Identitätssuche zwischen den Kulturen

Ein Vierteljahrhundert nach seinem erstmaligen Erscheinen hat der Aufbau-Verlag jetzt „Eine Feder auf dem Atem Gottes“ der vielfach ausgezeichneten US-amerikanischen Schriftstellerin Sigrid Nunez auf Deutsch wieder aufgelegt.

Von Karsten HerrmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karsten Herrmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Vater der Ich-Erzählerin ist halb Chinese und halb Panamanese und lernt ihre Mutter als US-Soldat im Zweiten Weltkrieg in Deutschland kennen. Sie verbringen ihr Leben in den USA in Sozialbauwohnungen in ermüdender Armut und im stetigen Bemühen der Mutter aus wenig viel zu machen – und so näht sie ihrer Tochter auch wunderschöne und gewagte Kleider. Doch sie sehnt sich zurück nach Deutschland „und träumt ständig davon nach Hause zurückzukehren“. Und in ihrer neuen Heimat beharrt sie auf einem Sauerbraten zu Weihnachten und Dirndl für ihre Tochter. Sigrid Nunez konstatiert: „Obwohl wir achtzehn Jahre lang im selben Haus lebten, hatten wir nur sehr wenig gemeinsam. Wir hatten keine Kultur gemein. Und auch keine Sprache.“

Die Ich-Erzählerin flieht aus dieser bedrückenden, entfremdeten Welt ihres Elternhauses in die Welt des Balletts, wo sie sich mit dem titelgebenden Zitat von Hildegard von Bingen wie „eine Feder auf dem Atem Gottes“ fühlen kann. Doch sie hat zu spät angefangen und der Traum von einer Ballett-Karriere, für den sie hart arbeitet und hungert, platzt. Sie studiert und wird Lehrerin für Amerikanisch als Fremdsprache und lernt an ihrer Sprachschule den älteren und verheirateten Vadim aus Odessa kennen. Er ist ein Schrank von einem Mann, ein Löwe und Macho mit krimineller Vergangenheit und einem Drogenproblem. Und dennoch verfällt die Ich-Erzählerin ihm.

Der autobiographische Roman von Sigrid Nunez ist in vier Episoden erzählt – über den Vater, die Mutter, das Ballett und über Vadim. Vorsichtig tastend versucht sie das Leben ihrer Eltern und auch Großeltern zu rekonstruieren oder auch zu imaginieren und sich dadurch auch ihrer eigenen Identität zu versichern. Die ersten Episoden sind dabei etwas mechanisch und schlicht erzählt und kaum durch eine innere Dramaturgie verbunden. Erst in der letzten Episode rund um Vadim lässt Sigrid Nunez, die heute auch als Professorin für Creative Writing lehrt, schon die assoziative Sprachmächtigkeit und Vielschichtigkeit ihrer späteren Romane aufblitzen. Doch letztlich erfährt der Leser auch hier wenig über die Ich-Erzählerin selbst, über ihre Gefühle, Zweifel und Widersprüche.

Alles in allem kann dieses wieder aufgelegte Debüt trotz der Aktualität des Themas einer Identitätssuche zwischen den Kulturen über weite Strecken nicht überzeugen.

Titelbild

Sigrid Nunez: Eine Feder auf dem Atem Gottes.
Aus dem Amerikanischen von Anette Grube.
Aufbau Verlag, Berlin 2022.
208 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783351038762

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