Medizinisch-ethische Werthaltungen und Entscheidungssituationen im Spiegel von Arztromanen

Von Joachim Schulze-BergmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Joachim Schulze-Bergmann

Fast täglich wird von medizinischen Notlagen berichtet, die durch die Pandemie, die Klimaveränderung und Wetterkatastrophen verursacht werden. Der hoffnungsvolle Blick der hilflosen Betroffenen richtet sich naturgemäß auf den Arzt, auf das Gesundheitswesen und nicht zuletzt auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die die allgemeinen Hilfs- und Versorgungsmöglichkeiten erst ermöglichen. Die soziale Rolle des Heilkundigen wird also schon immer benötigt und erhält ihre praktische Ausformung in Abhängigkeit von der Entwicklung der Kenntnisse der äußeren und inneren Natur. Analog erscheint die Figur des Arztes in den erzählenden Texten in ihrer jeweiligen kulturellen Ausprägung. In dieser Perspektive entwickelt sich das Format des ‚Arztromans‘ auf Grund von beschreibbaren gesellschaftlichen Bedingungen im 19. Jahrhundert in Westeuropa und Nordamerika.

Um einen Überblick über die formale Entwicklung und inhaltliche Breite dieses Formats zu erhalten, führt ein erster Zugriff zu dem Stichwort ‚Arztroman‘ bei Wikipedia. Die dort erfolgte Darstellung und Quellennotierung erweist sich als überraschend schmal, es ergeben sich aber erste Hinweise auf Arbeiten, die sich um eine beschreibende Ordnung für diese Narrationen bemühen. Hervorzuheben ist die Arbeit von Borys Surawicz und Beverly Jacobson Doctors in Fiction (2009), mit der eine erste thematische Ordnung für ausgewählte Arztromane vorgelegt wird. Die Autoren nehmen zwei inhaltliche Merkmale zugleich in den Blick und gruppieren die von ihnen ausgewählten Texte danach: (1) Reihenfolge in der historischen Abfolge, (2) dominante Merkmale des ärztlichen Handelns. Die 31 Texte europäischer und US-amerikanischer Autoren können so folgenden neun Gruppierungen zugewiesen werden: „early books, idealistic doctors, destroyed careers, novel psychiatrists, dispirited doctors, abortion, satirized doctors, doctors in drama, contemporary doctors“. 

Wie erkennbar wird, stellen die Autoren einmal die eine, ein anderes Mal die andere Eigenschaft oder den Auftrag ärztlichen Handelns in den Vordergrund, um ihre Gruppierung durchzuhalten. Mit diesem Vorgehen stützen sich die Autoren auf ihre eigenen Vorstellungen vom ‚guten Handeln‘ des ‚guten Arztes‘ und können so abweichendes Verhalten identifizieren. Die literarische Gestaltung des jeweils geltenden beziehungsweise erwünschten Berufsbilds des Arztes erweist sich als ein literarisches Angebot, das offensichtlich die Interessen und Bedürfnislagen des lesenden Publikums an diesem Themenfeld trifft. In den ausgewählten Texten treten Ärzte nicht immer als Protagonisten auf, sie erhalten aber eine bedeutende Rolle für die Entwicklung der Textaussage. Größeren Raum nehmen solche Texte ein, mit denen das abweichende, kriminelle, unwissenschaftliche, kurz normverletzende Verhalten eines Arztes zum Thema wird.

In einem historischen Rückblick auf die Entwicklung der Medizin und mit ihr der Gestaltung des Arztes als literarische Figur unternimmt auch Marcel Reich-Ranicki in seinem Beitrag Fachleute für menschliche Leiden. Anmerkungen zu einem Thema ohne Grenzen: Der Arzt und die Literatur oder Die Rebellion gegen die Vergänglichkeit aus dem Jahr 1986 den Versuch, diese Entwicklungsbedingungen zu erläutern. Er verweist zunächst auf die naturwissenschaftlichen Entwicklungen, die den ärztlichen Erfolg ermöglichen und mit denen zugleich die religiös begründeten Konventionen zum Umgang mit dem menschlichen Körper den medizinisch-ethischen Begründungen weichen müssen. Dieser Prozess setzt im 18. Jahrhundert ein, gewinnt im 19. Jahrhundert gewaltig an Fahrt und bildet schließlich die Grundlage für die Ausdifferenzierung der ärztlichen Spezialisierungen bis auf den heutigen Tag. Allerdings müsste dieser Entwicklungsgang nicht auch und zugleich zu einer analogen Gestaltung der Arzt-Figur in literarischen Formaten führen. Reich-Ranicki weist darauf hin, dass sich das Verhältnis zwischen Arzt und Patienten in der Form herausbildet, wie sie auch heute noch verbreitet verstanden wird: als ein paternalistisches Verhältnis, das seine positiven Züge in der Figur des verständnisvollen und Rat gebenden Hausarztes findet, das auf der anderen Seite den eigennützigen, geldgierigen, womöglich kriminellen Mediziner kennt. Reich-Ranicki schreibt:

