Über die Sixtina ist noch nicht das letzte Wort gesprochen
Der Dresdner Jubiläumsband „Raffael und die Madonna“, erschienen anlässlich des 500. Todesjahres Raffaels, erkundet die Madonnen des Großmeisters der Hochrenaissance im Kontext derer seiner Künstlerkollegen
Von Klaus Hammer
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseRaffael zählt mit Leonardo da Vinci und Michelangelo zu den maßgeblichsten Protagonisten der Hochrenaissance. Entsprechend Leonardos Prinzip einer Metamorphose der Formen ging es auch Raffael darum, ein Thema durch viele mögliche Fassungen zu variieren. So entwickelte er eine erstaunliche Fülle verschiedener Madonnenmotive, die er im Laufe mehrerer Jahre in Gemälde umsetzte. Jedem Werk hat Raffael eine andere Betonung gegeben, jedes repräsentiert eine weitere – andere – Stufe seiner Entwicklung. Die Gemäldegalerie Dresden, die mit der Sixtinischen Madonna das berühmteste Gemälde Raffaels, ja der italienischen Hochrenaissance und darüber hinaus ihr Eigen nennt, widmete sich 2020/21 in einer exquisiten Ausstellung dem Madonnenmaler Raffael und setzte seine Madonnen mit denen von Botticelli, Mantegna, Andrea della Robbia, Tizian, Lotto und anderen Zeitgenossen in Beziehung. Stephan Koja, der als Direktor der Gemäldegalerie Alte Meister auch als Ausstellungskurator und Herausgeber des Kataloges zeichnet, geht es darum, gerade auch die Sixtinische Madonna „vertieft zu betrachten und somit neue Bedeutungsebenen sichtbar zu machen“. Denn die in musealer Präsentation gezeigten Kunstwerke „sind aus ihrem intendierten Zusammenhang genommen und laufen dadurch Gefahr, ihre Wirkung oder sogar ihre eigentliche Bedeutung zu verlieren.“ Was es damit auf sich hat, wird im Katalog ausführlich erläutert.
Stefania Girometti (Städel Museum, Frankfurt a.M.) beschäftigt sich mit der Genese und Bedeutung von Madonnen mit Kind in der italienischen Malerei des 15. Jahrhunderts und hier vor allem mit Pesellino und Botticelli, Andrea Mantegna und Francesco Francia. Spürt man der psychologischen Bedeutung der Gesten der dargestellten Figuren nach, lassen sich daraus immer wieder neue Bilderfindungen ableiten. Als Raffael dann 1504 nach Florenz kam, fand er so Variationen vor, die ihm als Maßstab für seine eigenen Madonnenbilder dienten.
Noch vor Florenz hat Raffael die Madonna mit Kind und Buch (um 1503) geschaffen. Sie stellt für Eva-Bettina Krems, Professorin für Kunstgeschichte an der Philipps-Universität Marburg, „die in Ausgewogenheit, künstlerischem Ehrgeiz und erzählerischem Anspruch auffälligste Version“ dar. Schon in dem früheren Bild, der Madonna mit dem Kind (Madonna Solly) (um 1502), wenden sich Mutter und Kind scheinbar dem Buch zu, das Maria in den Händen hält, aber zugleich geht ihr Blick in die Ferne, sie sind in sich selbst versunken. Auch in der Madonna mit Kind und Buch schauen Mutter und Kind gar nicht in das aufgeschlagene Stundenbuch. Nachdenklich sieht Maria auf ihren Sohn, der in eine unbestimmte Ferne schaut. In stiller Meditation geht es hier um die Veranschaulichung des von der Textstelle wiedergegebenen inneren Erlebens des heilsgeschichtlichen Geschehens. Aber diese Heilsbotschaft vermittelt Raffael nicht nur durch das Buch, sondern gerade auch durch die Gesten von Mutter und Sohn, das Zusammenspiel ihrer Hände. Maria umfängt den Jesusknaben, und auch er stützt mit seiner Linken die Hand der Mutter und bestärkt sie damit gleichsam in ihrer zukünftigen Rolle als Leidende während der Passion Christi.
