Der Sch / nitt

Kriminalfall oder Liebesgeschichte? Der Schriftsteller und Philosoph Senthuran Varatharajah hat dem „Kannibalen von Rotenburg“ mit „Rot (Hunger)“ einen Roman gewidmet

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was bei der Lektüre von Senthuran Varatharajahs neuem Roman als erstes auffällt: der Zeilenwechsel. Die Zeilen enden wie verstümmelt – als hätte der Verlag bei der Herstellung gepfuscht oder das Prinzip der Silbentrennung vergessen. Und den Trennungsstrich gleich mit: „Ich kannte den Abs / tand, den wir einmal Abend nennen, und auch den zwischen meinem Z / eige- und Mittelfinger“ liest man zum Beispiel. Einzelne Sätze lassen sich sogar als konkrete Lyrik lesen wie „Ein Sch / nitt / ist nur ein Schnitt“. Wobei auf das „nitt“ zuerst anderthalb leere Zeilen folgen, bis der Satz sein tautologisches Ende findet.

Aber ums Schneiden geht es schließlich in diesem Roman. Und ging es auch bei dem berühmten Verbrechen, das diesem Text zugrunde liegt. Wobei das schon die Frage ist. Ob es wirklich ein „Verbrechen“ ist – und nicht einfach ein Fall für die Psychiatrie –, wenn sich ein Mann nichts so sehr wünscht, wie sich selbst entmannen und zerstückeln zu lassen. Und ein anderer, sich einen Menschen so einverleiben zu können, dass dieser für immer bei ihm bleiben, untrennbar mit ihm verbunden sein würde. Und wenn dann beide – weil im Internet jedes noch so kaputte Töpfchen sein passendes Deckelchen findet – in schönster Einvernehmlichkeit gemeinsam ihre Träume in die Tat umsetzen.

Wobei der sexuelle Konsens – sofern man diesen Begriff verwenden kann – wie die mitlaufende Videokamera dokumentierte, auch dann noch anhielt, als längst das Blut floss und der abgetrennte Penis in der Pfanne zu brutzeln begann. „Das ist eine Liebesgeschichte“, lautet denn auch die Vorbemerkung des Autors zu seinem 115 Seiten schmalen Roman, was durchaus nicht die erste ästhetische Reaktion auf diesen Fall ist.

Im Gegenteil: Vermutlich hat seit dem „Werwolf von Hannover“ Fritz Haarmann in den 1920er Jahren kein anderer deutscher Kriminalfall Künstler:innen verschiedenster Couleur so angeregt wie der des „Kannibalen von Rotenburg“ Armin Meiwes: von Bands wie „Rammstein“ oder „Wilde Jungs“ über Dramatiker:innen wie Igor Bauersima oder Elfriede Jelinek bis hin zum Regisseur Martin Weisz mit seinem Horrorfilm „Rohtenburg“ (2006).

Mehr noch als bizarre Details wie die feinsäuberlich in Gefrierbeutel abgepackten 32 Kilogramm Menschenfleisch, die die Polizei in Meiwes Gefriertruhe fand, dürfte es das verstörende Moment des gemeinsamen Einverständnisses sein, das die Faszinationskraft dieses Falles ausmacht. Das gilt jedenfalls für den deutschen Schriftsteller und Philosophen tamilischer Herkunft Senthuran Varatharajah. Schon in seinem ambitionierten Debütroman Vor der Zunahme der Zeichen (2016), beim Klagenfurter Wettlesen mit dem 3Sat-Preis ausgezeichnet und von Ulla Hahn als „langes Prosagedicht“ gerühmt, war es das Internet, das einen geschützten Raum für vertrauliche Kommunikation bot. Wie im neuen Roman jenes Online-Forum, in dem sich seinerzeit der Computertechniker Armin Meiwes (im Roman A genannt) und der Ingenieur Bernd Jürgen Brandes (B) kennenlernten.