Bald zeigte es sich, dass der realistische Roman des 19. Jahrhunderts ohne die Figur des Arztes gar nicht mehr auskommen konnte. Ob bei Balzac oder Zola, bei Dickens oder Thackeray, Tolstoi oder Dostojewski – überall treten Mediziner auf, und nahezu immer wird ihnen, auch wenn es Nebenpersonen sind, doch eine wichtige Rolle zugedacht. Das gilt in vielleicht noch höherem Maße für das Drama des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, also für die Bühnenwerke Hauptmanns und Schnitzlers, Ibsens, Strindbergs und Tschechows.

In diesen breiten Korridor möglicher Persönlichkeitsmerkmale gehören mit dem Auftreten der Psychoanalyse weitere Handlungsaspekte des medizinischen Handelns, die sowohl in der realen Praxis wie in der literarischen Gestaltung die gesellschaftliche Wahrnehmung des Arztes noch einmal komplexer machen.

In den westlichen Gesellschaften finden sich nicht viele Berufsbilder, die eine solche Bandbreite von Merkmalen ihres beruflichen Handelns aufweisen. Auf der Seite der Patienten und damit der Gesellschaft im Ganzen begleiten die latente Angst vor Krankheit und die Notlagen bei Geburt und Sterben die ganze Lebensphase, und die Hoffnung auf Hilfe und Heilung richtet sich an die Personen im Gesundheitswesen. Da Heilung oft nur unter Berücksichtigung der lebensweltlichen Bedingungen des Patienten erfolgreich sein kann, muss der Patient dem Arzt intime Auskünfte anvertrauen können. Ein solches Verhältnis bestand oder besteht nur zwischen dem Priester und dem Gläubigen in der Beichte oder einem vergleichbaren Gespräch.

Zusammenfassend sieht Reich-Ranicki in den facettenreichen Arzt-Patienten-Verhältnissen und den gelungenen medizinisch-ethischen Handlungen sowie den Verletzungen dieser Codices einen breiten Fundus für literarische Gestaltungen, auf die er auch verweisen kann. Er schreibt:

Zunächst einmal: In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts entfaltete sich die Medizin besonders schnell, ihr Ansehen und ihre Geltung wuchsen von Jahr zu Jahr. Damit hängt es zusammen, dass sich für den Romancier wie den Dramatiker der Arzt als eine ideale, eine beinahe unersetzbare Gestalt erwies: Was sie ihren Zeitgenossen zu sagen hatten, ließen sie ihn aussprechen. Warum? Weil er die Humanität und den Fortschritt verkörpert? Weil er ganz unmittelbar das Gebot der Nächstenliebe verwirklicht und sich infolgedessen wie kaum ein anderer auch gegen dieses Gebot vergehen und versündigen kann? Nicht nur.

Den Schriftsteller reizte vor allem die Synthese, die gerade der Mediziner auf so augenscheinliche Weise personifiziert, nämlich die Einheit von Moral und Vernunft, von moderner Naturwissenschaft und schlichter Menschlichkeit. Hinzu kam ein Umstand ganz anderer Art. Der Arzt genießt eine hohe gesellschaftliche Anerkennung und ist, ähnlich wie der Geistliche, eine Vertrauensperson, mit dem Unterschied freilich, dass er sich nicht auf Metaphysisches stützt, sondern auf rationale, auf überprüfbare Einsichten. Es entsprach also dem Geist der Zeit, wenn sich im ausgehenden 19. Jahrhundert immer mehr Menschen nicht mehr auf den Geistlichen verlassen mochten, sondern auf den Arzt. Dies aber ermöglichte gerade ihm tiefe Einblicke in die Gesellschaft, auch und gerade in deren intimste Bereiche.

