Im Buch war das viel besser!

Wie wird aus einem YouTube-Stream ein Roman? Diese und andere Fragen rund um Wechselbeziehungen zwischen Literatur, Film, Fernsehen und digitalen Medien behandelt der Band „Schnittstellen“ von Andrea Bartl, Corina Erk und Jörn Glasenapp

Von Erkan OsmanovićRSS-Newsfeed neuer Artikel von Erkan Osmanović

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ich habe mir Harry und Professor Snape ganz anders vorgestellt“ oder „Im Film wurde die ganze Nebenhandlung weggelassen“ – wer hat solche oder ähnliche Sätze nicht selbst oder aus dem eigenen Umfeld gehört, nachdem der erste Harry-Potter-Film Harry Potter und der Stein der Weisen in die Kinos kam? Viele Leser:innen kennen das Phänomen: Der Lieblingsroman wird als Film, Serie oder Theaterstück adaptiert und man hat das Gefühl, dass dabei das Besondere der Erzählweise, der Figuren oder der Handlung verloren gegangen ist – oder etwas Neues hinzugekommen ist.

In jedem Fall zeigen diese subjektiven Eindrücke, die Wirkung transmedialer Übersetzungen und Reibungsgewinne bzw. -verluste beim Zusammentreffen von Schnittstellen. Egal, ob es sich dabei um Literaturverfilmungen oder Romane zu Filmen und Fernsehserien handelt.

Die Kulturwissenschaftler:innen Andrea Bartl, Corina Erk und Jörn Glasenapp haben mit Schnittstellen. Wechselbeziehungen zwischen Literatur, Film, Fernsehen und digitalen Medien dieser Thematik einen Sammelband gewidmet. Das im Brill Fink Verlag erschienene Buch versammelt Forschungsstimmen rund um drei Schnittstellen: (1) Literatur und Film, (2) Literatur und Fernsehen und (3) Literatur und digitale Medien.

Spannende Randnotiz: Die Entstehung des Buches ist das Ergebnis transmedialer Übersetzungen. Ursprünglich für Mai 2020 als Präsenzveranstaltung an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg geplant, wurde die Tagung aufgrund der Corona-Pandemie in ein Online-Format überführt, das schließlich im physischen Sammelband seinen Abschluss gefunden hat.  

Die Beiträge sind zwar thematisch nach den drei Schnittstellen strukturiert, doch inhaltlich sehr breit aufgestellt. Während sich etwa Gerhard Kaiser und Antonius Weixler mit Biopics von Schriftsteller:innen wie Schiller oder Hölderlin beschäftigen, beleuchtet Matteo Galli ostdeutsche Literaturverfilmungen in der wiedervereinigten Bundesrepublik. Als theoretische Grundlage dient die Theory of Adaption der Kulturwissenschaftlerin Linda Hutcheon, die festhält:

As a creative and interpretive transposition of a recognizable other work or works, adaption is a kind of extended palimpsest and, at the same time, often a transcoding into a different set of conventions.

Nicht reden, zeigen

Die Verfilmung von Romanen besitzt ein hohes Maß an Spannungs- und Enttäuschungspotential. Sowohl Kulturwissenschaftler:innen und Kritiker:innen als auch Leser:innen schätzen an literarischen Texten spezifische Erzählweisen, wie etwa das telling: Figuren, Orte, Geschehnisse werden skizziert und bewusst mit Leerstellen ausgestattet, die Leser:innen individuell ausfüllen können oder müssen. Bei Literatur, aber noch mehr bei Filmen wird man mit dem showing als Darstellungsweise konfrontiert – anstatt nur zu erzählen und anzudeuten, wird Konkretes gezeigt. Der interactive mode findet sich schließlich bei Videospielen, aber auch bei transmedial angereicherten Filmen und Büchern – etwa durch den Einsatz von QR-Codes oder speziellen Applikationen. Jedes Medium ist also auch durch eine bestimmte Darstellungsweise dominiert, bedingt, ja, vordergründig gar beschränkt. Doch es ist keinesfalls so, dass nicht auch ein Film mit literarischen Erzählweisen arbeiten könnte oder eine Erzählung nicht auch auf filmische Mittel zurückgreifen würde. In der deutschsprachigen Literaturgeschichte exemplarisch in Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz (1929) zu sehen, in dem Montagetechniken aus der Filmwelt zum Einsatz kommen.

In Franz Kafkas Erzählung Die Verwandlung (1915) verwandelt sich der Handelsreisende Georg Samsa in ein Ungeziefer und ist so in seinem Zimmer gefangen. Ob er dabei eher einem Käfer, Wurm oder einer Fliege ähnelt, entscheiden die Leser:innen für sich selbst, doch in den Filmadaptionen von Isa Prahl 1000 Arten Regen zu beschreiben (2017) oder Kirsten Peters Samsas (1998) geht das nicht: Die Regisseurinnen müssen die Wahl treffen. Oder sie nutzen, wie Andrea Bartl in ihrem Beitrag „Vor der Tür. Oder: Was passiert eigentlich mit Familie Samsa, wenn Gregor sein Zimmer nicht mehr verlässt?“zeigt, diese vermeintliche Schwierigkeit, um die filmische Adaption der Erzählung durch neue Perspektiven und Darstellungen anzureichern. So verzichten die beiden Verfilmungen darauf, Gregor zu zeigen und erzählen stattdessen die Geschichten seiner Schwester und Eltern:

Durch den Schritt vor die Tür ergibt sich vielmehr zusätzlich eine innovative und zeitlos aktuelle Perspektive auf die Macht- und Beziehungsgefüge in der Sozialform Familie im jeweiligen gesellschaftlich-historischen Kontext.

