Lovecraft in Manhattan
In N. K. Jemisins Roman „Die Wächterinnen von New York“ sind die Rollen von Gut und Böse im Kampf ums Dasein klar verteilt – oder auch nicht
Von Rolf Löchel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseScience Fiction und Fantasy sind schon lange keine scharf getrennten Genres mehr. Auch in N.K. Jemisins SF-Roman Die Wächterinnen von New York geschehen allerlei phantastische Dinge. Magie und andere übersinnliche Kräfte spielen dabei allerdings keine Rolle. Vielmehr werden zwar nicht alle, aber doch etliche der scheinbar übernatürlichen Ereignisse mit Hilfe der Quantenphysik, mit „Fraktal-Bäumen“, der „Viele-Welten-Theorie“ oder einer etwas wirren, Religion und Wissenschaft verquickenden Rede von einer „einheitlichen Feldtheorie der Schöpfung“ erklärt. So etwa, dass es in der Handlungswelt des Romans unzählige New Yorks in unzähligen Universen gibt. Allerdings entsprechen die Erklärungsversuche schon bei einfachen Phänomenen nicht immer den physikalischen Tatsachen. So wird etwa behauptet, dass „das Geräusch von zerreißendem Metall und berstendem Beton und Autohupen […] durch den Dopplereffekt der Entfernung verzerrt“ wird. Dieser Effekt tritt jedoch nicht aufgrund der Entfernung zwischen der Quelle einer Schall- oder Lichtwelle und dem Ohr oder Auge, auf das sie trifft, auf, sondern durch die relative Bewegung beider zueinander, durch welche die Wellen entweder gestaucht oder gedehnt werden.
Manche phantastische Phänomene werden allerdings auch gar nicht erklärt, sondern müssen von den Lesenden einfach hingenommen werden. So etwa, dass „jede Legende“ und „jede Lüge“ über New York „zu neuen Welten“ führen, die „zu diesem großen Haufen namens New York beitragen, bis irgendwann alles unter dem eigenen Gewicht zusammenbricht … und zu etwas Neuem wird. Etwas Lebendigem.“ Nicht immer vollzieht sich dieser Geburtsvorgang einer Stadt unproblematisch. Manchmal scheitert er, wie etwa im Falle von New Orleans, Port au Prince oder Atlantis. Doch nicht nur Städte werden geboren, ganze Universen werden „ins Leben geschleudert“.
In Jemisins Roman ist es New York, das zum Leben erwacht und zwar in Form von fünf „Avataren“, die jeweils einen Stadtteil der Metropole, ihrer Gebäude, Straßen und – das wird nicht ganz klar – wohl auch ihrer Menschen „verkörpern“. Dies sind die ProtagonistInnen und Identifikationsfiguren des Romans. Vier von ihnen sind sogenannte BIPoC (Black, Indigenous, and People of Color) verschiedener Ethnien, die fünfte ist eine ‚weiße‘ Person; vier sind weiblichen Geschlechts, eine ist ein Mann. Auch sind sie verschiedenen Alters von kaum den Jugendjahren entwachsenen Studierenden bis zu einer hoch in ihren 60ern stehenden Frau. Und natürlich haben sie verschiedene sexuelle Orientierungen. Denn der Roman will offenbar so divers wie nur irgend möglich sein. Die Verkörperung der Bronx Bronca ist eine promovierte bildende Künstlerin im Rentenalter und gehört den indigenen Lenape an, die schon vor Eintreffen der ersten EuropäerInnen das Gebiet des heutigen New York und New Jersey besiedelt hatten. Manni ist gerade erst in New York eingetroffen, leidet an Amnesie und steht für Manhattan. Die irischstämmige Aislyn verkörpert Staten Island. Die 25-jährige indische Mathematikstudentin Padmini befasst sich mit „stochastischen Prozessen in einem Trinominal-Modell“ und ist die Inkarnation von Queens. Brooklyn schließlich ist in einer früheren Rapperin repräsentiert, die heute als Politikerin reüssiert. Jeder der Avatare besitzt „besondere Fähigkeiten, wie auch jeder Stadtteil verschiedene Stärken einbringt, die New York zu dem machen, was es ist“.
Es stellt sich allerdings heraus, dass einer von ihnen gar nicht wirklich zu den anderen gehört, weil sein Stadtteil eben nicht wirklich zu New York gehört. Dafür aber wird eine andere nahegelegene Stadt zum New Yorker Stadtteil „ehrenhalber“ ernannt.
Um New York zum Leben zu verhelfen, müssen die menschlichen Inkarnationen der Stadtteile, den tief unter der Stadt im Koma liegenden „primären Avatar“, der die Stadt als ganze verkörpert, finden und ihn aufwecken. Unterstützt werden sie dabei von Paulo, dem Avatar von Sao Paulo und von Hong, der naheliegender Weise eine bestimmte asiatische Metropole verkörpert. Deren Hilfe ist auch bitter nötig, denn die „Frau in Weiß“, eine Macht aus einem fremden Universum, in dem völlig anderen physikalischen Gesetzen herrschen, will die Geburt der Stadt verhindern, was unweigerlich den Tod aller Menschen in New York zur Folge hätte. Nicht nur die Frau selbst ist weiß, sondern auch alle Menschen, die sie zu ihren Marionetten macht, und überhaupt alles, was mit ihr zu tun hat oder mit den weißen Tentakeln, die sie überall hervorsprießen lässt, in Berührung kommt, werden „widerlich weiß“.