Die Autoren des ausgehenden 19. Jahrhunderts und später streben danach, die Ärzte in ihrem Verhältnis zu außergewöhnlichen Erkrankungen darzustellen, sie zur Beantwortung zu zwingen, ob sie dem Todeswunsch ihrer Patienten nachgeben (Th. Storm: Ein Bekenntnis) oder selbst und von außen unbemerkt in deren Lebensweg eingreifen (H. Söderberg: Doktor Glas). Reich-Ranicki beruft sich auf S. Maughan, der gesagt haben soll: „Ich kenne keine bessere Schulung für den Schriftsteller, als einige Jahre den Beruf eines Arztes auszuüben.“

Tatsächlich finden sich zahlreich namenhafte und erfolgreiche Autoren, die zunächst Medizin studierten, als Arzt arbeiten und zugleich oder in einer weiteren Lebensphase als Schriftsteller tätig sind. Zu nennen wären: in den USA und England zum Beispiel Lewis und Slaughter, im deutschsprachigen Raum zum Beispiel Schnitzler, Döblin, Benn, Weiss, Carossa.

Als weitere Quelle kann die Zusammenstellung und wissenschaftliche Bearbeitung zahlreicher Primärtexte bei der Online-Zeitschrift literaturkritik.de unter der Überschrift „Krankheiten in Literatur und Wissenschaften: aus dem Archiv von literaturkritik.de“ genannt werden. Für eine wissenschaftlich aufgearbeitete Übersicht der Entwicklung und für den Bestand von Arztromanen liegt die fünfbändige Arbeit von Dietrich von Engelhardt vor. In dem hier thematisierten Zusammenhang ist der Band 3 Medizin in der Literatur der Neuzeit von Interesse. Für einige aktuelle Texte des hier untersuchten Formats kann die Bestsellerliste des Spiegels herangezogen werden, so zum Beispiel der Text von Carola Holzner Eine für alle. Als Notärztin zwischen Hoffnung und Wirklichkeit aus dem Jahr 2021.

Alle diese Texte reagieren auf einen weiteren Entwicklungsprozess. Es handelt sich um die selbstreflexive Arbeit des ärztlichen Berufsstandes zu den die Arbeit ethisch rahmenden Prinzipien, Werten und Konventionen. Die Notwendigkeit der ärztlichen Praxis, durch einen selbstbindenden Eid vor Missbrauch zu schützen, ist seit der Antike mit dem Eid des Hippokrates belegt. Die mit diesem Eid angesprochenen Prinzipien ärztlicher Praxis, zum Beispiel Verschwiegenheit, Loyalität gegenüber dem Berufsstand, erweisen sich im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts als nicht mehr hinreichend. Entsprechend reagieren einzelne Ärzte, berufsständische Gruppen und nationale sowie internationale politische Gremien auf die Notwendigkeit, aktuelle Grundsätze der medizinischen Ethik zu formulieren. Und im Verlauf dieser Selbstvergewisserung finden sich viele Gelegenheiten, gegen die Grundsätze zu verstoßen oder sie eigennützig auszunutzen. Solche Beispiele befeuern die öffentliche Diskussion und finden auch Eingang in die literarischen Gestaltungen, die vor dem jeweiligen historischen Hintergrund entstehen. Margaret Atwood bespricht und kommentiert an dem Text Doktor Glas von Söderberg – der Text erscheint 1905 in Schweden – einen solchen Fall. Mit der Figur des Doktor Glas entwirft Söderberg eine komplexe Person, die Atwood wie folgt beschreibt:

Der Protagonist des Romans, Doktor Tyko Gabriel Glas, ist ein dreißigjähriger Mediziner, dessen Tagebuch wir über seiner Schulter lesen, während er es komponiert. Seine Stimme ist sofort überzeugend: intelligent, wehmütig, eigensinnig, unzufrieden, abwechselnd rational und irrational und beunruhigend modern. Wir folgen ihm durch seine Erinnerungen, seine Wünsche, seine Meinungen über die Sitten seiner sozialen Welt, seine lyrischen Lobpreisungen oder splenetischen Denunziationen des Wetters, seine Ausflüchte, seine Selbstdenunziationen, seine Langeweile und seine Sehnsucht.  

Glas hat eine junge Patientin, die Ehefrau des örtlichen Pastors, die unter dessen fortdauerndem sexuellen Verlangen leidet und nicht weiß, wie sie dem Mann entkommen kann. Glas erkennt die Not und entschließt sich, in diese unselige Verstrickung zu Gunsten der jungen Frau einzugreifen. Er tötet den Pastor mit einem Herzmedikament. Atwood bemerkt, dass dieser Text „…einen Skandal verursachte, vor allem wegen seines Umgangs mit diesen beiden ständig skandalösen Gegenständen, Sex und Tod.“

Die damaligen Reaktionen schwanken zwischen Zustimmung, hohem Lob und Ablehnung des Textes, der also, abständig gesehen, die Prinzipien des Arzt-Patienten-Verhältnis ebenso thematisiert wie die traditionellen und religiös begründeten Konventionen der ehelichen Sexualmoral, die im gesellschaftlichen Hintergrund noch Geltung haben. Söderberg nutzt die Figur des Arztes, um aus dessen Sicht leidvolle Lebensformen darstellen zu können. Mit den Reaktionen des Arztes auf die tragische Lebenslage der jungen Frau beschreibt er einen Lösungsweg, der in seiner Abwegigkeit und Verletzung ärztlichen ethischen Handelns von jedem Leser wahrgenommen werden muss. Aber die mit der Textaussage vermachte Frage, welche Lösungen individuell und verallgemeinerbar wünschenswert wären, beantwortet der Text nicht, daran können die Lesenden sich selbst abarbeiten.