Am Anfang war das Video

Wenn man von Adaption im Kulturbereich spricht, meint man gemeinhin die Verfilmung oder Dramatisierung eines Romans oder einer Erzählung, in selteneren Fällen vice versa. Der Transfer vom Film beziehungsweise Fernsehen zum Buch ist ein bereits bekanntes und beforschtes Gebiet, doch wie sieht die Sache bei einer transmedialen Übersetzung aus, die ihren Ursprung in in Echtzeit aufgenommenen YouTube-Übertragungen hat?

Maren Conrad betrachtet in ihrem Beitrag „Von Minecraft über YouTube auf die Bestsellerliste“ den Jugendroman Freedom. Die Schmahamas-Verschwörung des deutschen YouTubers Paluten, bürgerlich Patrick Mayer. Der 2018 bei Community Editions erschienene Roman beruht auf Erzählungen, Ideen, Spannungsbögen, die Paluten während des Spielens des Videospiels Minecraft erfunden und per Livestream via YouTube und Twitch mit seiner Community bereits seit 2012 als Let’s Plays geteilt hat. Bei sogenannten Let’s Plays wird ein Computerspiel gespielt, kommentiert und Zuschauer:innen über eine Videoplattform wie YouTube oder Twitch zugänglich gemacht. Dabei können Let’s Plays in Echtzeit übertragen oder aufgenommen und anschließend auf den Plattformen hochgeladen werden.

Wie Conrad in ihrem Beitrag herausarbeitet, entsteht durch die spezielle Genese von Palutens Die Schmahamas-Verschwörung ein Zusammenspiel konträr ausgerichteter Medienformate:

Im Gegensatz zu dieser Offenheit [des Let’s Play] steht das traditionelle Medium Buch, das eine remediation des Let’s Play leistet und in seiner Materialität als etwas Abschließbares und Fassbares und damit als ergänzender Kontrapunkt zum , Original‘ positioniert wird.

Palutens Roman ist als Fallstudie für die zukünftig vermehrt auftretenden modularen und transmedialen Erzähl- und Darstellungsweisen von Narrativen und Conrads Untersuchung als wertvoller Beitrag zu weiterführenden Diskussionen zu sehen.

Der den Band abschließende Beitrag von Stephanie Catani widmet sich ebenfalls der digitalen Welt, allerdings nicht in der Rolle als Medium, sondern als Autor:in. Catani bearbeitet in “Generierte Texte“ das Fragennetz Kreativität, (nicht)menschliche Autor:innenschaft und die mediale Rezeption ebendieser. Dafür betrachtet sie neben Daniel Kehlmanns Mein Algorithmus und ich Werke von Kathrin Passig, Berit Glanz, Jörg Pringer oder Fabian Navarro. Catanis Blick richtet sich nicht alleine auf die konkreten Texte, sondern auch auf theoretische Überlegungen Peter Norvigs, der nicht-anthropozentrische Ansätze bei Fragen nach Autor:innenschaft und Kreativität propagiert.

Hohe Bandbreite zwischen den Schnittstellen

Schnittstellen wirft Schlaglichter auf klassischere Themen der Kulturwissenschaft, wie etwa die Literaturadaptionen oder (Selbst)inszenierung von Literatur im Fernsehen und Film. Die Beiträge überzeugen durch gelungene Einbindung von älteren Theorien und neuen Ansätzen. Damit gelingt es dem Buch, eine hohe Bandbreite an Perspektiven aufzuzeigen, mit deren Hilfe die Schnittstellen zwischen Film, Fernsehen, Literatur und digitalen Medien untersucht werden können. Hoffentlich findet die Idee bei transmedialen Untersuchungen auch Webportale wie etwa YouTube-Streams und Videos einzubeziehen, viele Nachahmer:innen in der Forschung. Denn so könnte auch die Schnittstelle zwischen universitärer Forschung und (junger) Öffentlichkeit verstärkt werden – das ist noch ein langer Weg: Für den Moment ist daher Schnittstellen die Pflichtlektüre für alle angehenden Medienwissenschaftler:innen.

Titelbild

Andrea Bartl / Corina Erk / Jörn Glasenapp (Hg.): Schnittstellen. Wechselbeziehungen zwischen Literatur, Film, Fernsehen und digitalen Medien.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2022.
VI, 270 Seiten, 114,00 EUR.
ISBN-13: 9783770570539

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