Poesie des auffällig Unauffälligen

In seinem Gedichtband „Wo das Gestern geblieben ist“ erkundet Michael Hillen Spuren des Vergangenen im Heutigen

Von Günter RinkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Rinke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Satz des Bildhauers Alfred Hrdlicka, den der 1953 geborene Michael Hillen einem der Gedichte in seinem neuesten Lyrikband voranstellt, könnte das Motto aller in dem Band versammelten Gedichte sein: „Mir fällt nichts ein, mir fällt was auf.“ Der geschärfte Blick für das nicht Verborgene, das unserer Aufmerksamkeit trotzdem meist entgeht, wenn wir zielgerichtet daran vorübergehen, ist bei Hillen die Voraussetzung für das Entstehen von Poesie. Es geht um das „offen sichtliche“ (in dem Band sind alle Wörter kleingeschrieben), das sich oft nur dem künstlerisch geschulten Auge offenbart.

Aber warum ist das so? Weshalb sehen wir Alltagsmenschen vieles nicht, was eigentlich offen zutage liegt? Entweder es ist zu unscheinbar, so dass wir darüber hinwegsehen, oder wir verweigern die Wahrnehmung, weil wir am liebsten verdrängen, was uns quälen könnte. Beispiele für das Unscheinbare gibt es viele in dem Band: ein beigefarbener Stützstrumpf im Schaufenster eines abgelegenen Sanitätsgeschäfts („geschäft in schlechter lage“), einzementierte Scherben auf der Mauer eines Grundstücks, die verhindern sollen, dass jemand darüber klettert („obenauf“), ein alter Kirschholzschrank, der in der langen Zeit seiner Existenz schon viel gesehen und beherbergt hat („großer schrank“), der Staub, der sich auf alles legt, auch wenn ihn niemand haben will („herbstinventur“).

Der Titel des Bandes verweist auf die vom Autor unternommene Suche nach dem Gestern im Heute. Dabei bringt der Dichter auch manch fast schon Vergessenes oder Verlorenes zutage: Wer weiß noch, was ein Schieber als Teil des Kinderbestecks ist? In einer Schublade ruht er als Teil des beschlagenen Silberbestecks, das nicht weggeworfen wird, obwohl es längst nicht mehr gebraucht wird („ohne fehl und tadel“). Wer kennt noch den Galoppwechsler einer Schaffnerin, die darin eingenommenes Geld verstaute oder es herausgab („traulich“)? Wird es auch die Schaffnerin, die zum Vorzeigen der Fahrkarten auffordert, bald nicht mehr geben? Die Modernisierung, die meist als Gewinn – Zeitgewinn, mehr Lebensqualität – aufgefasst wird, kann auch neue Probleme bringen: Anlass des Gesprächs im Zug über den Galoppwechsler ist ein defekter Fahrscheinautomat. Ein weiteres Beispiel, skurril anmutend, aber nützlich, ist die „Wiener Exkremententasche“, die seit 2004 (so erfährt man es im Netz) die Hinterlassenschaften der Fiakerpferde auffangen muss. Im Gedicht verknüpft Hillen diese neuzeitliche Errungenschaft listig über eine Zeitung aus dem Jahr 1899 mit der legendären Zeit des Fin-de-siècle-Wien („am ende eines tages“).

Das Einsetzen der Erinnerung wird in einem Gedicht („geruch aus fernen tagen“) ähnlich beschrieben wie in Prousts Recherches der berühmte ‚Madelaine-Effekt‘: „aus tassen tellern zuckerdose / der geruch eines fernen / weißen sonntags“. Durch den Geruch wird die konkrete Szenerie eines Sonntags aus der Kindheit evoziert. Um Wahrnehmungen, Erlebnisse und Gefühle aus der Kindheit geht es im ersten Teil des Gedichtzyklus, der 22 Gedichte umfasst. Der Mittelteil – „Aus mittlerer Entfernung“, 30 Gedichte – knüpft an Begegnungen, Erlebnisse und Kenntnisse des Erwachsenen an, der schon auf ein recht langes Leben zurückblickt. Mit Kenntnissen ist gemeint, dass der Band auch viel Kulturgeschichte enthält, oft (aber nicht immer) sind Gedichten Zitate von Persönlichkeiten, von denen manche nur Eingeweihten bekannt sein dürften, vorangestellt und stellen inhaltliche Auseinandersetzungen mit ihnen dar: Beispielhaft zu nennen sind der kolumbianische Philosoph Nicolas Gómez Dávila (der zweimal zitiert wird), der Meister der informellen Malerei Karl Otto Götz, der umtriebige italienische Journalist Tiziano Terzani, der griechische Dichter Jannis Ritsos, der aus den Niederlanden stammende Mediziner, Zeichner und Schriftsteller Leo Vroman.