Atwood betont die Vielfalt der literarischen Mittel, die Söderberg einsetzt; sie schreibt:

Auf den ersten Blick ist die Struktur von Doktor Glas entwaffnend lässig, fast zufällig. Das Gerät des Tagebuchs ermöglicht es uns, Ereignisse zu verfolgen, während sie sich entfalten, erlaubt uns aber auch, Glas‘ Reaktionen darauf zu belauschen. Die Funktionsweise des Romans ist so subtil, dass der Leser zunächst nicht bemerkt, dass er welche hat: So unmittelbar, sogar unverblümt, ist die Stimme, dass wir die unzensierten Gedanken einer realen Person zu lesen scheinen. Glas verspricht Offenheit: Er wird nicht alles niederlegen, sagt er, aber er wird nichts aufnehmen, was nicht wahr ist. „Wie auch immer“, fügt er hinzu, „kann ich das Elend meiner Seele – wenn sie erbärmlich ist – nicht austreiben, indem ich Lügen erzähle.“

Zufällige Begegnungen und triviale Gespräche wechseln sich ab mit Anfällen von Mitternachtskritzeleien; auf Witze und angenehme gesellige Mahlzeiten folgen stundenlange Qualen; Nacht und Traumzeit kontrapunktieren die Welt des zielgerichteten Tageslichts. Unbeantwortete Fragen untermalen den Text […].

Der Roman beginnt auf dem Boden des Naturalismus, der von französischen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts geschaffen wurde, geht aber darüber hinaus. Einige von Söderbergs Techniken – der Stilmix, die collageartigen Schnipsel – nehmen zum Beispiel Ulysses vorweg. Einige seiner Bilder lassen die Surrealisten erahnen: die verstörenden Träume mit ihren zweideutigen Frauenfiguren, der finstere Gebrauch von Blumen, die Brille ohne Augen dahinter, das handlose Uhrengehäuse, in dem Doktor Glas seine kleinen Cyanidpillen mit sich herumträgt. Ein paar Jahrzehnte zuvor, und dieser Roman wäre nie veröffentlicht worden; ein paar Jahre später und es wäre als Vorläufer der Stream-of-Consciousness-Technik bezeichnet worden.

Mit einer seiner letzten Novellen mit dem Titel Ein Bekenntnis thematisiert Storm ebenfalls das Arzt-Patienten-Verhältnis und das Problem des Arztes, engen Angehörigen Sterbehilfe zu leisten. In diesem Fall wird das Fehlverhalten des Arztes nicht durch eine göttliche Instanz, noch durch die Justiz oder das Standesgericht offengelegt und einer Strafe zugeführt: Der Arzt muss im Nachgang seiner Tat erkennen, dass er voreilig gehandelt hat: Er hat die notwendige Abwägung, seine Ehefrau von ihren Schmerzen zu erlösen oder weiterhin nach therapeutischen Möglichkeiten zu suchen, nicht sorgfältig durchgeführt. Er begreift, dass er eine therapeutische Möglichkeit übersehen hat, mit der er seine Frau hätte heilen können. Auf die Schuld, die der Arzt durch seine voreilige Sterbehilfe empfindet, reagiert er mit einer langjährigen Selbstbestrafung: Er heiratet nicht erneut und wandert nach Afrika aus. Dem Lesenden aber drängt sich die Frage auf, welche medizinisch-ethischen Prinzipien vom Protagonisten verletzt wurden und welche hätten unbedingt beachtet und befolgt werden sollen.

Diese beiden Texte stellen den Arzt als eine Person in den Mittelpunkt, die mit Hilfe ihrer fachlichen Kenntnisse über den Auftrag zu heilen hinausschießt und damit für sich und Dritte folgenschwer in Lebensläufe eingreift. Gerade weil die Autoren die Motive und Affekte der Mediziner beschreiben, die zu den problematischen Handlungen führen, werden die Dilemmata für die Lesenden gut nachvollziehbar. Da in beiden Texten der gesellschaftliche Hintergrund nur bedingt eine Rolle für die Textaussage spielt, ist der Lesende nicht unbedingt aufgefordert, den historischen Hintergrund zu bedenken, weil von dort keine Interventionen erfolgen, die das ärztliche Handeln befördern oder sanktionieren.

