Multidirektionales Verdrängen

Der Sammelband „Geschichtsoptimismus und Katastrophenbewusstsein“ erhellt die europäische Rezeptions- und Gedächtnisgeschichte des Holocaust im 20. Jahrhundert

Von Anja ThieleRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anja Thiele

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Singularität des Holocaust ist in den zurückliegenden Monaten – einmal wieder, möchte man sagen – zum Gegenstand kontroverser Debatten geworden. Anlass der bisweilen als „Historikerstreit 2.0“ bezeichneten (Feuilleton-)Diskussionen waren diesmal keine Angriffe von rechter bzw. rechtskonservativer Seite, wie noch in den 1980er Jahren, sondern vielmehr Thesen und Forderungen von Vertretern der sich dezidiert progressiv verstehenden Strömung des Postkolonialismus.

Im Zentrum des Konflikts steht das postkoloniale Anliegen, die Shoah bzw. den eliminatorischen Antisemitismus der Nationalsozialisten als eine Art „koloniales Projekt“ zu denken. Den postkolonialen Denkern zufolge stellen Kolonialverbrechen und Shoah Auswüchse ein und derselben imperialistisch-westlichen Logik dar – wobei sich die als „provinziell“ gescholtene Auffassung von der Singularität des Holocausts als Hindernis erweist, das es zu überwinden gilt. Die vermeintlich übertriebene Rolle des Holocaust verhindere gar eine gleichberechtigte Erinnerung an kolonialistische Verbrechen – und bringe jede Kritik am Staat Israel zum Schweigen.

Zu Recht wurden die Thesen, die sich mitunter zu verschwörungsideologisch anmutenden Behauptungen über einen deutschen „Shoah-Katechismus“ verstiegen, scharf kritisiert. Einmal mehr explizierte eine ganze Reihe renommierter Holocaust- und NS-ForscherInnen die spezifische Qualität und Präzedenzlosigkeit der Shoah; zahlreiche (vor allem jüdische) Intellektuelle wiesen auf die antisemitischen Untertöne der Diskussion hin. Die Auseinandersetzung mit den kolonialen Verbrechen müsse zweifellos vorangetrieben und gestärkt werden – allerdings nicht um den Preis von historischem Revisionismus und notorischer Antisemitismusverharmlosung. Einige Repliken der bekannten Holocaust-HistorikerInnen Saul Friedländer, Norbert Frei, Sybille Steinbacher und Dan Diner sind inzwischen in dem Essaybändchen Ein Verbrechen ohne Namen. Anmerkungen zum Neuen Streit über den Holocaust erschienen.

Was in der Debatte bislang eher selten in den Blick geriet, ist die Tatsache, dass die Singularitätsthese mitnichten eine hegemoniale, seit Jahrzehnten in Stein gemeißelte Überzeugung ist. Vielmehr war und ist das Nachdenken über den Holocaust als in irgendeiner Weise „singuläres“ Geschehen das Ergebnis eines langwierigen und umkämpften Prozesses – eines Prozesses, der nach wie vor größtenteils von einer „kleinen, gebildeten, linksliberalen Elite“ getragen wird und noch bis heute andauert, wie zuletzt etwa der Politikwissenschaftler Samuel Salzborn in seinem Essay Kollektive Unschuld (2020) herausgearbeitet hat. Kurz: Die Herausbildung eines Bewusstseins für den nationalsozialistischen Genozid an den europäischen Juden und Jüdinnen verlief in den letzten 77 Jahren alles andere als reibungslos – und zwar nicht nur in der deutschen Tätergesellschaft, sondern oft und gerade auch in progressiven, antifaschistischen Bewegungen in ganz Europa, die nicht selten selbst gegen den Faschismus gekämpft hatten. Selbst unter Überlebenden und in der jüdischen Welt war der Fokus auf die Judenvernichtung – selbstverständlich aus anderen Gründen – nicht schon immer Konsens.