Die dann schon in Florenz entstandene Madonna Terranuova (1505) wiederum füllt das Tondo mit beherrschender Kraft. Das innige Verhältnis Marias zum Jesuskind und dessen Geborgenheit im Schoß der Mutter kommt in der traulichen Umschlossenheit des runden Raumes besonders zur Geltung. Gleichzeitig hat Raffael seine florentinische Kompositionserfindung des Dreiecks den vier Figuren eingeschrieben. Deren Gesten sind von raumgreifender Plastizität und rücken sie nahe an den Betrachter. Sie scheinen zu sprechen oder uns doch durch die Intensität ihres Gefühls an ihrer Vision teilhaben zu lassen. Der Seelenzustand, das emotionale Element sind zu etwas ganz und gar Persönlichem geworden. Das zeichnet die menschlichen Figuren Raffaels aus, sie sind frei vom Ausdruck des Konflikts, weniger expressiv und problembestimmt, sie sind gelöster, so wie auch Raffael persönlich ein ausgeglicheneres Verhältnis zur Welt hatte als Michelangelo, sein großer Kollege und Rivale in Rom.
Eine der reifsten Leistungen seiner Florentiner Zeit, die Madonna Colonna (um 1508), ist dann von heiterer Gegenwärtigkeit. Raffael behielt das von Leonardo hergeleitete feintonige Kolorit bei, verlieh den Farben aber neue Substanz. Das Erdbeerrosa dieses Gemäldes wird einem im Gedächtnis bleiben. Mittels der Farbe erfolgt überhaupt die Entfaltung im Raum. Form, Farbe und das Hell-Dunkel verbinden sich, und alle rein linearen Elemente der Modellierung werden vermieden. Eine jugendliche Maria, die mit dem Christuskind spielt, zeigt dann die Madonna mit den Nelken (1506–08, National Gallery London), die erst Anfang der 1990er Jahre in der Sammlung des Duke of Northumberland als Original erkannt wurde. Raffael platziert hier die Dreieckskomposition Leonardos in einem ebenfalls von diesem inspirierten Raum mit offenem Fenster, welches das gedämpfte Licht erklärt. Die symbolischen roten Nelken (Hinweis auf die Passion Christi) scheinen einen Augenblick lang in einem Schwebezustand zu verharren, bevor der Christusknabe sie ergreift.
Eine intensive Darstellung des Madonnenmalers gibt Andreas Henning, seit 2004 Konservator für italienische Meister der Gemäldegalerie Alte Meister in Dresden und seit 2020 Direktor des Museums Wiesbaden. Bis zu Ende der Florentiner Zeit 1508 hat Raffael 20 Andachtsbilder gemalt, zudem 5 Altarbilder. Und auch in Rom kommen dann neben den beiden großen Altarbildern mit Marienerscheinungen in der Pinacoteca Vaticana und in Dresden sowie der „sacra conversazione“, der Darstellung der Madonna mit dem Jesusknaben in Gesellschaft mit Heiligen, in Madrid noch einmal 10 Andachtswerke mit Maria und Kind hinzu. Wie schon gesagt, hat er die Motive nicht einfach wiederholt oder variiert, sondern bei jedem Werk nach einer eigenen Bildlösung gesucht.
Raffaels erstes römisches Altarbild war Die Madonna von Foligno (1511/12). Als ältere Schwester der Sixtinischen Madonna verweist sie auf die Passion Christi und zeigt die Gottesmutter mit ihrem Kind vor einer Sonnenscheibe und umgeben von einer Engelsglorie, ihr huldigen vor einer offenen Landschaft Johannes der Täufer und Franz von Assisi auf der linken und der Kirchenvater Hieronymus mit dem Stifter des Bildes auf der rechten Seite. Das Bild erhebt sich über dem Hochaltar der Kirche S. Maria in Aracoeli auf dem römischen Kapitol und über dem Grab des päpstlichen Sekretärs Sigismondo de‘ Conti. Da das Altarbild 1567 in das umbrische Städtchen Foligno kam und dort 200 Jahre verblieb, hat sie ähnlich wie die Sixtinische Madonna erst spät ihre Wirkung entfaltet. Als es von Napoleons Agenten 1797 nach Paris verschleppt wurde, erhielt es starke Beschädigungen, musste restauriert werden, kam dann erst 1816 wieder in den Kirchenstaat zurück und verblieb in der vatikanischen Sammlung. Ein Jahr nach der Madonna von Foligno hat sich Raffael noch einmal die Aufgabe einer Vision der Madonna gestellt, als er von Papst Julius II. den Auftrag für die Sixtinische Madonna erhielt. Raffael erreicht mit ihr „himmlische Sphären“.