In den Texten von Sinclair Lewis Doktor Arrowsmith und Die Zitadelle von A. J. Cronin hingegen werden die biografischen Entwicklungen der ärztlichen Protagonisten in ihrem sozialen Umfeld und vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Gesundheitswesen in den USA und in England beschrieben. Die dort lokalisierten strukturellen Mängel führen die Protagonisten in Entscheidungssituationen, in denen sie für die Heilung der Kranken eintreten, zugleich aber standesrechtliche Konventionen verletzen. Lewis lokalisiert seinen Protagonisten in das kleinstädtische Milieu des amerikanischen mittleren Westens. Die realistische Schilderung der damaligen Lebenswelt und der Detailreichtum seiner Texte sowie die deutliche Kritik an zeitgenössischen Moralvorstellungen stoßen auf ein großes Leseinteresse. Lewis erhält als erster US-Autor 1930 den Literaturnobelpreis.

Cronin entwirft ebenfalls eine biografische Darstellung seines ärztlichen Protagonisten; er folgt damit dem literarischen Vorbildtext von Lewis. Sein Protagonist kämpft mit den strukturellen Schwächen des englischen Gesundheitswesens und für das Wohl seiner Patienten. Seine persönliche und wissenschaftliche Entwicklung führt diesen Arzt aus kleinbürgerlichen Verhältnissen in ein mondänes Londoner Milieu, in eheliche Krisen und schließlich in eine berufliche Organisationsform, eine private Gemeinschaftspraxis, die seinen sozialen Vorstellungen entspricht. In einer Rezension des Textes von Janett Marposnels heißt es:

Die Veränderung, die Andrew durchlebt, die sein Wesen so anders werden lässt, wird von A. J. Cronin schleichend und sensibel dargestellt, genau so – wie es oft im richtigen Leben geschieht. Jeder kennt solche Situationen, wo man am Ende gar nicht mehr weiß, wer oder was der eigentliche Auslöser für den erreichten Zustand war. Diesen Umstand hat der Autor hervorragend herausgearbeitet und gleichzeitig kritisiert Cronin gekonnt das damalige System, vor allem mit Fokus auf das Gesundheitswesen. Gesellschaftskritisch spricht er mit schonungslosem Fingerspitzengefühl Mängel an und sensibilisiert seine Leser für diese Missstände.

„Die Zitadelle“ ist eine zarte und zugleich kraftvolle Geschichte mit einem feinen Sinn für Gefühle in einer sowohl klaren wie auch harmonischen Sprache erzählt. […] Nicht umsonst vergleicht Hermann Hesse Cronins Schreibweise mit der des modernen Dickens.

Eine ganz andere Seite des ärztlichen Handelns wird in den beiden Texten von P. Bamm Die unsichtbare Flagge und von H. G. Konsalik Der Arzt von Stalingrad‘ zum Thema. Beide Autoren bedienen die konservative und restaurative öffentliche Meinung Westdeutschlands der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts, die eine kritische Aufarbeitung der nationalsozialistischen Diktatur nicht zuließ. Obwohl die unmenschliche und kriminelle Rolle vieler deutscher Ärzte bei der Durchsetzung der Euthanasiepolitik bereits in dem Nürnberger Prozess und mit der Dokumentation von A. Mitscherlich seit 1948 belegt war, fungieren diese beiden Texte in den 50er Jahren als eine Projektionsfläche für die Suche nach dem ‚guten Deutschen‘. Der Arzt Bernd Laufs schreibt zu Konsaliks Text Folgendes:

Der Schriftsteller Heinz G. Konsalik hatte mit dem Ohr am Zeitgeist die Apologie der Medizin in der Zeit des Nationalsozialismus im „Arzt von Stalingrad“ (1956) literarisch entworfen. Die Medizin der Nachkriegszeit interessierte sich nicht mehr für die unmenschliche Medizin der Jahre von 1933 bis 1945. Der immense Erfolg des Romans von Konsalik (später auch verfilmt mit O. E. Hasse und Mario Adorf), der mit der Realität der Kämpfe um die Wolgastadt wenig gemein hat, sondern den Mythos von Stalingrad nur als Chiffre für das Grauen des Krieges aufnimmt, erklärt sich durch seine groteske Botschaft: Die Überlegenheit der Deutschen zeigt sich trotz der Niederlage im Krieg in der moralischen Integrität und der überlegenen ärztlichen Heilkunst.

