Ästhetik vs. Bestialität

In „Isidor“ erzählt Shelly Kupferberg vom Glanz und Elend ihres Urgroßonkels

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Shelly Kupferberg, Journalistin und Moderatorin, hat mit Isidor ihr erstes längeres Prosawerk publiziert und damit die Ergebnisse einer intensiven Suche nach Spuren ihres Wiener Urgroßonkels und seiner jüdischen Familie vorgelegt.

„Nennt mich Isidor“ – das ist für den jungen Mann aus dem Schtetl im ostgalizischen Tlumacz ein Motto für sein Debüt in Wien. So wie zwei seiner fünf Geschwister ändert er seinen Namen, als er im Jahre 1908 sein Jura-Studium in der Donaumonarchie aufnimmt. Aus Israel wird Isidor, aus Rubin Rudolf und aus Fejge Franziska.

Isidor möchte nicht nur lernen und studieren, sondern ihm ist es wichtig, etwas zu schaffen und „etwas zu werden“. Er richtet sich nach einem stringenten Curriculum, das nicht nur den erfolgreichen Abschluss seiner Prüfungen und die Promotion zum Dr. jur., sondern regelmäßige Theater- und Kaffeehausbesuche umfasst. Darüber hinaus arbeitet er zu Studienzeiten als Sekretär im Ledergroßhandel. Während des Ersten Weltkriegs scheut er nicht vor Schwarzmarktgeschäften zurück. Er kauft im großen Stil Wertpapiere, die ihn nach dem Krieg zum Multimillionär machen.

Nachdem seine zweite Ehe in die Brüche gegangen ist, zieht Isidor in die Beletage eines Stadtpalais, ist einige Jahre hindurch mit der ungarischen Sängerin Ilona Hajmassy liiert, bis sich diese für Hollywood entscheidet. Während dieser Jahre ist er am Zenit seiner Karriere angelangt, seine Bankette sind berühmt. Jeden Sonntag besucht ihn sein Neffe Walter, Shelly Kupferbergs Großvater, zum Mittagessen, in dessen Verlauf er „performen“ muss, indem er Rechenaufgaben löst und Gedichte aufsagt.

Isidor, seines Zeichens Kommerzialrat, verfolgt zwar die Ausbreitung nationalsozialistischen Gedankenguts, wähnt sich aber selbst dann noch in Sicherheit, als die Nazis in Wien einmarschieren. Bereits zwei Tage vor dem „Anschluss Österreichs“, am 13. März 1938, verhaften ihn Gestapo-Beamte. Er wird gezwungen, sein Vermögen den neuen Machthabern zu überschreiben. Nach drei Monaten Haft wird er als menschliches Wrack entlassen. Er stirbt am 17. November 1938 im Alter von 52 Jahren. Zu diesem Zeitpunkt ist sein Neffe Walter schon nach Palästina ausgewandert.

Die Lebensgeschichte ihres Urgroßonkels erzählt Shelly Kupferberg in Episoden, nicht linear und genauso wenig diskontinuierlich. Nach zwei Auftakt-Kapiteln, die Isidor knapp charakterisieren sowie die Reise des Großvaters nach Wien im Jahre 1956 in den Blick nehmen, beginnt die eigentliche Konstruktion eines großartigen familieninternen Gedächtnis-Gebäudes, in dem sich die Zeitläufte sehr authentisch spiegeln.

Isidor ist kein Roman, sondern könnte, obgleich sich dieser Begriff im Deutschen bislang kaum etabliert hat, als romaneske „Bio-Fiktion“ bezeichnet werden. Dabei ist diese auf den Protagonisten fokussiert, erstreckt sich aber ebenso auf Kurzporträts einiger Familienmitglieder: Walter, dessen Eltern, insbesondere seine Mutter Franziska, daneben David, Isidors an schwerer Paranoia erkrankter Bruder. Hinzu treten Isidors zweite Ehefrau, Berta Singer, sowie Ilona Hajmassy und die Geschichte der Familie ihres Ex-Mannes. Alle Charakterisierungen werden ab und an mit aufschlussreichen Zitaten aus zeitgenössischen Dokumenten gespickt.