Solche bislang kaum beachteten Dimensionen der Gedächtnis- und Rezeptionsgeschichte des Holocaust stehen im Zentrum des kürzlich erschienenen Sammelbandes Geschichtsoptimismus und Katastrophenbewusstsein. Europa nach dem Holocaust, herausgegeben von der Konstanzer Kunsthistorikerin Anna Pollmann und den Leipziger Historikern Jan Gerber und Philipp Graf. In 20 deutsch- und englischsprachigen Beiträgen skizziert der 535 Seiten starke Band die „verspätete Rezeptionsgeschichte“ der Shoah in zahlreichen europäischen Staaten, insbesondere vor dem Hintergrund des Kalten Krieges der 1950er und 1960er Jahre. Was auf den ersten Blick wie ein historisches Nischenthema klingen mag, erweist sich vor dem Hintergrund der gegenwärtigen geschichtspolitischen Invektiven als höchst aktueller und relevanter Beitrag zur Debatte.

Jeder Beitrag widmet sich der spezifischen Nachkriegssituation eines europäischen Landes und rekonstruiert die genuinen (ideen-)geschichtlichen und gesellschaftlichen Kontexte der jeweiligen Geschichts- und Erinnerungspolitik. Neben den europäischen Ländern Österreich, Tschechoslowakei, Spanien, Frankreich, Italien, Polen, Bulgarien, Sowjetunion, BRD/DDR, Großbritannien, Griechenland, Ungarn, Jugoslawien und Schweden werden auch Seitenblicke auf die Vereinigten Staaten und Israel geworfen. Ein Großteil der Beiträge fokussiert auf die komplizierte Geschichte des Holocaustgedächtnisses „linker“, d.h. kommunistisch-sozialistischer, antifaschistischer oder anderweitig progressiver Bewegungen und Personen – unabhängig davon, ob diese wie in den osteuropäischen Ländern staatstragend waren oder sich in den in der Opposition zur Nachkriegspolitik ihres Landes befanden. Wie ließ sich das Verhältnis der jeweiligen Linken zur Shoah, zum jüdischen Schicksal und zum Judentum im Allgemeinen beschreiben – und in welchem Verhältnis stand dieses zur offiziellen (Gedenk-)Politik? Warum konnten sich pro-israelische und der jüdischen Gemeinschaft solidarisch verbundene Positionen, die es durchaus gab (vgl. die Beiträge über Österreich von Margit Reiter sowie über Jugoslawien von Stijn Vervaet), vielerorts nicht durchsetzen? Wie konnte es in manchen sozialistischen Ländern gar soweit kommen, dass Juden und Jüdinnen von KommunistInnen, die wenige Jahre zuvor ihr Leben im Kampf gegen das NS-Regime aufs Spiel gesetzt hatten, erneut verfolgt und sogar hingerichtet wurden – wie dies z.B. in der Tschechoslowakei (vgl. den Beitrag von Jan Gerber) oder Polen (vgl. den Beitrag von David Kowalski) der Fall war? Welche Rolle spielten jüdische Überlebende, die sich in den kommunistischen Bewegungen engagierten und wie wirkte die bisweilen latent abwehrend, bisweilen offen antisemitische Politik auf sie zurück (vgl. u.a. die Beiträge von Philipp Graf, Anna Pollmann, Catarina von Wedemeyer etc.)?

In der Beantwortung dieser Fragen eröffnet sich eröffnet sich den Lesenden ein Panorama des Antisemitismus und der Verdrängung des „Zivilisationsbruchs“ im Europa des 20. Jahrhunderts. Die parallelisierende Perspektive lässt erstaunliche Ähnlichkeiten sichtbar werden: So lassen sich die Gründe für antisemitische Kampagnen in der Nachkriegszeit oder für ein besonders distanziertes Verhältnis zur Aufarbeitung der Shoah nicht selten in der Geschichte des „langen“ 19. und frühen 20. Jahrhunderts und der dort etablierten antisemitischen, rassialisierenden und nationalistischen Diskurse finden. Jan Gerber arbeitet am Beispiel der Tschechoslowakei, David Kowalski am Beispiel von Polen und Kata Bohus am Beispiel von Ungarn heraus, dass den – mitunter tödlichen – antisemitischen Verfolgungswellen in den sozialistischen Ländern der frühen 1950er Jahre ethnische, religiöse oder Nationalitätenkonflikte des 19. Jahrhunderts sowie eine langfristig tradierte Diskriminierung von Juden und Jüdinnen vorausgingen. In der sozialistischen Propaganda gegen „Kosmopolitismus und Zionismus“ fanden diese ihre zeitgenössische Codierung. Aber auch in Westeuropa ist die erschwerte Holocausterinnerung unter anderem auf nationale Spezifika seit dem 19. Jahrhundert zurückzuverfolgen. So zeigt etwa Andy Pearce am Beispiel von Großbritannien, dass rassistische und antisemitische Ressentiments der Nachkriegszeit eine Vorgeschichte im British Empire haben. Als im Zuge der Dekolonisierung und der rassistisch-rechtsextremen Gewalt in den 1950ern und 60ern antirassistische Interventionen und Gesetze in Großbritannien etabliert wurden, blieb der Antisemitismus jedoch weitestgehend außen vor. Somit überlagerte der antirassistische Diskurs zeitweise die britische Auseinandersetzung mit dem Holocaust. In ähnlicher Weise wurde in Frankreich ein Holocaust-Bewusstsein in den unmittelbaren Nachkriegsjahrzehnten von der komplexen Konstellation zwischen Résistance-Erinnerung und Aufarbeitung der Kolonialgeschichte des Landes verdeckt. In beiden Ländern fand die Auseinandersetzung mit dem Holocaust erst „verspätet“ statt.

