Weniger Egoismus, mehr Menschlichkeit

Elif Shafak schreibt in ihrem kurzen, aber vielsagenden Text „Hört einander zu“ von der Gefahr, in der sich die Demokratie in unserer heutigen Gesellschaft befindet

Von Rebecca SiegertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rebecca Siegert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schon zu Beginn ihres Essays Hört einander zu thematisiert Elif Shafak die Wichtigkeit der Gemeinschaft und somit auch des Hinterfragens eigener Überzeugungen: „Sobald wir aufhören, uns andere Meinungen anzuhören, lernen wir auch nichts mehr […] Der Mensch lernt hauptsächlich aus Unterschieden.“ Ihrer Meinung nach entsteht Veränderung an den Rändern. So „müssen [wir] intellektuelle Nomaden werden“, uns mit Diskursrändern befassen, um nicht zu stagnieren.

Die britisch-türkische Schriftstellerin Elif Shafak ist eine der bedeutendsten Stimmen der Gegenwart für Gleichberechtigung und Frauenrechte. Es wurden bereits 19 Bücher von ihr veröffentlicht. Hört einander zu ist aufgeteilt in eine kurze Einführung und fünf thematische Kapitel. Das erste Kapitel trägt den Titel „Desillusionierung und Verunsicherung“. Nach Shafak befinden wir uns gegenwärtig in einer Zeit voller Unsicherheiten und fragen uns (unter anderem), wo die Grenzen des Internets liegen, warum unsere Daten gesammelt werden usw. Der Autorin gelingt es besonders gut, den Nebel der digitalen Welt zu umschreiben und vor allem die so entstehende gesellschaftliche Verunsicherung darzustellen. Wir wissen, dass wir ständig überwacht werden, können jedoch als menschliche Wesen nur einen Bruchteil dessen verstehen, was vor sich geht.

Sie schreibt weiter über eine Desillusionierung der Gesellschaft. All die Versprechungen auf eine menschenwürdige Zukunft, die gemacht wurden, werden ihrer Ansicht nach nicht erfüllt. Gier, Profit und Monopolmacht stehen noch immer im Zentrum der Regierungsziele und die Ereignisse während der Corona-Krise sprechen ebenfalls nicht für den Fortschritt, der doch eigentlich die Menschheit im Fokus hätte haben sollen.

Nach Shafak befinden wir uns in einer Übergangssituation: vor dem Anfang, aber nach dem Ende.
Die stetige Ungewissheit mache krank, was viele Menschen in einen Gruppennarzissmus treibe, welcher wiederum eine Scheinsicherheit vermittle: Ich gehöre einer Gemeinschaft an.
Dieser Gruppennarzissmus wird durch die digitale Welt verstärkt. Algorithmen verstärken extreme Meinungen, da der Unmut der Menschen auf Anklang stößt. Dies zerstört die Demokratie, die für Kompromiss und Pluralismus steht.

Ereignisse wie die Pandemie zeigen, so Shafak, dass wir uns geklärt und verstanden geglaubten Begriffen und Fragen erneut stellen müssen: „Was ist Demokratie?“, „Was ist Freiheit?“, „Was ist Egoismus?“ usw. und ganz besonders wichtig nach Shafak: „Wer bin ich?“ Die Frage nach der eigenen Identität bestimmt unser Handeln und die zukünftige Entwicklung der Gesellschaft:

Besitze ich eine einheitliche Identität auf der Grundlage von Nationalität, Ethnizität, Religion, Klassenzugehörigkeit, geografischer Verortung oder Gender? Oder bin ich nicht im Grunde eine Mischung aus diversen Zugehörigkeiten und kulturellen Bindungen, mannigfaltigen Vermächtnissen, verschiedenen Hintergründen und Entwicklungsverläufen?

Gerade die Frage nach der Identität, die Shafak hier stellt, lässt die Leser*innen ihre eigene Rolle im Großen und Ganzen hinterfragen. Die Autorin legt nahe, uns als „Bürgerinnen und Bürger der Menschheit“ wahrzunehmen und diese gemeinschaftliche Identität anzuerkennen.

In den darauffolgenden Kapiteln „Angst“ und „Wut“ plädiert die Autorin dafür, unsere „dunklen Gefühle“ anzuerkennen und sie nicht in Scham zu ersticken. „Wut im Angesicht von Ungerechtigkeit und Unterdrückung ist nicht nur eine ehrenwerte menschliche Reaktion, sondern oft auch der Gegenpol zur Gleichgültigkeit“. Doch wichtig sei, diese Wut in eine „produktivere, ruhigere, damit jedoch nicht notwendigerweise weniger starke Kraft fließen zu lassen“, um „Kurzschlusshandlungen und blinde[] Zerstörung“ zu vermeiden. Das Gefühl der Wut lässt sich ihrer Ansicht nach nicht länger verdrängen. Trotzdem sollten wir uns nach Shafak immer wieder selbst hinterfragen, denen beiseite stehen, die Leid erfahren und unsere Vorurteile überprüfen. Doch die Frage, die man sich an dieser Stelle als Leser*in stellt – Wie genau kann ich das umsetzen? – bleibt bei diesem doch sehr kurzen Buch leider unbeantwortet.

Shafak behandelt außerdem die Gefahr der „Teilnahmslosigkeit“ und ganz zum Schluss spricht sie über „Information, Wissen [und] Einsicht“, was über die gesamte Thematik des Buchs eine Art Bogen spannt. „Es gibt inzwischen zu viel Information, zu wenig Wissen und noch weniger Einsicht.“ Shafak schreibt darüber, dass die Zeit direkt nach der Jahrtausendwende eine Zeit der Hoffnung war, dass durch die globale Vernetzung, die digitalen Möglichkeiten die Menschen nun an eine Fülle an Informationen kommen können, um vermeintlich richtige Entscheidungen zu treffen für die Demokratie. Doch was ist mit der dunklen Seite dieser gesellschaftlichen Entwicklung? Mit Fake News, digitaler Diskriminierung und Polarisierung? „Wahres Wissen wird durch ein Zuviel an Information eher verhindert.“, schreibt sie weiter. An dieser Stelle könnte man einwenden, dass dies wahrscheinlich auch von der (Medien)Kompetenz der Menschen, wichtige Informationen von zu vernachlässigenden zu unterscheiden, abhängt, nicht nur von der bloßen Informationsmenge.

Unsere Zeit ist die „Illusion ewigen Fortschritts“, sich in einem westlichen Land lebend darauf auszuruhen, dass die Demokratie längst erreicht sei, führe zu Ignoranz, und dazu dass die Aufmerksamkeit für das große Ganze fehle. Darauf gilt es zu achten. Und was wir alle verinnerlichen müssen, um die Demokratie zu schützen und sie weiter auszubauen, wird einem beim Lesen dieser Lektüre einmal wieder auf eindrückliche Weise aufgezeigt: Empathie, Einsicht und echte Gemeinschaft.

Titelbild

Elif Shafak: Hört einander zu!
Aus dem Englischen von Michaela Grabinger.
Kein & Aber Verlag, Zürich 2021.
96 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783036958446

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