Und so erscheint uns die Sixtina (1512/13), die 1754 nach Dresden kam und das Glanzstück der Galerie Alte Meister bildet: Ein Vorhang ist beiseitegeschoben, aufrecht und souverän schreitet die Gottesmutter über die Wolken, das Jesuskind in den Armen, das seinen Kopf an Maria gelehnt hat. Links kniet der Heilige Sixtus, rechts die Heilige Barbara, beide auch in himmlischen Sphären. Die beiden Engelchen auf der unteren Brüstung des Bildes scheinen dem heutigen Betrachter fast ein ironisches Zitat zu sein, so Andreas Henning. Sind in der Madonna von Foligno irdische und überirdische Sphären klar unterschieden, ist die Sixtinische Madonna ganz in die himmlische Sphäre versetzt und wird so als Vision aufgefasst. „Sie ereignet sich vor den Augen des Betrachters. Der geöffnete Vorhang und die untere Brüstung gehören der Realitätsebene des Betrachters, so dass sich vor ihm die Erscheinung der Heiligen jedes Mal aufs Neue ereignet, wenn er vor das Werk tritt“, führt Andreas Henning aus. Im Vergleich mit Francesco Botticellis Maria mit Kind in der Glorie und Heilige (um 1481), in der die Erscheinung der Muttergottes mit dem Jesuskind den von einer Engelschar umgebenen Heiligen Maria Magdalena und Bernhard gilt, öffnet sich die Sixtina direkt dem Betrachter und ihr im Übergang zum 19. Jahrhundert anwachsender Ruhm verlieh ihr dann eine geradezu „mythische Aura“ (A. Henning).
Peter Stephan, der seit 2013 an der Fachhochschule Potsdam lehrt, nimmt Bezug auf Martin Heidegger, der 1955 festgestellt hat, dass ein Bild – und vor allem ein Altarbild wie die Sixtina –, wenn man es aus seinem konkreten räumlichen, gedanklichen und funktionalen Zusammenhang löst, einen „Bedeutungsverlust“ erleide. Die Sixtina verlange geradezu „ihrem Bildwesen nach“ nach der Kirche in Piacenza, für die sie bestimmt war. Das Bild beginnt zu sprechen, so Peter Stephan, „sobald wir es gedanklich in seinem ursprünglichen Kontext verorten, also im Mönchschor von San Sistro, und ihm seine ursprüngliche Funktion als Hochaltargemälde zurückgeben“. Der Blick Marias und ihres Kindes auf die Rückseite des Kreuzes, das damals auf dem Lettner stand und Christus den ihm vorbestimmten Weg zur Erde wies, lässt die Deutung zu, dass nach Öffnung des Vorhangs Mutter und Kind Vorahnungen plagen, ja dass sich Todesangst im Gesicht des Kindes spiegelt. Das Jesuskind nimmt zwar den die Welt erlösenden Sühnetod auf sich, aber es zögert, den ihm vorbestimmten Weg zur Erde anzutreten. Arthur Schopenhauer sprach sogar von einem „entsetzten Schauen des Jesuskindes“. Das Motiv des geöffneten Vorhangs steht also für die Wahrnehmung des Schrecklichen in seiner ganzen Tragweite. Ein weiterer Teil der heilsgeschichtlichen Dramatik ist der Zeigegestus des Papstes Sixtus, der als Patron von San Sistro die leidende Gottesmutter bittet, ihren Weg weiterzugehen und den Knaben freizugeben. Die Heilige Barbara dagegen, die zu den beiden Engeln herabblickt und deren Gedanken zu erahnen scheint, hat das Martyrium – so Peter Stephan – schon hinter sich, das Christus noch bevorsteht, sie kennt auch schon die Herrlichkeit der Auferstehung, die alle Qualen auslöscht. Wenn Raffael dem heiligen Sixtus die Gesichtszüge des Papstes Julius II. verlieh, könnte das bedeuten, dass er diesem die Verpflichtung auferlegte, Christus nachzueifern und an dessen Heilsplan mitzuwirken.