Gedichte entstehen auch beim Betrachten eines Gemäldes („Paul Gauguins Stuhl“ von van Gogh), einer Radierung (Goya: „Desastres de la guerra“), eines Kunstobjekts (Andreas Slominski: „Ofen zur Verbrennung von Astgabeln“), einer sehr alten Fotografie (Joseph Nicéphore Niépce: „Der Blick aus dem Fenster“) oder eines alten Stummfilms im städtischen Archiv, der eine Stadt vor den Kriegszerstörungen zeigt. Oder sie entwickeln sich aus Vorstellungen von Lebenssituationen berühmter Persönlichkeiten: Fernando Pessoa im Café, Victor Hugos erste Eisenbahnfahrt, eine Vorlesung des Augustinermönchs und Lyrikers Luis de León im Jahr 1576.

Im dritten Teil des Zyklus schließlich – „Heute noch“, 25 Gedichte – geht es immer wieder um die im kollektiven Bewusstsein nachwirkenden Gewalterfahrungen, die, auch real, das sehen wir jeden Tag, noch längst nicht abgeschlossen sind: Flucht („heute noch“), politische Gefangenschaft (irgendwann“), Bürgerkrieg („das gleiche“), Verhör, Befragung („den träumen der vögel“), Schlachtfeld bei Ypern („fachtagung“), Zeppelinangriffe („fliegende zigarre“), Erinnerung an ein Tor ins Vernichtungslager, die aus einer Alltagssituation entsteht: Eine freundliche Frau weist einem Fremden den Weg durch ein Tor, „aber der alte mann / kann durch ein tor / nicht gehen.“

Meisterhaft bündelt Hillen in dem lapidaren Gedicht „notiz“ die Jahrtausende währende Gewaltgeschichte der Menschheit. Aischylos, der Dichter der Perserkriege und der Orestie, ist sowohl Hirte als auch Kriegsberichterstatter, lebt also eigentlich friedlich in ländlicher Idylle und Abgeschiedenheit, ist aber zugleich als internationaler Beobachter ein Registrator von Gewalttätigkeit:

internationaler beobachter
aus einem entlegenen jahrhundert.

die lodenpelerine kleidet ihn, er führt eine klauenschere
bei sich, eine kerbzange, einen hirtenstab,
folgsam ihm zur seite ein geängstigter schäferhund
in kugelsicherer weste –

unerkannt inmitten der brennherde
unserer zeit: aischylos.

›wie vor chr.‹, notiert er auf seiner wachstafel.
›: der geruch von menschenblut
will mir nicht aus den augen.‹

Der spezifische Rhythmus dieser Gedichte entsteht nicht durch die bekannten Versmaße, sondern vielmehr durch die Gliederung der Rede in Versen an sich. Sie weiche in Gedichten, so der Lyriktheoretiker Dieter Lamping, „durch ihre besondere Art der Segmentierung rhythmisch von normalsprachlicher Rede“ ab. Das Prinzip dieser Segmentierung sei die Setzung von Pausen, die durch den Satzrhythmus der Prosa nicht gefordert werde.

Hillens Gedichte, viele davon nicht durch Leerzeilen in Strophen gegliedert, bestehen oft nur aus einem oder zwei vielfach gegliederten Sätzen, an deren Ende die sinngebende Pointe steht. Auf Umwegen tastet sich die verdichtete Sprache an sie heran:

noch ungerahmt
im dunkel dieses morgens
fliegen bei meinen schritten
unter der feste des himmels
die ersten vögel auf, dieselben
die ich sah in einer
frühen religionsstunde
als mein kinderhirn
die vom hauchdünnen blatt
holprig abgelesenen zeilen
mit den verwirrenden hochgestellten
ziffern und minuskeln
verwandelte in ein lebendes bild
das ungerahmt noch war
von der sintflut.

In der Verdichtung verbinden sich in allen diesen Gedichten verschiedene Sinnebenen: hier das Erlebnis eines Gangs am frühen Morgen und die Wahrnehmung der Vögel, die Erinnerung an eine Schulstunde, der sinnlich konkrete Eindruck einer Bibel, die Idee von der Reinheit der Welt vor der Erschaffung des Menschen und die Unschuld des Kindes, das noch nichts von der Sünde weiß. Sprachlich wird die Verbindung zwischen Morgenspaziergang und Religionsstunde durch eine Formulierung aus der Genesis hergestellt: „die Feste des Himmels“.

Hillens Gedichte sind keine radikalen Formexperimente, sondern Einladungen zum langsamen und konzentrierten Lesen, zum Innehalten und Zurückblicken, um das Leben besser zu verstehen. Mit einem Kierkegaard-Zitat, das er seinem Band voranstellt, spricht der Autor diese Einladung aus: „Leben kann man nur vorwärts, das Leben verstehen nur rückwärts.“

Titelbild

Michael Hillen: Wo das Gestern geblieben ist. Gedichte.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2021.
97 Seiten, 14,80 EUR.
ISBN-13: 9783826074264

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