Vor diesem Hintergrund oszilliert die Erzählstimme zwischen unmittelbar autobiografischer, neutraler bzw. leicht bis mittelgradig auktorial eingefärbter und personaler Perspektive. Aus dieser geschickt arrangierten Kombination emergiert ein mitreißender narrativer Flow, der auch in Fiktionen lange seinesgleichen suchen müsste. Shelly Kupferberg berichtet in der ersten Person über ihre Aktivitäten und ihre Lektüren im Umkreis von Isidor. In den meisten Kapiteln dominiert anfänglich ein eher deskriptiver Ton, bevor dieser sich an vielen Stellen zu einer Art erlebter Rede steigert, so dass aus dem wohltuend dahinplätschernden neutral-auktorialen Wort-Kontinuum eine persönliche Perspektive auf die Ereignisse hervortritt, die Innensicht einer Figur die Oberhand gewinnt. Das Alternieren bzw. die sich spurlos vollziehenden Mikro-Transitionen von einer Stimme zur anderen garantieren die Immersion in eine vergangene, äußerst glanzvolle Welt und lassen den jähen Zusammenbruch dieses Kosmos umso grauenvoller erscheinen.

Mit der historischen Exaktheit geht bei Kupferberg emotionale Intensität einher. Im Zuge der Evokation einer glamourösen Epoche und genauso in der Darstellung ihrer Antipode der Bestialität ergeben sich authentische Situationsskizzen und Momentaufnahmen, die sich beim Lesen tief ins Gedächtnis graben. Der Schauplatz Wien pervertiert sich vom Sehnsuchtsort zum Szenario des Apokalyptischen.

Sich beim Schreiben eng an der Realität zu orientieren, bedeutet in der Vermittlung nicht selten affektive Distanzierung – so etwa in der an sich hervorragend dokumentierten Roman-Biografie von Whitney Scharer zu Lee Miller (dt. Die Zeit des Lichts, 2019). Damit in eine Reihe zu stellen, wobei die Unterschiede in der Rezeption beträchtlich sein dürften, sind Karl Ove Knausgards monumentale autofiktionale Werke. Anders ist es bei Kupferberg: sie involviert ihre Leser*innen, findet die perfekte Balance von Distanz und Nähe, Neutralität und Ergriffenheit.

Im Abseits jeder Verkitschung erreicht die Autorin eine ganz eigene Atmosphäre, eine stimmige und nuancierte Tonalität, in der sie vor der Abbildung der nationalsozialistischen Verbrechen eine Reihe von kulturhistorisch bedeutenden Themen auffächert: jüdisches Leben, sozialer Aufstieg, Dandytum und Wien als Metropole der Künste.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist das Judentum von Spannungen durchzogen. Mit der traditionellen, orthodoxen und chassidischen Doktrin konkurriert das Bemühen um Reform bzw., laut Isidor, „die große Idee eines modernen, angepassten europäischen Judentums in der Mitte der Gesellschaft“. Das Credo des Protagonisten ist es, dass man „mit akzentfreiem Deutsch und einer soliden Bildung im Gepäck […] einiges werden könne“. Als Adept der Aufklärung glaubt er an die Metapher vom Licht der Vernunft, an den Sieg der Ratio und an eine Bildung, die seinen sozialen Aufstieg befördert. So geht es für ihn beruflich auch schnell „ganz steil nach oben“. Er definiert sich als „emanzipierten und assimilierten Juden“ und verfügt über „die Gabe, Menschen für sich zu gewinnen“. Trotz dieser ausgeprägten intellektuellen und sozialen Kompetenz ist sein Privatleben ein Desaster.

Nach dem Scheitern seiner Ehen lebt Isidor jedwede Emotionalität in der Kunst aus. In der Beziehung zu seiner zweiten Ehefrau und später zu seiner Geliebten ist dieser Bereich, insbesondere alles Musikalische, zentral. Ein Leben ohne Oper ist für ihn „unvorstellbar“. Wenn er in seiner Loge sitzt, ist er überwältigt und es kommen ihm die Tränen. Während diese sentimentalische Rezeptionsweise direkt der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entsprungen ist, könnte sein äußeres Erscheinungsbild aus den „Dandy-Manualen“ von Charles Baudelaire und Jules Barbey d’Aurevilly oder der „Bibel der Dekadenz“, A rebours bzw. Gegen den Strich (1884), von Joris-Karl Huysmans stammen. Rührung und Ergriffenheit kommen in diesen Konzepten entweder nicht vor oder bleiben, so wie bei Isidor, privat. Alles Öffentliche besteht in der Selbstinszenierung, darin, „l’art de la mise et du bon ton“ zu realisieren, sich mit bestimmten Kleidungsstücken und Accessoires selbst zum Kunstwerk zu gestalten und sich sicher auf gesellschaftlichem Parkett zu bewegen. Zwei Beispiele: Isidor lässt sich einen Anzug und ein Einstecktuch passgenau zu einem Opern-Kostüm seiner Geliebten konfektionieren. Er besitzt ein schweres ziseliertes Silberbesteck für 24 Personen, das bei seinen gesellschaftlichen Banketten zum Einsatz kommt. Zumindest dieses kann Franziska nach Palästina retten.