Warum die Antagonistin der Identifikationsfiguren auf die Vernichtung New Yorks aus ist, wird zunächst nicht klar, sodass sie als reine Verkörperung des Bösen erscheint. Dann aber stellt sich heraus, dass mit jeder Geburt einer Stadt „Hakretimadillionen“ Universen und „unendliche viele[.] Dimensionen“ vernichtet werden. Genauer gesagt, bewirkt die Geburt einer Stadt, dass sie nie existiert haben. Nicht anders verhält es sich aber auch, wenn eine Stadt stirbt. Warum das alles so ist, wird zwar nicht gesagt. Aber zweifellos lässt es sich leicht als Metaphorisierung der traurigen Tatsache interpretieren, dass Leben sich immer am Leben erhält, indem es anderes Leben vernichtet. Überflüssigerweise wird diese naheliegende Interpretation nicht den Lesenden anheimgestellt, sondern nicht nur lang und breit erklärt und überdies auch noch ethisch verklärt, indem propagiert wird, „respektvoll“ zu töten.
Die Avatare sind nun vor das Dilemma gestellt, ihrer Stadt bei der Geburt zu helfen und unzählige Universen zu vernichten und damit alle Lebewesen in ihnen zu töten oder aber der Geburt New Yorks nicht den Weg zu bereiten, was den Tod aller ihrer Lieben bedeutet würde. Die Entscheidung ist schnell getroffen.
Erzählt wird die Handlung abwechselnd aus der Sicht einer der fünf ProtagonistInnen. Dabei bedient sich die Autorin im Original der unterschiedlichen Slangs, die in den Stadtteilen gesprochen werden. Dass sich das in der deutschen Übersetzung nicht wiedergeben lässt, versteht sich. Auch viel daran gelegen ist Jemisin, dass ihre geographischen und architektonischen Schilderungen von New York, die der Plätze und Straßen der Stadt ebenso wie die der Gebäude und Denkmäler bis ins Detail den Tatsachen entsprechen.
In der Danksagung erklärt die Autorin, dass sie außerdem darauf achtete, stets die korrekten Bezeichnungen zu benutzen, um keine Ethnie, geschlechtliche und sexuelle oder sonstige Minderheit zu verletzen. Um ganz sicher zu gehen, ließ sie das Manuskript von anderen Personen „kultursensibel lesen“. So sollte gewährleistet werden, dass ihr Buch auch in den „Feinheiten“ stets korrekt ist. Dennoch fällt einige Male das Wort „Indianerin“ und zwar ohne, dass es einer Figur in den Mund gelegt wäre.
‚Weiße‘ Menschen werden durchgängig negativ dargestellt. Sie sind rassistisch, sprechen von „Schlitzaugen-Weibern“, sehen „überall Linksversiffte“, halten New York für ein „Sammelbecken für alle möglichen Perversen“ und sind überhaupt gegen „Feministinnen und Juden und Transen und Neger und Liberale“. Der – selbstverständlich ‚weiße‘ – abtrünnige Avatar und seine Familie sind sogar geradezu groteske Klischees des reaktionären, sexistischen, fremdenfeindlichen und rassistischen Amerikas. Doch trifft der antirassistische Bannfluch auch ‚weiße‘ „‚Feministinnen‘, die herumgezetert haben, wenn man ihnen ihren eigenen Rassismus vorhält“, und die tatsächlich nichts weiter als „selbstgerechte weiße Frauen“ mit einer „hyperarische[n] Ästhetik“ sind.
Mag sein, dass die Autorin ihrer ‚weißen‘ LeserInnenschaft zeigen wollte, wie es ist, ständig mit Rassismus konfrontiert zu werden. Aber ob umgekehrte Diskriminierung wirklich als probates Mittel zur Sensibilisierung gegenüber Rassismen taugt, ist doch eher fraglich. Zudem könnten sich andere Menschen in ihren ‚weißen‘-feindlichen Vorurteilen und Klischees bestätigt sehen.
Angesichts seines vor sich hergetragenen Antirassismus überrascht es umso mehr, dass der Roman sich immer wieder positiv auf den ausgemachten Rassisten und Anhänger des White Supremacy-Phantasmas Howard Phillips Lovecraft und den von ihm erdachten Chtulu-Mythos bezieht. Denn er „hatte recht“, wie die Frau in Weiß, die im Übrigen wie die im Chtulu-Universum versunkene Stadt R’lyeh heißt, erklärt. Aber nicht nur auf Lovecraft, sondern auch auf „die australische Traumzeit, C.G. Jungs kollektives Unbewusstes“ auf „Traumfasten und Schwitzhüttenrituale“ wird positiv Bezug genommen:
Dieser ganze Kram ist wahr. Alle anderen Welten, an die die Menschen so glauben, durch Gruppen-Mythen oder spirituelle Erscheinungen oder auch nur Einbildungen, wenn sie lebhaft genug sind, die existieren wirklich. Indem man sich eine Welt vorstellt, erschafft man sie, wenn sie nicht schon da ist. Das ist das große Geheimnis der Existenz: Sie reagiert extrem sensibel auf Gedanken. Entscheidungen, Wünsche, Lügen – mehr braucht man nicht, um ein neues Universum zu erschaffen.
Spätestens hier werden die wissenschaftlichen oder zumindest rationalen Erklärungen verabschiedet und esoterischer Mystizismus übernimmt das Zepter.
Manche New YorkerInnen mögen nicht zuletzt aufgrund des Lokalkolorits und des Slangs ihrer Community ihre Freude an der Lektüre haben. Hierzulande dürften dergleichen Wiedererkennungseffekte aber eher gering sein. Ob der Roman einem Publikum außerhalb der USA viel zu sagen und zu bieten hat, ist nicht nur darum fraglich.
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