Schwere der zu klärenden Fragen, welche im Grunde um die Bedeutung unserer Existenz und unser Verhältnis zur Umwelt kreisen. Guérot plädiert hier trotz aller Beschwörung von Aufklärung dafür, das „Mysterium des Lebens“ zu wahren, sowie für ein „Menschenbild, in dem Raum für eine gewisse Schicksalshaftigkeit ist“.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Ulrike Guérot: Wer schweigt, stimmt zu. Über den Zustand unserer Zeit. Und darüber, wie wir leben wollen.
Westend Verlag, Frankfurt a. M. 2022.
96 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783864893599

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