Die Zunge verbrannt

In Jean Kyoung Fraziers „Pizza Girl“ scheint die Protagonistin nicht aus ihren Fehlern zu lernen, sie dreht sich vielmehr im Kreis

Von Johanna ItterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johanna Itter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Perspektivlos, unglücklich mit dem Job, einsam, voller Selbsthass und mit einer eindeutigen Neigung zu übermäßigem Alkoholkonsum – Jean Kyoung Frazier ist nicht die Erste, die von diesen Menschen erzählt, von den Menschen, die nach ihrem Schulabschluss nicht den Sommer ihres Lebens haben, bevor sie aufs College gehen, sondern sich verlieren. Die Protagonistin in ihrem Debütroman Pizza Girl (2022) erinnert an Coming-of-Age-Geschichten wie die in Ladybird oder Juno.

Jane ist 18, schwanger, hat die Schule abgebrochen und arbeitet seitdem als Pizzalieferantin in einem Vorort von LA. Es ist ein Job, der sie ermüdet, keinen Sinn für sie ergibt, den sie gerade so erträgt. So sehr bei ihr ein Tag dem nächsten gleicht, so sehr ist er doch Ausgleich und Flucht von zuhause. Hier fühlt sie sich erdrückt durch die Liebe und Fürsorge ihrer Mutter Kayla und ihres Freundes Billy. Alle drei leben zusammen unter einem Dach. Billy und Kayla freuen sich auf das Baby und reden mit ihm, Jane freut sich nicht.

So wie die drei mit der Schwangerschaft unterschiedlich umgehen, tun sie es noch mit einem anderen Umstand, der die Stimmung ebenfalls erdrückend werden lässt: der ewig präsenten Trauer, die in jedem der Charaktere unterschwellig spürbar ist. Janes Vater, Zeit seines Lebens Alkoholiker, starb vor rund einem Jahr, indem er sich in dem Schuppen vor dem Haus zu Tode trank. Billys Eltern starben bei einem Autounfall. Jane und Billy lernten sich in einer Trauergruppe kennen, glichen sich darin, nicht über den Verlust weinen zu können, und verliebten sich. Doch ab da nahm ihre Trauer jeweils ganz unterschiedliche Züge an.

Jane, die noch nie die Stadtgrenzen von LA verlassen hat, erhascht durch das Pizza-Ausliefern einen kurzen Blick auf neue, unbekannte Menschen und deren Leben. Mal ist sie dabei wissbegierig und saugt jedes noch so kleine Detail auf, dann wieder ignoriert sie die Kund:innen vollkommen. Oft sieht sie nur das, was sie sehen will und was ihr Hoffnung gibt: So wie das Ehepaar Rita und Louie Brooker, die ihr jedes Mal engumschlungen wie frisch verliebte Teenager die Tür öffnen. Sie findet sie auf Anhieb sympathisch, beneidet sie um ihre Liebe. Später stellt sich heraus: Louie schlägt seine Frau, einmal sogar krankenhausreif. Alles nur Fassade, hinter der Jane ihre eigene Geschichte phantasiert. Und zum ersten Mal fragt man sich beim Lesen, ob die Erzählungen und die Sichtweise des Pizza Girls – der Ich-Erzählerin – zuverlässig sind.

Dann ist da natürlich das Kernereignis des Romans, der Anruf von Jenny Hauser während ihrer Schicht. Sie bestellt Salamipizza mit Gürkchen für ihren Sohn, der seit dem Umzug in eben jenen Vorort LAs die Nahrungsaufnahme verweigert und nur diese Pizza akzeptiert. Da die Pizza mit diesen Zutaten so nicht auf der Karte steht, muss Jane extra zum Supermarkt fahren und ein Glas saure Gurken besorgen – scheinbar nur eine kleine Änderung in ihrem sonst so monotonen Alltag, bedeutet dieser Anruf und die Auslieferung der Pizza jedoch, dass Janes Leben komplett aus den Fugen gerät.

