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Uwe Jochum thematisiert in „Lesezeug“ die gesellschaftliche und historische Bedeutung des Buches

Von Hartmut HombrecherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hartmut Hombrecher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit Lesezeug hat der Konstanzer Bibliothekar Uwe Jochum einen Großessay zur abendländischen Buchkultur vorgelegt oder – wie es der Untertitel verspricht – ein Buch zum Buch. Der Titel darf als absichtsvolle Provokation aufgefasst werden, wie so manches, das Jochum auf den nicht mehr als 76 Seiten seiner Monographie schreibt. Mit Lesezeug soll offensichtlich für die gesellschaftliche und historische Bedeutung des  Buchs  sensibilisiert werden. Es ist nicht anzunehmen, dass jemand dergleichen ernsthaft bestreiten würde. Bei Jochum allerdings wird das Buch beinahe zu einem sakralen Objekt; jedes der zehn Kapitel kommt am Ende bei Gott an, „der die schiedliche Einheit von Geist und Natur ist“. Das Buch sei vor diesem Hintergrund nicht nur „eine Schöpfung“ oder, „wenn es wirklich ein Buch ist, immer eine Bibel“, sondern nicht weniger als „das Medium, in dem Geist und Materie sich immer schon versöhnt haben“.

Hier klingt nicht nur das Johannesevangelium an, sondern vor allem der im Text omnipräsente Georg Friedrich Wilhelm Hegel. Es sind ohnehin eine ganze Reihe von philosophischen Klassikern, aber auch kulturtheoretischen Schriften, die Jochum teils explizit, teils verdeckt aufruft. Stilistisch mal nahe bei der französischen Essayistik der 1970er und 1980er Jahre, mal eher mit Bezügen zu Martin Heidegger, gibt es in Lesezeug vieles zu lesen, das schon an anderen Orten gesagt worden ist: Wenn Jochum spielerisch Gedanken aufnimmt, die sich bei Roland Barthes, Daniel Pennac und Paul Valéry finden, aber auch Aspekte von Theorien Wolfgang Isers, Jurij M. Lotmans oder eben Martin Heideggers verarbeitet, zeigt sich zweifelsohne seine Belesenheit. Dass es keine Literaturangaben gibt, ist zwar irritierend, gerade weil der Band bei Winter in Heidelberg erschienen ist, also bei einem Universitätsverlag. Es ist aber letztlich konsequent, denn Jochums Buch steigt an keiner Stelle in aktuelle Fachdiskurse zur Materialität, zur Wissenspoetologie oder zur Autorschaft ein, sondern nutzt die Form des Essays für die freie Assoziation auf Grundlage der ins kulturelle Gedächtnis übergegangenen Forschungen des 20. Jahrhunderts.

Das ist an manchen Stellen produktiv. Insbesondere, wenn es um die Materialität des Buches geht, kommen Jochums Ausführungen zu interessanten Pointen. Da geht es um die Bedeutung des Buchs als Textträger, um Praktiken des Blätterns und Aufstellens mit anderen Büchern, um Produktionsprozesse und Drucktechniken, um die Bedeutung von Buchformaten. Jochum skizziert beispielsweise:

Daß Goethes Werther zum ‚Freund‘ des Lesers werden soll, wie es uns der fiktive Herausgeber gleich zu Anfang anträgt, ist nur möglich, weil das Buch im kleinen Oktavformat gedruckt und damit allererst zu jenem ‚Büchlein‘ wurde, dessen angenehm-intime Größe die Rezeptionserwartung des Herausgebers zu erfüllen erlaubt.

Solche Überlegungen ließen sich gut an neuere Arbeiten aus der Literaturwissenschaft anschließen, etwa an Carlos Spoerhases Ausführungen zum „Manuskript für Freunde“ um 1800 [in Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 88 (2/2014)].

Anders sieht es hingegen häufig aus, wenn sich das Lesezeug vom Buch entfernt und grundsätzlich wird, in wenigen Sätzen komplexe Kulturphänomene oder gar ganze Kulturen analysiert. Dann wird insbesondere der assoziative, essayistische Stil zu einem Problem, denn mit ihm gehen zahlreiche begriffliche Unschärfen einher. Das gilt gerade für die zentralen Begriffe wie „Natur“ oder „Kultur“, was bedauerlich ist, denn hier vertritt Jochum die heute eher seltene Position einer „fundamentalen Unterscheidung zwischen Dingen, die von Natur aus sind, und Dingen, die von Menschen gemacht sind“. Entsprechendes lässt sich für die Diskurse zu Identität und zur Vorstellung der Menschen als „Wurzelwesen“ sagen, die die Welt und Kultur von „Vätern und Vorvätern“ übernehmen, verändern und den „Kindern und Kindeskindern“ vererben. Gerade vor dem Hintergrund von en passant geäußerten Großthesen sind solche Unklarheiten auffällig. So pointiert Jochum etwa, dass man „die verschiedenen zeichentragenden Artefakte, mit deren Hilfe der Mensch im Laufe seiner Geschichte nach Sinn suchte, etwas großzügig ‚Buch‘ nennen“ könne, damit dann „in den Blick [kommt], daß die Geschichte des Menschen die Geschichte des Buches ist, in dem er seine Geschichte festzuhalten versuchte und versucht.“

Was „Sinn“ aber hier überhaupt meint und wie genau die „Geschichte des Menschen“ als „Geschichte des Buches“ zu denken wäre, das spart der Text leider aus, so dass an dieser Stelle nur die wenig überraschende Erkenntnis bleibt, dass Menschen sich schon sehr lange durch die Herstellung von Artefakten mit sich und ihrer Stellung in der Welt auseinandergesetzt haben.

