Die Suche nach einem Anfang

In Lorenz Langeneggers Roman fragt sich die Hauptfigur nach dem Tod des Vaters, „was man jetzt noch tun kann“

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der junge Gastrokritiker Manuel Keller erfährt in Lorenz Langeneggers Roman Was man jetzt noch tun kann im Urlaub vom Tod seines Vaters. Ein Schlaganfall riss ihn aus dem Leben. Stets hatte der Vater betont, es gehe ihm gut: „Um mich braucht ihr euch keine Sorgen zu machen.“ Doch nach dem viel zu frühen Tod seiner Frau zog er sich zurück, trauerte, reiste nirgendwo mehr hin und besuchte Manuel nur einmal in Wien. Nun steht Manuel alleine im Elternhaus und muss zahlreiche Aufgaben erledigen – das Passwort für das Internet suchen, Termine beim Bestatter organisieren, Kondolenzkarten beantworten, einen Makler für das Haus beauftragen. Aufräumen und Aussortieren. Welche Tasche des Vaters kann noch genutzt werden, was möchte man behalten? Er kramt in seinem Lebenswerk. Manuel fühlt sich dabei nur als Gast. Er ist zu Gast in der alten Heimat, um Abschied zu nehmen.

Langenegger zeichnet der realistische und präzise Blick auf eine Situation aus, auf die man sich kaum vorbereiten kann und die im Alltag meist nicht thematisiert wird. Welche Gefühle in den ersten Wochen und Monaten der Trauer plötzlich auftreten, ist sehr unterschiedlich. Das innere Chaos kann beängstigend sein. Trauer ist nicht nur Traurigkeit. Manuel weint nicht. Manuel attestiert sich selbst eine „naive Ernsthaftigkeit“. Mit leisem Ton breitet Langenegger den Alltag vor dem Leser aus und schafft Nähe. Der Leser bzw. die Leserin kann Manuels Einsamkeit, seine Verwirrung und eine Angst vor dem Urteil anderer Menschen – insbesondere vor dem Urteil seiner Freundin und seines Bruders – spüren.

Zugleich bleibt für die Trauer wenig Zeit. Wenn Eltern sterben, müssen Kinder schnell Verantwortung übernehmen und funktionieren. Manuel muss sich um die Firma seines Vaters Helmut Keller kümmern, die Schlüssel herstellt und seit Jahren keine Gewinne mehr abwirft. Die letzten Kund:innen der Firma waren langjährige Kunden:innen des Vaters. „Die meisten von ihnen nutzten die Gelegenheit, die sein Ableben bot, um auf elektronische Schließsysteme umzusteigen“, erläutert Manuel und steht hernach mit zweihundert Kisten auf der Straße. In ihnen befinden sich drei Tonnen mit den Rohlingen einer Variante des „horizontal gespiegelten Bohrmuldenschlüssels“. Er muss sie verkaufen, aber das Lebenswerk des Vaters aufzulösen, drückt Manuel zu Boden. Es ist, „als ob Helmut Keller ein zweites Mal starb“.

Häufig ist der Tod eines nahen Angehörigen der Auslöser eines Erinnerungsstroms, welcher sodann die Handlung eines Romans bildet. Bei Langenegger ist dies anders. Zwar beginnt mit dem Tod des Vaters auch bei ihm eine „Auseinandersetzung mit der vermeintlich längst hinter sich gelassenen Heimat“. Selbstverständlich erinnert sich Manuel an seinen Vater und seine Kindheit, aber weshalb er beispielsweise einst „das erste Mal in Krakau war“, weiß er nicht, stellt er verwundert fest. Dabei bleibt es. Die Hauptfigur versucht, sich eine Welt vorzustellen, in der alles rückwärts läuft. Es gelingt ihr nicht. Eine Zeitumkehr ist nicht möglich. Die Erinnerung steht nicht im Zentrum des Romans. Manuel kann und will nicht in der Vergangenheit leben, er ist auf der Suche nach einem Anfang. Er stellt sich mehrmals die Frage: „Wann, wenn nicht jetzt, war der Moment für einen Anfang?“

Langenegger schreibt Bücher für eine Generation, die am Schreibtisch sitzt und sich fragt, was noch kommt und ob man sich auf dem richtigen Weg befindet. Der unspektakuläre Protagonist seiner ersten Romane war der traurige, sympathisch ambitionsbefreite Beamte Jakob Walter. Seine Suche nach einem erfüllten Leben ist das wiederkehrende Motiv in Langeneggers einfühlsamen Romanen. Doch es gibt keine radikalen Umstürze, kein Aufrütteln oder Forderungen des Autors. Denn für einen Jakob Walter oder einen Manuel Keller wäre Schütteln nutzlos, Umstürze völlig unrealistisch – sogar nach dem Tod der Eltern. Jakob Walter ängstigt sich. Im Roman „Bei 30 Grad im Schatten“ startete er einen Ausbruchsversuch aus seinem grauen Alltag und strandete in Griechenland. Manuel Keller fürchtet sich. „Er hatte den Halt verloren.“ Seine kurze Reise führt nach Tansania, um die Rohschlüssel zu verkaufen. Die Last der Schlüssel zwingt ihn zu der Reise. Doch nach der Rückkehr weiß er noch immer, „dass sein Leben auseinanderfiel“.

Die durchweg männlichen Protagonisten des Autors begeben sich stets auf eine innere Reise – die Suche nach sich selbst. Manuel ist Studienabbrecher, der es sich träge in seiner Komfortzone bequem gemacht hat. Er wird gefragt, ob er den Rest seines Lebens „nur“ Gastrokritiken schreiben will. Langenegger führt dem Leser seine erfolgreichen Freunde vor, die für ein Consulting-Unternehmen Menschen entlassen und hart für hohe Gewinne arbeiten. Manuels kleiner Bruder ist Professor. „Was aber war das Wesentliche?“, fragt er sich. Manuel hat keine Kinder. Und dann verlässt ihn seine Freundin Sonja. Hart trifft ihn die doppelte Erkenntnis, dass er Vollwaise ist und auch zeitnah keine Kinder zu erwarten sind: „Es war niemand mehr da. Er war der Älteste seiner Familie und gemäß Statistik der nächste, der sterben würde.“ Wie kann er sich selbst finden?

Die leisen Töne des Buches suchen sich verwandte Ohren. Wer sich in einer ähnlichen Lebenssituation wie Manuel Keller befindet, den wird der Roman fesseln – und Hilfe bieten. Was man jetzt noch tun kann bietet unaufdringlich Unterstützung an. Indem der Leser Manuel Keller beobachtet, lernt er den Umgang mit irritierenden Gefühlen. Wer nicht weinen kann, der sieht, dass kein Aspekt der Trauer falsch ist und tabuisiert werden sollte. Nicht jeder muss sich zu einer Fernreise zwingen. Scheinbar kleine Momente machen das Leben lebenswert, wenn beispielsweise die Nachbarn im Hof applaudieren, nachdem Manuel in seiner Wohnung gedankenverloren eine kurze Melodie auf dem Klavier gespielt hat. Langenegger ist im besten Sinne ein Meister der Mittelmäßigkeit. Seine Erzählungen des Alltäglichen der jungen, hart am Schreibtisch arbeitenden Generation sind intensiv, lebensbejahend und sehr zu empfehlen.

Titelbild

Lorenz Langenegger: Was man jetzt noch tun kann. Roman.
Jung und Jung, Salzburg 2022.
272 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783990272695

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