Jenny bemerkt sofort, nachdem sich Jane bei der Pizza-Auslieferung in einen ihrer Gummistiefel übergeben hat, dass sie schwanger ist. Und viel wichtiger: Sie ist die Erste, die ausspricht, was alle anderen vermeiden und verdrängen: „‚Du bist nicht gerade begeistert.‘“ Und dann: „‚Es ist gut, dass du nicht begeistert bist. Oder es ist gut, dass du weißt, dass du nicht begeistert bist.’“

Statt sich auf gar nichts in ihrem Leben zu freuen, freut Jane sich ab jetzt zumindest auf Mittwoch, den Tag, an dem Jenny regelmäßig anruft und eine Salamipizza mit Gürkchen bestellt. Die Beziehung zu ihr wird schnell zur Obsession; trauernd und ziellos stürzt sie sich auf ihre Bekanntschaft mit Jenny, der fast 20 Jahre älteren Frau, die offen, geradeheraus und für Jane so untypisch für eine Frau ihres Alters ist. Sie trägt fleckige T-Shirts, flauschige Slipper, einen langen Pferdeschwanz und eben keinen perfekt gestylten Bob wie alle anderen Mütter Ende 30. Während Jane zunächst nur Einblick in ihr Haus und durch kurze Gespräche auch in Bruchstücke ihres Lebens als überforderte und von ihrem Ehemann oft alleingelassene Mutter bekommt, nehmen beide bald darauf auch an einer Selbsthilfegruppe für (werdende) Mütter teil. Aber nicht nur das: Ihre Beziehung entwickelt sich in Janes Kopf viel weiter. Sie findet Jenny vom ersten Augenblick an attraktiv, stellt sich sie und ihren Pferdeschwanz – Ausdruck ihrer Jugendlichkeit und Attraktivität – vor, während sie mit Billy Sex hat. Für Jane steht fest: Jenny ist genauso unglücklich wie sie selbst und muss folglich ihren Mann und ihr altes Leben hinter sich lassen, um mit ihr zusammen zu sein.

Dass all das nicht gut enden kann, wird spätestens mit Jennys erneutem Umzug (dem Job ihres Ehemanns zuliebe) klar. An ihren darauffolgenden Entscheidungen verbrennt sie sich ziemlich stark die Zunge… ein Wendepunkt?!

Was durch die Geschichte trägt, die weder eine wirkliche Handlung noch dynamische Charakterentwicklungen bereithält, ist der leise Humor, der Pizza Girl zu einem kurzweiligen Vergnügen macht. Einer, der einen eher zum Schmunzeln als pointenhaft zum Auflachen bringt. Frazier scheint es egal zu sein, ob wir ihre Protagonist:innen, speziell Jane, mögen, ob wir ihre Entscheidungen nachvollziehen können. Am deutlichsten wird das an dem großen gesellschaftlichen Tabubruch, der im Buch eine Rolle spielt: dem andauernden Alkoholkonsum während der Schwangerschaft, der schnell als rein egoistischer und mehr als ein selbstzerstörerischer Akt bewertet werden kann.

Das spiegelt den generellen Fokus der Erzählung gut; alles dreht sich um Jane, ihre Sicht und ihre Emotionen. Alle weiteren Figuren werden dadurch zu Abziehbildern, obwohl viel mehr Tiefe in ihnen steckt, als die Randerscheinung der überfürsorglichen Mutter, dem lieben Freund und dem toten Alkoholiker-Vater vermuten lassen. Gerade, wenn Frazier auf die individuelle Trauer zu sprechen kommt, deutet sich dieses größere Potential der Erzählung an, welches leider nicht ausgeschöpft wurde.

Das Buch beginnt und endet mit demselben Satz: „Ihr Name war Jenny Hauser, und jeden Mittwoch legte ich Gürkchen auf ihre Pizza.“ Und auch, wenn Jane dies am Ende zu ihrem ungeborenen Kind sagt, wodurch sich erstmals eine Entwicklung in ihr und eine Akzeptanz der Schwangerschaft zeigt, dreht sich die Protagonistin doch im Kreis, eben dadurch, dass Frazier sich dazu entschied, alle weiteren Konflikt- und somit auch Konfliktlösungspotenziale und größere Veränderungen lediglich anzuschneiden. Eine gekonnte Hommage an liebenswürdige Außenseiter ist es trotzdem.

Titelbild

Jean Kyoung Frazier: Pizza Girl.
Aus dem amerikanischen Englisch von Marion Hertle.
Kampa Verlag, Zürich 2022.
240 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783311100393

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