Isidor scheut nicht vor Wortgefechten rund um das Thema Kunst zurück. So gerät die Diskussion nach einem Vortrag über die Gesangskunst zu einem „Sängerkrieg“, wächst sich zu einer kleinen „Bataille d’Hernani“ aus, in der Isidor seine Höflichkeit vergisst und im Nachgang zu einer Geldstrafe verurteilt wird. Kunst, so wie Isidor sie primär versteht, als ästhetisch und ästhetizistisch motiviertes Kreieren, kontrastiert mit einer nahezu vulgarisierten Kunst, die Ilona Hajmassy in Hollywood verkörpert.

Alle Facetten seiner Persönlichkeit, die ganze Melange von Epigonentum und Aktualität, kann Isidor in Wien ausleben. Die ganze Stadt sei eine Bühne, auf der „sich das Große im Kleinen“ spiegle, „eine Bühne mit ansteckender Lust am Auftritt“. Gustav Klimt und seine Künstlergruppe, Gustav Mahler, Arnold Schönberg oder Hugo von Hofmannsthal leben und arbeiten in Wien, Sigmund Freud praktiziert dort. In diesem Sammelbecken unterschiedlichster ideengeschichtlicher Strömungen waltet Diversität, eine Gleichzeitigkeit des eigentlich Ungleichzeitigen, die auf zwei miteinander rivalisierenden theoretischen Grundfesten ruht: Im Art Nouveau überhöht sich das Leben zur Kunst und adaptiert sich an das Leben. Kunst ist ästhetizistisch und realistisch, in grober Simplifizierung: Kunst und Leben amalgamieren zu einem Gesamtkunstwerk. In Isidor, mit dem Protagonisten und seinen vielfältigen Aktivitäten, offenbart sich eine Totale auf all diese Tendenzen.

Mit ihrer alltäglichen Bestialität torpedieren die Nationalsozialisten alles Ästhetische und Ästhetizistische, jede Menschlichkeit sowieso. Das, was man angesichts schockierender offizieller Statistiken über den Genozid oft vergisst, nämlich alle kruden alltagsrassistischen Ausschreitungen der Nazi-Schergen, stellt Shelly Kupferberg auf eine einzigartig ergreifende Weise dar. Die Wirkung dürfte sowohl populäre als auch literarisch hochwertige, spannende und erschütternde Fiktionalisierungen übertreffen. Die Autorin kleidet das Unsagbare in Worte, wobei dieses Paradoxe authentisch ist und einen offenen Möglichkeitsraum der Rezeption bedingt. Zudem referiert sie die öffentlichen Demütigungen, denen Juden und Jüdinnen ausgesetzt sind, mitunter kursorisch, z.B. die „Reibpartien“, an denen Isidors Schneider, Kurt Goldfarb, teilnehmen muss: um proösterreichische Parolen zu entfernen, werden Menschen auf das Pflaster gestoßen. Dieses Procedere potenziert die Effizienz des Geschilderten.

Isidors Gefängnisaufenthalt unterstreicht, wie barbarisch die Nazis sind; aus einer Erinnerung des Großvaters resultiert eine atavistische Klimax: der Aufforderung, menschliche „Scheißhaufen“ zu essen, kann Walter nur entgehen, weil er einen Klassenkameraden aus der Volksschule erkennt und diesen bittet, ihn gehen zu lassen.

In ihrer grandiosen „Bio-Fiktion“ managt Shelly Kupferberg den Spagat zwischen Parnass und Orcus. Sie zeichnet ein aussagekräftiges, sehr berührendes Bild ihres Urgroßonkels und der Personen in seinem Umfeld. Unvergessen wird Isidor nun bleiben – als Dandy und Kunstliebhaber, als hochintelligentes und sozialkompetentes Schlitzohr, von den Nazis mit ihren unfassbaren Gräueltaten in Angst und Krankheit gestoßen und zerstört. Das höchst emotionale Tableau dynamisiert sich während des Lesens, appelliert zum Miterleben und avanciert derart zu einem unschätzbar wertvollen Stück Erinnerungskultur.

Titelbild

Shelly Kupferberg: Isidor. Ein jüdisches Leben.
Diogenes Verlag, Zürich 2022.
256 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783257072068

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