Konsalik stützt seine Erzählung auf den deutschen Arzt Otmar Kohler, der aus der russischen Gefangenschaft 1953 nach Westdeutschland zurückkehrt. Kohler wurde als Held empfangen. Laufs schreibt:

Als der Chirurg Dr. med. Ottmar Kohler an Silvester des Jahres 1953 im Lager Friedland aus beinahe elfjähriger russischer Gefangenschaft heimkehrte, war er ein geachteter Mann: Er wurde am folgenden Neujahrstag im Kölner Hauptbahnhof nicht nur von Konrad Adenauer, sondern auch von vielen ehemaligen Kriegsgefangenen freudig begrüßt. Sein Ruf war ihm vorausgeeilt als „Arzt von Stalingrad“, der Hunderte von Menschen in verschiedenen Kriegsgefangenenlagern mit primitiven Hilfsmitteln vor dem sicheren Tod gerettet hatte. Als im Jahr 1956 der Roman „Der Arzt von Stalingrad“ von Heinz G. Konsalik erschien, war aller Welt klar, dass Ottmar Kohler das Vorbild für diese Geschichte darstellte. Obwohl Konsalik den Chirurgen Kohler vor dem Erscheinen des Romans nie getroffen hatte, sagte er über ihn: „Dieser Mann war ein Held der Wirklichkeit, keine erfundene Romanfigur."

Konsaliks Text erreicht eine Weltauflage von über vier Millionen und bedient offensichtlich eine in Westdeutschland und darüber hinaus verbreitete Bedürfnislage und historisch-gesellschaftliche Wahrnehmung. Im Rückgriff auf eine Bewertung des Textes durch den langjährigen Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin der Ruprecht-Karl-Universität Heidelberg, Wolgang Eckart, wird der Text am 100. Todestag von Otmar Kohler 2008 im Westdeutschen Rundfunk wie folgt kommentiert:

Buch und Film sind nach Einschätzung des Heidelberger Geschichtsprofessors Wolgang Eckart voller Klischees, die dem deutschen Zeitgeist der 50er Jahre entsprechen. Konsaliks Botschaft lautet demnach: Die Deutschen sind den Russen als Ärzte und Menschen überlegen. Das Bild des deutschen Mediziners soll ins rechte Licht gerückt werden. Denn der Nürnberger Ärzteprozess hat 1946 gezeigt, dass SS- und Wehrmachtsärzte an den Verbrechen der Nazis beteiligt waren. Als Reaktion darauf zeichnet „Der Arzt von Stalingrad“ ein „karitatives, heldisches, aufopferndes“ Bild des deutschen Arztes.

Im Jahr 1952 veröffentlicht unter dem Pseudonym Peter Bamm der ehemalige Stabsarzt Kurt Emmerich den weitgehend autobiografischen Text Die unsichtbare Flagge über seine Teilnahme am 2.Weltkrieg. Der Text ist in 36 Kapitel gegliedert, in denen Schritt für Schritt der Kriegsverlauf an der deutschen Ostfront in den Jahren 1941 bis 1945 in tagebuchartigen Ausschnitten aus der Sicht des Militärarztes an der Front beschrieben wird. Bamm betont dabei, dass er und seine ihm zugeordneten Mediziner und Sanitäter stets darum bemüht waren, die Verwundeten bestmöglich zu versorgen. Das galt nicht nur für die deutschen Soldaten sondern auch für die Bevölkerung in den besetzten Gebieten und die gefangengenommenen Gegner. Diese Einstellung begründet er mit seinem Verständnis von der soldatischen Ehre und der ethischen Pflicht des Mediziners. Er distanziert sich von dem Handeln der nationalsozialistischen Truppenkontingente der SS und des SD, gibt aber zu, von deren Verschleppungs- und Vernichtungsaufträgen Kenntnis gehabt zu haben, und muss bekennen, nichts dagegen getan zu haben.

Unbesprochen bleiben die Greueltaten der Wehrmacht, die den politischen Aufträgen der rassistischen Säuberung, der Eroberung der Ukraine und der Kohle- und Erdölfelder Russlands folgte. Da er es unterlässt, die NS-Eroberungspolitik und die rassistische Ideologie angemessen zu thematisieren, konstruiert er eine vergleichbare Textaussage, die der von Konsalik nahesteht: Es ist das Klischee vom unermüdlichen arbeitenden, pflichtbewussten, handwerklich guten, aber unpolitischen deutschen Arzt.

