Unter der Gürtellinie

Lisa Eckhart zündet in ihrem Roman „Boum“ ein zotiges Pointenfeuerwerk

Von Erik SchillingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Erik Schilling

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn man – wie der Rezensent – ein Fan der französischen Krimi-Autorin Fred Vargas ist, wird man bei der Verlagsankündigung von Lisa Eckharts zweitem Roman Boum potentiell hellhörig: Der Klappentext verspricht einen in Paris tätigen Serienmörder namens „Le Maestro Massacreur“, der Straßenmusiker umbringt, sowie einen „melancholische[n] Kommissar“, der an der Seite des „angesehene[n] Terrorexperte[n] Monsieur Boum“ ermittelt. Wenn darüber hinaus ein ‚Bettlerkönig‘ auftritt, der an Peachum aus Bertolt Brechts Dreigroschenoper erinnert, glaubt man sich schnell in intertextueller Nähe zu Vargas’ charmant-chaotischem Kommissar Adamsberg, der seine Fälle weniger durch Deduktion als durch Kreativität löst, oft unterstützt durch Bezugnahmen auf literarische oder kulturelle Zusammenhänge.

Doch man irrt. Von Charme und Kultur kann kaum die Rede sein, allenfalls von Kreativität hinsichtlich des Pointenfeuerwerks, bei dem jedoch eher Knall als Komplexität im Vordergrund steht. Inmitten all der gezündeten Kracher endet der Roman strukturell im Chaos. Der scheinbare Haupt-Handlungsstrang, der aber rasch in Bedeutungslosigkeit versinkt, schildert, wie der melancholische Kommissar versucht, die Mordserie aufzuklären – wenn er nicht gerade damit beschäftigt ist, den irrlichternden Boum abzuwehren oder sich einen blasen zu lassen, denn: „Dem Kommissar […] kommen die besten Ideen im Mund einer Frau“. Daneben handelt der Roman davon, wie die apathisch-halbverlorene österreichische Teenagerin Aloisia sich ein neues Leben in Paris aufzubauen versucht (erstaunlich, dass sie nicht Adolphine heißt, aber vielleicht schien die Referenz zu Vater Schicklgruber dezenter), unter aufopferungsvoll durchlittenen Mühen: „Der ständige Geschlechtsverkehr fordert seinen Tribut. Juckreiz, Brennen, Druckschmerz“. Ein dritter Handlungsstrang beschreibt das Wirken des Bettlerkönigs Clopin und seiner Clochard-Clique, die sich mit der Mordserie gegen die Konkurrenz der Straßenmusiker zu wehren versuchen. Viertens geht es um einen von drei älteren Damen geführten Luxus-Escortservice: „Mannequins, Kokotten, Hostessen“. Und in die verschiedenen Handlungsstränge eingebettet sind ‚authentische‘ Dokumente, etwa Zeitungsinterviews: „Der Straßen-Alphornist Werner Subtext (33) über Selbstmordgedanken und Oralsex mit einer Toten“.

Zwar behauptet der Roman mit den Worten der Knalltüte Boum explizit eine Verbindung seiner disparaten Elemente: „Ich schwöre Ihnen, das alles hängt irgendwie zusammen.“ Doch über weite Strecken bleibt alles so vernebelt wie der Renault, in dem der kettenrauchende Boum sitzt. Eine funktionale Verbindung im Sinne eines Plots gibt es praktisch nicht. Was bleibt, sind lose thematische Bezüge, wobei sich das verbindende Motiv auf Geschlechtsverkehr in all seinen Facetten beschränkt: Aloisia bekommt versehentlich einen der Morde durch die Clochards mit, wird von diesen an den Escortservice weitergereicht, als dessen Mitarbeiterin sie sich schließlich den „Schweif“ des Kommissars „sachte aus dem Rachen zieht und ebenso sachte dorthin zurückschiebt“. Die Omnipräsenz von Sex ist aber weder für die Erzähllogik erforderlich noch lässt sie sich als witzig oder als kalkulierter Tabubruch verstehen – stattdessen ist sie einfach nervtötend.

Gelungen ist der Roman in den Passagen, in denen präzise Beobachtungen mit klugen gedanklichen Transfers zu bösartigen Pointen verbunden werden:

[D]er Eiffelturm enttäuscht. Er tut es mit Absicht und er tut es mit Lust. Er ist das (Un-)Sinnbild der Dekonstruktion. Die Muse der Entzauberer. Er ist natürlich eine sie. La Tour Eiffel. Trotz ihrer scheinbar phallischen Form. Nur wenige wollen sie erklimmen. Sie besteigen. Sie bezwingen. Denn das kostet. Und zwar nicht wenig. Die meisten bleiben lieber am Boden. Zwischen ihren Schenkeln aus Stahl. Um ihr unter den Rock zu schauen. In jedem Touristen steckt auch ein Spanner.

An Zitaten wie diesem könnte man eine Serie kulturtheoretischer Essays aufhängen: über die (jeweils durchaus gewitzten) Gedanken von Tourismus als Voyeurismus, vom Weiblichen im scheinbar Männlichen oder von Unsinn und Sinnsuche dekonstruktivistischer Theoriebildung. Und hier erfüllt auch die geschlechtliche Metaphorik eine klare Funktion.

Das bleibt jedoch leider die Ausnahme. Einige Passagen des Romans setzen scharfe Pointen; einige Ideen sind amüsant; einige Figuren schön gezeichnet. Insgesamt aber ist Lisa Eckharts Boum ein literarischer Steinbruch, in dem randomisiert das eine oder andere explodiert. Eine Zusammenführung der verschiedenen Elemente zu einem stringent erzählten Roman bleibt aus, das Resultat ist chaotisch und über weite Strecken enttäuschend. Der nächste Flachwitz kracht – und es hat Boum gemacht.

Titelbild

Lisa Eckhart: Boum.
Hanser Berlin, Wien 2022.
368 Seiten, 25 EUR.
ISBN-13: 9783552073074

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