Ebenso wurde in vielen europäischen Ländern beidseits des Eisernen Vorhangs nach 1945 versucht, die nationalsozialistische Vergangenheit geschichtspolitisch für ein nationalistisches Narrativ zu instrumentalisieren. In einigen Ländern wie Bulgarien (vgl. Beitrag von Nadège Ragaru), Griechenland (vgl. Beitrag von Dimitris Eleftherakis) oder dem franquistischen Spanien (vgl. Beitrag von Susanne Zepp) bildete die idealisierende Selbstdarstellung als „Retter“ oder „Wohltäter“ der Juden die Folie, vor der sich neuerliche (sekundär-)antisemitische Ressentiments ausbreiten konnten. So zeigt Dimitri Eleftherakis beispielsweise auf, wie griechische kommunistische Widerständler in ihren Nachkriegsschriften Juden und Jüdinnen als „undankbar“ angesichts der zahlreichen Rettungsmaßnahmen „des griechischen Volkes“ bezeichneten und sie gar für die Deportationen selbst verantwortlich machten. Auch hier legte sich die Heroisierung des kommunistischen Widerstands im griechischen Bürgerkrieg unmittelbar nach dem Krieg über eine Auseinandersetzung mit dem jüdischen Schicksal.

Dieses Vorgehen war bei weitem kein Einzelfall. In zahlreichen Ländern und insbesondere in linken Bewegungen verdeckte die Erfahrung eigener Kämpfe die Auseinandersetzung mit der Shoah – seien dies die Erfahrungen des spanischen oder griechischen Bürgerkriegs, der Résistance, des antifaschistischen Widerstands- und Partisanenkampfes in Osteuropa und dem Balkan oder aktuellere Kämpfe gegen den (Post-)Kolonialismus und Rassismus, wie etwa in Frankreich, Großbritannien oder den Vereinigten Staaten. Selbst in Israel – so zeigt Lutz Fiedlers Beitrag – stand die junge, in Israel geborene und im Geiste einer starken nationalen Identität aufgewachsene Generation den vermeintlich „schwachen“ Überlebenden der Shoah in den frühen Nachkriegsjahren zum Teil distanziert bis abschätzig gegenüber. Erst der Eichmann-Prozess und der Sechstagekrieg erodierten allmählich jene erfahrungsweltliche Distanz.

Einzig die Strukturierung des Bandes in die Unterkapitel Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft vermag nicht zu überzeugen, werden doch in den meisten Beiträgen alle drei Ebenen gleichsam verhandelt. Ungeachtet dessen zeigt der Sammelband hinsichtlich aktueller geschichtspolitischer Debatten auf, dass ein Nachdenken über die Shoah auch noch etliche Jahre nach dem „Zivilisationsbruch“ und selbst in kritisch-intellektuellen, progressiven Kreisen, alles andere als „hegemonial“ war – geschweige denn, dass die Shoah über andere Verbrechen gestellt wurde oder diese gar „verdeckte“.