Auch die Fragen, die den Text in zehn Kapitel strukturieren, sind zumindest auf den ersten Blick irritierend. So lesen wir etwa: „Hat das Buch Wurzeln?“, „Enthält ein Buch Text?“ oder „Muß man sich schämen, wenn man ein Buch liest?“. Gerade auf Irritationen können Momente der Erkenntnis folgen – etwa, wenn Jochum mit der Frage „Ist das Buch eine Maschine?“ eine Metapher Paul Valérys aufgreift und produktiv wendet, um das Verhältnis von Buch und sinnlicher Rezeption, die erst durch einen technologisch basierten Produktionsprozess ermöglicht wird, zu reflektieren. An anderer Stelle hingegen wird eher gegen Strohmänner argumentiert, z.B. wenn Jochum feststellt, dass das Buch keinesfalls „in ein technisches Mediensystem vom Typ des Telephons“ einzusortieren sei, bei dem die Zeichen flüchtig sind und keine oder kaum zeitliche Trennung zwischen Sender und Empfänger besteht. Wer aber hätte Derartiges behauptet? Unklar bleibt auch, wieso gegen die offenkundig schon aufgrund ihrer begrifflichen Fallstricke absurde These argumentiert wird, dass „die im kulturellen Stoffwechsel zirkulierenden Artefakte ganz offensichtlich wie Lebewesen eine Biographie“ hätten und „wie Menschen ein ‚soziales Leben‘ und eine ‚Persönlichkeit‘“ aufweisen würden. Wer das annähme, schreibt Jochum, hätte sich „auf einem Holzweg verlaufen“.

Lesezeug liest sich insgesamt als ein Buch, das das Kulturgut Buch in Schutz nehmen will – auch vor Angriffen, denen es realiter vielleicht gar nicht ausgesetzt ist. Es ist ein kulturkritisches Manifest, eine Respektbekundung und Mahnung, den Wert des Buches nicht aus den Augen zu verlieren. Damit, wie auch mit seinem Stil, seinen theoretischen Grundlagen und seiner Verwendung alter Rechtschreibung wirkt es ein wenig aus der Zeit gefallen. Die Mahnung sollte aber durchaus ernst genommen werden, denn wie würde eine Gesellschaft aussehen, in der Büchern – egal ob als Träger von fiktionalen oder von Sachtexten – keine größere kulturelle Bedeutung mehr zugeschrieben wird? Ob diese Zeit aber naht und ob man ihr dann mit Sakralisierung begegnen sollte, ist durchaus kontrovers zu diskutieren. In jedem Fall wird man dem Zeitalter der Digitalität oder Postdigitalität nicht gerecht, wenn man technologische und mit ihnen gesellschaftliche Entwicklungen nur einseitig beleuchtet. Mit den Spezifika digitaler Textproduktion setzt sich Jochums Text nicht auseinander, Digitalität wird reduziert auf ein konsumistisch motiviertes Zukunftsversprechen und „Medien […], die uns mit einem blaßblauen Leuchten anstrahlen und uns mit bunten bewegten Bildern und Getön auf unterhaltsame Wege führen“, kurz: etwas, das Reflexion verhindert und mit dem wir „unsere Zeit […] vertrödeln“. Das ist bedauerlich, denn die Feststellung, dass viele digitale Medien sich besonders gut zur Zerstreuung eignen, ist sicher ebenso richtig und wichtig wie Jochums Herausstellen der kulturellen und teilweise sogar anthropologischen Bedeutung des Buches – den Thesen fehlt aber eine Anbindung an Forschungsstand und gesellschaftliche Realitäten, die mehr leistet als ein Bedauern um den Verlust des Vielleicht-so-nie-Gewesenen.

Das alles führt unweigerlich zu der Frage der Zielgruppe des kleinen Buchs. Für einen breiten Leserkreis ist es gedanklich zu dicht, aber kultur- und literaturwissenschaftlich vorgebildete Leser finden möglicherweise nur am Rande Neues. Liefern kann das publizistische Experiment freilich eine Positionierung: Wir erkennen uns selbst und „erfahren, daß wir uns, um Geist zu sein und an ihm teilzuhaben, eine Gestalt geben müssen, die als Buch immer und stets weit mehr ist, als nur dieser unser individueller Geist“.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Uwe Jochum: Lesezeug. Das Buch zum Buch.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2021.
76 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783825349004

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