A und B sind aber nicht die einzigen Protagonisten dieses Romans. Denn eine zweite Gemeinsamkeit mit Varatharajahs Erstling ist ein Ich-Erzähler, der den Namen des Autors trägt. Wie dieser wurde auch der Erzähler im Kindesalter von den Eltern aus dem Bürgerkrieg auf Sri Lanka gerettet, wohnt während der Arbeit am Roman dank eines Arbeitsstipendiums im Bamberger Künstlerhaus Villa Concordia oder hält 2019 zu Christi Himmelfahrt die Kanzelrede im Berliner Dom.

Deshalb erzählt Rot (Hunger) nicht nur in einer kühlen, skrupulösen, sich der Gegenwartsform bedienenden Sprache davon, wie A und B im März 2001 auf einem abgelegenen Rotenburger Gutshof ihren Délire a deux auslebten, sondern auch von all den Anstrengungen des Ich-Erzählers, das Ungeheuerliche zu verstehen. Dazu gehören der Versuch, mit dem noch immer inhaftierten A einen Briefwechsel zu beginnen ebenso wie Experimente mit Drogen oder Selbstverletzung.

Dazu gehören aber auch Reflexionen über eigene Erfahrungen von Gewalt und Exklusion, vom Aufwachsen als Sohn eines „Unberührbaren“ bis zum Erleben von Rassismus hierzulande. („Wenn sie haut ab sagten, zog ich meine Haut ab, nachts, auf dem Bett, mit meinen Zähnen. Du weißt es.“). Oder der Rückgriff auf das Mittel der Dokumentation. So besteht die direkte Rede von A und B ausschließlich aus Originalzitaten, aus Chats, Mails oder späteren Interviews mit Meiwes, weshalb die ungeheuerlichsten Sätze authentisch sind wie etwa Bs Bitte: „Versuch mich so lange wie möglich am Leben zu halten“.

Selbst vor einer Tatortbegehung schreckt der Ich-Erzähler nicht zurück, als wäre er nur ein weiterer trauriger True-Crime-Afficionado, der sich bei der Besichtigung des seit zwei Jahrzehnten leerstehenden Gutshof endlich seinem Voyeurismus hingeben kann: „Vor uns: die Kühltruhen, die jeman / d in den Flur getragen hatte … Ich konnte das Dienstsiegel lesen.“ Und immer dabei sind die einschlägigen Werke von Sexualwissenschaftler:innen, vor allem aber von französischen Denkern wie Georges Batailles und Roland Barthes. Gerade die von Barthes erforschte „Sprache der Liebe“ entpuppt sich als eine Sprache des Sich-Einverleibens, ja der kannibalischen Lust: „Wir sagen: ich h / abe Dich zum Fressen gern.“

Nicht zuletzt die Erinnerung an eigene Erfahrungen mit Einsamkeit, maßlosem Begehren und transgressivem Sex mit seiner kurdischen Freundin Leila bestätigen den Verdacht des Ich-Erzählers, wonach die kannibalische Lust von A und B am Ende menschlicher ist, als es uns lieb ist: „Ich spüre immer noch Leilas Rachen auf meinem Schwanz. Ich höre ihre Küsse auf meinem Nacken, nachde / m sie sagte: … my love. I will destroy your face with my pussy.“

„Ich habe die Worte wörtlich genommen“, zitiert der Ich-Erzähler Armin Meiwes aus einem späteren Interview: „‚Das ist mein Leib, der für euch gegeben wurde. Tut dies zu meinem Gedächtnis.‘“ Man tut gut daran, Rot (Hunger) weniger als Roman denn als Sprachexperiment zu lesen, in dem Senthuran Varatharajah, der sich selbst als „Schriftsteller ohne Sprache“ bezeichnet, die Grenze von Sprache und Körper auszuloten versucht. Das mag nicht in jedem Detail überzeugend sein; lange im Gedächtnis bleiben wird einem dieser Text in jedem Fall.

Titelbild

Senthuran Varatharajah: Rot (Hunger). Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2022.
115 Seiten , 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783103970753

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