Die Welt im ganz Großen und ganz Kleinen

Dominik Bartas zweiter Roman „Tür an Tür“ schickt einen zögerlichen jungen Mann in eine große und überwältigende Realität

Von Martin GaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Gaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Da ist ein junger Mann. Er ist schwul, Anfang 30, von Beruf Lehrer. Und dieser junge Mann hat das Glück, in Wien eine Wohnung beziehen zu können, da seine Tante aus derselben ausgezogen ist und sie an ihn, an Kurt, weitergeben konnte. Wir schreiben das Jahr 2014. Weltpolitik ist für ihn noch sehr weit weg. Hauptsächlich beschäftigt Kurt sich mit sich selbst und seiner neuen Wohnsituation, die ihn bereits nach kürzester Zeit ärgert und frustriert, da er aus der Nachbarwohnung nahezu jedes Geräusch deutlich vernehmen kann. Und da diese Geräusche eher unangenehm sind und er sich folglich vorstellen muss, dass auch alle von ihm verursachten Geräusche wiederum in der Wohnung seines Nachbarn zu hören sein müssen, befällt ihn eine gewisse Unfreiheit in den eigenen vier Wänden. Daraus erwächst eine Energie, die ihn bei besagtem Nachbarn klopfen lässt – und schlagartig verpuffen Kurts negative Ahnungen, denn sein Nachbar, Herr Drechsler, ein Mann Anfang 60, ist freundlich und herzlich und antizipiert die mögliche Beschwerde des neuen Nachbarn, nimmt Kurt mir nichts dir nichts den Wind aus den Segeln. Fortan pflegen die beiden einen respektvollen Umgang, Kurt – in seiner weichen gefühlvollen Art – entwickelt gar zärtliche Gefühle und legt das eine oder andere Mal Ohr und Wange an die Wand, um Herrn Drechsler näher zu sein. Was so heimelig und auch ein wenig kurios beginnt, dreht sich schon bald in mehrere andere Richtungen.

Kurt, der sich lange Zeit nicht geoutet hat, seine Homosexualität in gewisser Weise am meisten vor sich selbst versteckt hat, spürte in der Jugend eine wie ihm schien übergroße Nähe zu seinem allerbesten Freund Frederik. Als Frederik dann immer häufiger mit Mädchen und Frauen Kontakt hatte und schließlich mit einer Frau eine gemeinsame Wohnung bezog, war Kurt bitter enttäuscht. Frederik kannte den Grund nicht, Kurts Eltern waren ebenso irritiert und verstanden nicht, warum ihr Sohn sich dermaßen zurückzieht und den bis dahin so wichtigen Freund plötzlich nicht mehr treffen wollte.

Doch nichts bleibt, wie es ist: Frederiks Ehe mit Yasmina droht zu scheitern und der Freund von einst, mittlerweile ein sehr engagierter Arzt, bittet um Asyl. So schlafen Kurt und sein Gast in einem Bett. Turbulent wird es im Mietshaus, als Regina einzieht, eine Spitzenwissenschaftlerin, die an einem Wiener Labor forscht, lange in den USA gelebt und gearbeitet hat und nun einen Neustart versucht. Mehr und mehr wird dieses Haus zu einem Kulminationspunkt unterschiedlicher Individuen, Identitäten, Geschichten, Lebenseinstellungen und Mentalitäten.

Dominik Barta, der in 2020 mit seinem Roman Vom Land debütierte und auch für das Theater schreibt, nutzt das Mietshaus als Metapher für eben diese Vielfalt. Seine dramaturgische Erfahrung kommt ihm hierbei sicher zugute, denn die Wohnungen, Zimmer, der Flur, das Treppenhaus fungieren teilweise wie Szenen und Bühnenbilder, manche Erklärungen und Ausführungen einzelner Romanfiguren wirken wie Theatertexte, ein wenig artifiziell, nicht unbedingt organisch ins Romangeschehen eingepasst. Und während Regina sich schnell und auf eindrucksvolle Weise in die Mieter- und Nachbarschaftsgruppe einführt, erkennt Kurt, wie sehr er sich in seinen Schüler Ferhat verliebt hat (Kurt arbeitet als Berufsschullehrer). Ferhats Fernbleiben vom Unterricht führt schließlich dazu, dass Kurt förmlich nach ihm sucht, ihn findet und mit einer etwas aufgesetzt wirkenden Recherche zu Frederiks Frau Yasmina, die sich mehr und mehr politisch engagiert und ihr bisheriges Leben (auch das mit Frederik) in Frage stellt, beauftragt.

So bringt der junge Autor immer weitere Protagonisten zusammen und führt seinen Roman beinahe unter der Hand in gänzlich andere Gefilde, als dies zu Beginn der Lektüre scheinen mochte. Denn Ferhat ist Teil einer Gruppe von Aktivisten, die mitunter völlig unbemerkt unauffällige Leben leben.

Wir sind eine politische Organisation, wie es tausende auf der Welt gibt. Wir kümmern uns um die Sache der Kurden. Und zwar mithilfe echten Engagements. Das heißt, wir twittern nicht nur oder liken oder posten. Wir handeln, mit den Händen. Wir sind weltweit vernetzt und haben tausende Mitglieder. Den Namen sage ich euch nicht.

Dominik Barta greift den Fall der Wiener Kurdenmorde von 1989 auf und baut diesen glaubhaft und organisch in seine Handlung ein. Damit positioniert er Tür an Tür eindeutig als politischen Roman, der über dieses Thema hinaus noch viele aktuelle Themen rund um Sexualität, Selbstbestimmung, Respekt, Vertrauen und Liebe beinhaltet, die nie aufgesetzt wirken oder aufdringlich werden. Vielmehr gelingt es Barta, eine Balance zu halten, die sein sehr lesenswertes und anregendes Buch zu einem unterhaltsamen Stück gegenwärtiger Literatur macht. Die manchmal beinahe überschäumende Gefühligkeit seines Helden Kurt mag etwas zu üppig wirken, doch Humor und Ironie und dann und wann sogar ein wenig Selbstironie vertreiben diese Zweifel. Die von Barta gut gewählten und atmosphärisch beschriebenen Orte und locations wirken sehr visuell, Tür an Tür würde auch auf der Bühne oder als Film gut funktionieren.

Titelbild

Dominik Barta: Tür an Tür. Roman.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2022.
208 Seiten, 23 EUR.
ISBN-13: 9783552073036

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