Die Poetisierung der Welt

Hannes Bajohr reflektiert in „Schreibenlassen“ über digitale Literatur und Literatur im Digitalen

Von Jens LiebichRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Liebich

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Titel des Buches ist so lakonisch wie treffend: Schreibenlassen. Texte zur Literatur im Digitalen. Das klingt vorbildlich akademisch nüchtern; und auch das weiß-grüne Cover mit den fünf Spalten, in denen sich die Worte „I AM THAT I AM“  in scheinbar endloser Reihung und wechselnder Wortabfolge fortschreiben, trägt nicht zur Aufheiterung des ersten Eindrucks bei. Nun könnte der Einwand erfolgen, seit wann Heiterkeit ein Kriterium für Sachbücher ist? Gewiss, es ist keins, doch wer die gut zweihundert Seiten von Hannes Bajohr gelesen hat, wird verstehen, dass dieses Buch ohne Phantasie sowie fröhliches und humorvolles Experimentieren gar keine Grundlage hätte – und auch als Plädoyer für eben dieses verstanden werden kann.

Hannes Bajohr ist Literaturwissenschaftler, Autor und verkörpert 50% des Textkollektivs „0×0a“ (zusammen mit Gregor Weichbrodt). Mit Schreibenlassen hat er Texte aus fast einem Jahrzehnt zusammengestellt – und nur marginal verändert –, die zuvor bereits in Zeitschriften, auf Webseiten oder in Sammelbänden erschienen und sich auf unterschiedlichen Ebenen mit digitaler Literatur auseinandersetzen: In einigen äußert sich in distanzierter, beschreibender und analysierender Weise der Literaturwissenschaftler, in anderen spricht aktiv teilnehmend und begeistert der Autor Bajohr. Diese zwei Zugänge ergänzen einander und eröffnen der Leser:innenschaft zwei unterschiedliche Perspektiven auf digitale Literatur und Literatur im Digitalen. Da es sich um Texte aus beinahe einer Dekade handelt und die Digitalisierung schneller voranschreitet als es der Buchdruck tat, mit dem sie so gerne in ihrem revolutionären soziokulturellen Potential verglichen wird, erwähnen einige Texte aufkommende technische Entwicklungen, die inzwischen ihren Kinderschuhen entwachsen (deep learning) beziehunsgweise aktuelle Bewegungen, die wieder historisch geworden sind (die Poetik des Print-on-Demand). Die grundlegenden Gedanken, Fragen und Überlegungen entbehren jedoch nicht der Aktualität.

Eine zentrale Frage ist, wie sich digitale Literatur charakterisieren lässt. Wer jetzt an eBook-Reader denkt, kratzt gedanklich lediglich an der digitalen Patina, denn der eingeschränkte Blick auf die Rezeptionsseite verstellt die Einsicht auf die augenscheinliche Grundlage jeglicher Literatur, die natürlich der Text ist – und auf diesem basiert in der digitalen Welt schlichtweg alles. Jeder Video-, Audio- oder Textdatei, die wir auf unseren digitalen Endgeräten codieren oder dekodieren liegt in alphanumerischer Form eine Programmiersprache zugrunde:

Die Welt im Digitalen, das ist ein neuer Blick und ein großes Versprechen: Nichts ist mehr Ding, alles ist Text. Bilder, Töne, Filme sind Text. Sogar Text ist Text. Noch das Wort ,Wort‘ ist, auf einer tieferen Ebene, hexadezimal, als ,57 6F 72 74‘ codiert und, wieder darunter, in Maschinencode, binär, als ,01010111 01101111 01110010 01110100‘.

Diesen „Code der Welt“, um mit Bajohrs Worten zu sprechen, fassen Autoren und Autorinnen digitaler Literatur als literarisch auf und nutzen ihn in ihrer Experimentierfreude für das eigene Schaffen. So zeigt das oben erwähnte Cover des Buches das Resultat eines simplen Programms, welches Ian Sommerville 1960 im Auftrag des Schriftstellers Brion Gysin, von dem der Ausgangssatz stammt, schrieb. Der Input bestand aus einer Zeichenkette (Satz), deren n Elemente (Wörter) durch Leerzeichen getrennt waren. Diese wurden vom Computer in allen möglichen Kombinationen untereinander angeordnet, wodurch aus einem Satz ein Gedicht entstand, welches genau 120 Zeilen hatte (= 5; daraus folgt: 5 x 4 x 3 x 2 x 1 = 120). Die Idee hinter diesem Experiment war es, einen Text zu schaffen, dessen Bedeutung nicht von außen herangetragen werden konnte, sondern der seinen Sinngehalt selbst offenbart.

Ein anderes Beispiel, aus der digitalen Feder von Weichbrodt, ist der generative Text „I Don’t Know“ aus dem Jahr 2015. Dieser beruht auf einem Python-Skript (einer universellen Programmiersprache), welches die Titel von verlinkten Wikipedia-Seiten mit einer Reihe von Ignoranz ausdrückenden Floskeln verbindet. Das unterhaltsame Ergebnis ist ein erzählerisches Ich, welches vehement jegliches Wissen über die akribisch aufgezählten Themen leugnet:

Ich kenne mich in der Literatur nicht gut aus. Empfindsamkeit – was ist das? Was um Himmels willen ist ein Nachwort? Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Und was die Buchgestaltung angeht, bin ich völlig unwissend. Was bedeutet nochmal ,Schuber‘, und was zur Hölle ist Boriswood. Der Kanon der Seitengestaltung – ich weiß nicht, was es damit auf sich hat.

Abgesehen von der grammatikalisch korrekten, aber doch inhaltlich schiefen Formulierung „Kanon der Seitengestaltung“ wirkt der Text recht kohärent, schließlich wird konsequent das Nichtwissen in Hinblick auf das Thema Buchgestaltung zum Ausdruck gebracht. Die Kohärenz ist natürlich nur eine oberflächliche, denn kein Bewusstsein hat diesen Text verfasst, wohl aber ein vorausschauend programmierter Algorithmus. Die Wikipedia-Seiten sind bekanntlich aufgrund inhaltlicher Bezüge verlinkt und die Floskeln zum Ausdruck des eigenen Unwissens auf jedes Thema anwendbar.

Für Bajohr reflektiert digitale Literatur in der Form das Digitale und kann somit als Text verstanden werden, der wiederum Text verarbeitet und bearbeitet. Neben gedanklichen Anregungen zu Fragen wie „Was ist Literatur?“, „Was ist Kunst?“, „Ist Kreativität zum Kunstschaffen relevant?“, „Was ist überhaupt Kreativität?“ etc. ist das Buch eine faszinierende Fundgrube zu einer Literatur, die bisher von den wenigsten zur Kenntnis genommen worden ist. Bajohr nennt zahlreiche Autoren und einige Autorinnen (es scheint in diesem Bereich, entsprechend Bajohrs Auswahl, noch nicht so viele zu geben), erläutert an verschiedenen Beispielen ihre Machart und verweist auf Internetseiten sowie Titel von experimenteller und konzeptueller digitaler Literatur. Wer nicht weiß, wo überhaupt die Reise ins digital-literarische terra incognita zu beginnen ist, erhält in Bajohrs Buch zahlreiche Wegweiser – wie weit und wohin sie führen, liegt an jedem selbst. Gute Reise!

Titelbild

Hannes Bajohr: SCHREIBENLASSEN. Texte zur Literatur im Digitalen.
August Verlag, Berlin 2022.
176 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783941360976

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