Eindrucksvoll veranschaulicht wird dies nicht zuletzt in den Einzelbiographien linker, progressiver Juden und Jüdinnen, die in etlichen Beiträgen nachgezeichnet werden. Das Erkenntnispotential des Biographischen für komplexe historische Zusammenhänge haben die ForscherInnen des Simon-Dubnow-Instituts in den vergangenen Jahren mehrfach unter Beweis gestellt – auch in diesem Sammelband erweist sich der biographische Zugang als glückliche Wahl. Jene im Band näher untersuchten jüdischen AutorInnen stellten trotz – oder gerade wegen – der existentiellen Erfahrung der Verfolgung und Vernichtungsandrohung andere gesellschaftliche Missstände, etwa einen drohenden Atomkrieg (Günter Anders, vgl. Beitrag von Anna Pollmann) oder die kapitalistische Gesellschaftsordnung (Anna Seghers, vgl. den Beitrag von Philipp Graf) ins Zentrum ihres politischen Denkens. Sofern sie sich überhaupt mit dem Nationalsozialismus beschäftigten, betonten sie gerade nicht die exzeptionellen, sondern die verbindenden Elemente der Shoah mit anderen Verbrechen.

Feinfühlig ergründet Falko Schmieder etwa in einem close reading von Ernst Blochs Werk, dass dessen marxistisch konturierte Hoffnungsphilosophie, die den Holocaust gerade ausklammert, als Ausdruck „geschichtlicher Verzweiflung“ und „als Versuch der Bewältigung einer Angsterfahrung“ gelesen werden muss. Derlei Auslassungen und Verschiebungen im Umgang mit der traumatischen Erfahrung der Shoah lassen sich auch bei anderen AutorInnen erkennen. Der Auschwitz-Überlebende Jean Améry etwa stellte in seinem essayistischen Werk die Folter als Essenz des Nationalsozialismus heraus – und zwar, wie Dan Diner ausführt, um seine eigene Foltererfahrung im Nationalsozialismus für den politischen Diskurs der Zeit – den Algerienkrieg – fruchtbar zu machen. Mit dem Begriff der Folter, Emblem des Algerienkriegs, stand er der damaligen Diskussion näher als mit dem Begriff der Vernichtung – freilich um den Preis einer Hintanstellung einer Auseinandersetzung mit der Vernichtungspolitik, dem eigentlichen „Kern“ des Nationalsozialismus.

Wer in den Schriften jener jüdischen Überlebenden also ein Paradebeispiel für ein frühes „multidirektionales Erinnern“ (Michael Rothberg) zu erkennen glaubt, wird mithilfe der historischen Analyse eines Besseren belehrt: Vielmehr zeigen die vielschichtigen und ambivalenten Lebensläufe, wie die Shoah aus strategisch-politischen, oftmals aber auch aus traumatischen Gründen im Denken der überlebenden Juden und Jüdinnen nachrangig blieb bzw. bleiben musste. Was manch einer also im Verweis auf die Schriften oben genannter DenkerInnen als „multidirektionales Erinnern“ ausweisen mag, war in Wirklichkeit ein Erinnern, das die Shoah ausklammerte.

Insofern bietet der Band nicht nur vielfach Anknüpfungspunkte für die aktuellen geschichtspolitischen Debatten. Er zeigt auch, dass den „blinden Flecken“ des heutigen Postkolonialismus in Bezug auf den Holocaust eine lange Geschichte linker, antiimperialistischer Marginalisierung der Shoah vorausging (obgleich es auch Ausnahmen gab). Doch der Sammelband ist noch mehr als das: Wer sich durch die knapp 600 Seiten arbeitet, kann am Ende der Lektüre mit Recht behaupten, nicht nur eine Nachkriegs-, sondern auch eine europäische Ideen- und Gesellschaftsgeschichte der westlichen Welt des 20. Jahrhunderts gelesen zu haben. Eine Geschichte, deren übergreifende Geschichtsmuster, wie der kürzlich verstorbene Theoretiker Moishe Postone abschließend auf den Punkt bringt, einschneidend vom Holocaust geprägt wurden.

Titelbild

Jan Gerber (Hg.) / Philipp Graf / Anna Pollmann: Geschichtsoptimismus und Katastrophenbewusstsein. Europa nach dem Holocaust.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2022.
535 Seiten, 55,00 EUR.
ISBN-13: 9783525317365

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