Diese beiden Texte sind offensichtlich von der Absicht geprägt, die politische Orientierung der westdeutschen Bevölkerung zu bedienen. Der Verkaufserfolg bestätigt diese Absicht, und es ist nicht verwunderlich, dass sowohl Autoren wie auch Verlage und Medienproduzenten diese Einnahmequelle weiter ausbauen. Die Folge ist, dass in Texten und Medienprodukten die Darstellungsmittel und die gewählten Inhalte mit Effekten arbeiten, die eine kurzfristige Zustimmung auf Seiten der Rezipienten auszulösen vermögen. Im Ergebnis darf von einer rasanten Trivialisierung des Formats des Arztromans seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts gesprochen werden.

Die älteren Arztromane haben zum Teil weltweite Verbreitung gefunden, zum Teil wurden ihre Handlungen verfilmt. Die Autoren waren selbst Ärzte oder haben sich fachlich beraten lassen. Mit Hilfe dieser Expertise gelingt es, die Figuren authentisch darzustellen und ihre Aufgaben, Probleme und deren Lösungen facettenreich zu erzählen. Die hohe Resonanz beim Publikum lässt den Schluss zu, dass die Romane auf eine Bedürfnislage treffen, die in einem Wirkungszusammenhang mit den Themenfeldern dieser Texte steht. Die ansehnlichen Verkaufszahlen der Texte bescheren den Autoren sprunghaft gewaltige Honorare und legen die Grundlage für ihre weitere Lebensplanung als Arzt und Autor. Durch die profitorientierte Absicht übernimmt der jeweilige Verlag die Dominanz über die Gestaltungsmittel und die Komplexität der Textaussage: Die literarischen Texte verlieren ihre handwerklichen Qualitäten, sie werden trivial.

Diese Entwicklung lässt sich an folgenden Merkmalen der Arztromane nachweisen. Die literarischen Figuren werden als körperlich besonders attraktiv dargestellt, die Hinweise auf charakterliche Eigenschaften stellen allein einige wenige positive Eigenschaften heraus, die Figuren wirken unnatürlich modelliert, fast puppenhaft, sie werden zum Klischee. Die weiblichen Figuren, Ärztinnen und Krankenschwestern, werden als attraktive, pflichtbewusste und loyale Personen beschrieben, die allerdings sehr unterschiedliche Ziele für ihr Leben anstreben: Die Ärztin erwartet eine leitende Funktion und arbeitet deshalb als Wissenschaftlerin an einer solchen Entwicklung. Oder sie setzt ihre sexuelle Attraktivität strategisch in solchen Situationen ein, in denen es um ihre Karriereplanung geht: Die sexuellen Wünsche der mächtigen männlichen Entscheidungsträger werden von ihr erfüllt. Die Krankenschwester verfolgt andere Vorstellungen, sie will einen Arzt heiraten, eine Familie gründen und dem überlasteten Ehemann einen Ort der Entspannung bieten, die sozialen Kontakte herstellen und pflegen und den beruflichen Erfolg ihres Ehemannes zur Schau stellen.

Die männlichen Figuren sind mutig und analysieren kritische Situationen erfolgreich und fachlich versiert. Sie entdecken und erproben neuartige Techniken und sie sind diejenigen, die die Operationen und Analysen leitend durchführen. Die technischen Erneuerungen werden von ihnen immer erfolgreich angewendet.

In Slaughters Intensivstation wird die Behandlung eines herzkranken Jugendlichen in einer Überdruckkammer  durchgeführt, eine Therapie, von der bisher nur in Europa  berichtet wurde. Die Kardiologie des Krankenhauses erprobt Transplantationen mit entsprechendem Risiko für die Patienten und eine andere Patientin wird durch eine Blutwäsche gerettet, ein Vorgehen, das ebenfalls an der Klinik erstmalig durchgeführt wird.

Die Handlung, die in den älteren Arztromanen noch über Jahrzehnte andauerte, wird auf wenige Tage oder Notfalleinsätze reduziert. Dadurch sind andere Darstellungsformen notwendig: Tagebucheinträge, Protokolle, unverbundene Episoden.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass in solchen Texten wenige medizinisch-ethische Inhalte zurückbleiben: Denn eine breite Darstellung der Handlungsmotive, deren Abwägung bei der Berücksichtigung unterschiedlicher ethischer Werte und individueller Interessen findet in einer Erzählung keinen Platz, die von einem Notfall zum nächsten eilt und den Lesenden in diese Hektik einbindet und seine Erwartung nach Spannung bedient.