Es ist noch nicht das letzte Wort über die Sixtina gesprochen worden, sagt auch Claudia Ryza-Gersch, Kuratorin für Renaissance- und Barockskulptur in den Dresdener Kunstsammlungen, und wendet sich dem Gesichtsausdruck des Jesuskindes zu, „seinem wissenden, alles genau erfassenden und verstehenden Blick“. Wie erstmals von Andreas Prater 1991 dargelegt, erklärt sich dieser Blick durch das Lettner-Kreuz, das einstmals in der Klosterkirche von San Sisto gegenüber von Raffaels Altarbild angebracht war. In der Wiedergabe von Schmerz und Leid wird die Menschwerdung Christi ergreifend sichtbar gemacht. Auch wenn er wohl Michelangelos Relief Tondo Taddei (1504–06) vor Augen hatte, in dem erstmals die negative Reaktion des Jesuskindes auf die künftige Passion dargestellt wurde, hat Raffael den Schrecken des Kindes nicht durch einen eindeutigen Hinweis auf die Passion in seinem Bild begründet. Aber es ist ja erst die Überwindung der Angst, die Christus zu einem „wahren Triumphator über den Tod“ (C. Ryza-Gersch) werden lässt. Die Autorin verweist darauf, dass der Zeigegestus des Heiligen Sixtus, dessen rechte Hand in genialer Verkürzung aus dem Bild heraus und nach oben weist, dem Lettner-Kreuz gilt. Erst wenn man sich diesen Zusammenhang verdeutlicht, wird einem das angsterfüllte Gesicht des Jesuskindes erklärbar.
Wie die Sixtina in die Sammlung des sächsischen Kurfürsten und polnischen Königs August III. nach Dresden gekommen ist, erklärt Stephan Koja. Der Wunsch nach einem echten Raffael, nachdem die Zuschreibung von als Raffael angekauften Bildern sich als fraglich erwies, ging in Erfüllung, als sich die Mönche von San Sisto in Piacenza aus Geldnot entschließen mussten, das Gemälde vom Hauptaltar ihrer Klosterkirche zu entäußern. Zwei Jahre dauerten die Verhandlungen, bis es 1754 für die Summe von 25.000 scudis nach Dresden ging. Aber erst die sich mit Johann Joachim Winckelmann durchsetzende Klassik und später die Romantik führten die Sixtina zu der Wertschätzung, die sie bis heute zum berühmtesten Gemälde Raffaels und zum „Herzstück“ der Gemäldegalerie Alte Meister in Dresden (Stephan Koja) werden ließ.
Es war eine gelungene Idee, dass man in der vorjährigen Raffael-Ausstellung gegenüber der Sixtina auf einer angedeuteten Chorschranke ein Kruzifix installiert hat, auf dessen leere Rückseite sich nun die Blicke von Mutter und Sohn richteten – so wie es einst am Lettner von San Sisto in Piacenza gewesen war. Der Knabe sieht das Kreuz und erkennt seinen ihm vorgegebenen Leidensweg, was seine „Todesangst“ (Peter Stephan) verständlich macht.
In der Tat, Raffaels Madonnen sind Meisterwerke eines der größten europäischen Maler und dazu bedeutsame Zeugnisse der Renaissance, also einer Epoche des Aufbruchs, der wir uns besonders verbunden fühlen. Ergriffen blicken wir auf diese Zeugnisse höchster Menschenwürde. Und der vorliegende Sammelband verhilft uns, das Raffael-Erlebnis – angereichert mit viel neuem Hintergrundswissen – noch intensiver wahrnehmen zu können.
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