Seit etwa zwei Jahrzehnten erscheinen Arztromane auf dem Markt, die der voyeuristischen Befriedigung der Lesenden noch direkter zuarbeiten, als es die Texte vor ihnen vermochten. Ärzte berichten von ihren Notfalleinsätzen, überarbeiten ihre Einsatzprotokolle zu literarischen Sequenzen und reihen solche an sich unzusammenhängende Berichte aneinander, bis ein Volumen entsteht, das einem literarischen Werk gleichkommt. Um den Vorwurf der Banalität zu entkräften, werden die Fallbeispiele durch einen medizinisch fachlichen Beitrag ergänzt, wo für den Lesenden eine solche Erläuterung des ärztlichen Vorgehens als hilfreich vermutet wird.

Beispielhaft für ein solches Vorgehen sei auf die Veröffentlichungen zweier Notärzte verwiesen: Christoph Schenk und Carola Holzer. Schenk, geboren 1965, veröffentlichte seit 2017 drei solcher Texte, in denen er über einhundert Notfalleinsätze darstellt.  Die Titelseiten dieser Texte – Viva la Reanimation (2017), Zwischen Leben und Tod (2018) und Blaulicht und Blutmond (2020) – zeigen den Autor in roter Einsatzkleidung vor einem schwarzen Hintergrund. Schenk kommuniziert über eine Homepage mit seinen Lesenden, stellt  Rezensionen seiner Bücher vor und bietet Autorenlesungen und den Kauf von T-Shirts an. Diese Form von marktorientierter Selbstdarstellung wird von der Berufskollegin Carola Holzner, geboren 1982, noch übertroffen. Mit ihrem Text Eine für alle. Als Notärztin zwischen Hoffnung und Wirklichkeit (2021) kopiert sie Schenks Formatgestaltung und mediale Selbstvermarktung. Ihr Text wird im Jahr der Veröffentlichung auf der Spiegel-Bestseller-Liste geführt. Doc Caro, wie sich die Ärztin nennt, mischt sich in die Diskussion um die Pandemie-Diskussion ein und erregt öffentlich so viel Aufmerksamkeit, dass sie von den Medien zu Interviews geladen wird, die AOK sie als beratende Ärztin engagiert und sie selbst eine eigene Homepage betreibt, um mit ihren Lesern im Kontakt zu stehen. Diese Art der Selbstvermarktung scheint so erfolgreich zu sein, dass ein weiterer Text mit dem Titel Keine halben Sachen. Wie die Notaufnahme den Blick aufs Leben verändert (2022) erscheint. Holzner wird von SAT 1 engagiert, um Fragen zur Gesundheit zu moderieren.

Eine solche Berichterstattung aus dem beruflichen Alltag eines Notarztes müsste auf jeden Lesenden nach kurzer Zeit ermüdend wirken und schon gar nicht erfolgreich verkäuflich sein. Aber das Gegenteil ist der Fall: Die ausgewählten Einsatzsituationen führen die Rezipierenden in ungewöhnliche, dramatische und tragische Lebensumstände der Patienten, die in ihrer Not sich nicht mehr selbst helfen können und den Arzt dringend benötigen. Der Blick in diese Bedrohungssituationen Dritter ist für die Lesenden deshalb reizvoll, weil sie in der Regel den Helfenden des Gesundheitswesens vorbehalten bleiben und das nicht ohne Grund. Schließlich soll die Würde der hilflosen Person gewahrt bleiben. Hinzu kommt die besorgte Frage, ob die gesellschaftliche Reaktion auf solche Notlagen hinreichend sei, ob also mit einer Organisationsform zu rechnen ist, die mit ihrer technischen und medizinischen Ausstattung die Kontrolle über die Notlagen behalten kann oder können sollte. Die Lesenden werden beruhigt: Die Notärzte erfüllen diesen Auftrag und erläutern zudem noch geduldig, was der laienhafte Lesende nicht wissen kann: Krankheitssymptome und medizinische Fachwörter ebenso wie soziale Hilfeeinrichtungen.  

Diese Notarzt-Autoren gleichen sich in ihrer selbstgewählten Absicht, aus einem Teil ihrer beruflichen Erfahrung Geld zu schlagen, in Folgendem: Sie stellen sich als unermüdliche Kämpfer im Einsatz für ihre Patienten dar, sie gestalten sich selbst zu einem Bild mit hohem Aufmerksamkeitswert und werden somit zu einem Versatzstück der vom Verlag geplanten Warenkörpergestaltung. Diese Warenästhetik verstellt den Blick auf die Person und Persönlichkeit des Mediziners, ermöglicht aber die erfolgreiche Vermarktung auch in anderen Medien. Die glaubhafte Bindung dieser Autoren an die medizinisch-ethischen Werte ist, solange sie der einmal eingegangenen Profitorientierung nachgehen, weder notwendig noch nachvollziehbar.